Dem wertvollsten Kleidungsstück in meinem Schrank fehlen vorn drei Knöpfe, am Saum verfärbt sich der Stoff giftgrün. Auf dem Flohmarkt bekäme ich keine fünf Euro mehr dafür. Aber sein Wert lässt sich in Geld nicht messen.
Es ist ein Seidenhemd von meiner Mutter. Sie hat es Mitte der Neunzigerjahre kurz vor meiner Geburt gekauft, für den Aufenthalt im Krankenhaus. Sie wollte dort etwas Besonderes tragen. In den Jahren danach war es ihr ein Nachthemd, und dann legte sie es ab, wie so vieles, in eine Plastikkiste im Keller, und vergaß es. Irgendwann fanden meine Mutter und ich das Seidenhemd wieder, ein schimmerndes Knäuel inmitten von anderen Dingen. Seitdem trage ich das Hemd. Am Strand in Portugal über meinem pinken Badeanzug, wenn der Wind zu stark bläst. Auf dem Fahrrad im Sommer, wo es mir wie ein Cape hinterherweht. Andere sehen dann gelb-grün leuchtende Seide. Ich sehe Geschichten, die ich nie erfahren hätte, hätten wir das Hemd nicht wiederentdeckt.
Andere Kleidungsstücke, andere Accessoires, jedes mit einer anderen Geschichte. Die Plastikkiste im Keller war wie die Tasche von Mary Poppins: schwarze Peeptoe-Sandaletten mit flachem Absatz, die meine Mutter für die Hochzeit ihres kleinen Bruders gekauft hatte. Ein brauner Lederbeutel, groß wie eine Wassermelone, übersät mit Kratzern. Ein beigefarbener Wintermantel mit extravaganten runden Schultern. Meine Mutter erfreut sich an Bildern, Menschen und Gefühlen, die mit den einzelnen Stücken verbunden sind: Als sie 19 Jahre alt war, habe eine Freundin ihr mit dem Satz geschmeichelt, sie habe noch nie jemanden gesehen, dem Beige so gut steht.
Als ich meine Mutter nach dem Lederbeutel frage, fallen ihr weder die Marke noch der Preis ein. Stattdessen erzählt sie vom Chef des Architekturbüros, in dem sie Anfang der Neunziger arbeitete. Er habe selten pünktlich am Schreibtisch gesessen, weil er lieber in seinem offenen Alfa Romeo durch Hamburg fuhr, den Arm aus dem Fenster streckte und leider ziemlich cool Zigarettenasche auf den Asphalt schnipste. Er sei der erste Chef gewesen, der ihre Arbeit wertschätzte. Irgendwann sei ihm die Ledertasche aufgefallen. Schönes Leder, habe er gesagt. Also trug sie die Tasche jeden Tag.
Ihr Bruder heiratete in einem Spätsommer, die Bäume trugen noch Blätter, meine Mutter trug die neuen Sandaletten zusammen mit einem schwarzen T-Shirt und einem pfirsichfarbenen Rock mit Blumenprint. Als die Walzermusik zum ersten Tanz einsetzte, trat ihr Vater vor sie, mein Großvater, und zog sie aufs Parkett. Sie tanzten zum ersten Mal miteinander. Meine Mutter war stolz, dass ihr Vater sie gefragt hatte. Und traurig, denn es war auch das erste Fest, bei dem meine Großmutter nicht mehr dabei sein konnte, weil sie schon zu krank war. Während sie in den schwarzen Sandaletten im Arm ihres Vaters tanzte, hatte sie das Gefühl, sie müsse nun ihre Mutter vertreten.
Heute verbringen meine Mutter und ich weniger Zeit miteinander als früher. Aber jetzt sind wir uns durch die Kleidungsstücke und ihre Geschichten nah
Durch die einzelnen Stücke rede ich mit meiner Mutter über ihr Leben, wie wir es selten getan haben. Wir hatten immer ein gutes Verhältnis, aber unsere Innigkeit entstand nicht durch lange Gespräche, sondern durch stille Nähe. Wenn es mir schlecht ging, wollte ich, dass sie einfach da war, sie musste gar nicht viel tun oder reden. Wir konnten immer sehr gut gemeinsam schweigen. Als mein Großvater vor drei Jahren gestorben war, sprachen wir nicht über sein Leben oder die Beziehung der beiden. Sie nahm mich in den Arm, und wir weinten gemeinsam.
Inzwischen lebe ich in München, sie in Hamburg. Wir verbringen weniger Zeit gemeinsam. Aber jetzt sind wir uns durch die Kleidungsstücke und ihre Geschichten nah, wir sprechen auch lange am Telefon. Zum ersten Mal höre ich davon, wie meine Mutter durchs Leben ging, ehe sie meine Mutter wurde. Was sie trug, was ihr wichtig war.
Mit 16 Jahren beschloss sie, nie zu heiraten. Deshalb gibt es auch kein Hochzeitskleid, sie hat nie eines getragen. Sie las Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, war fasziniert von den Schilderungen über die getrennten Wohnungen von de Beauvoir und Sartre, von den weingetränkten Nächten in Pariser Cafés, der Idee einer offenen Beziehung. Zwar haute sie damals nicht nach Paris ab, aber der zwanglose Lebensentwurf prägte ihre Entscheidungen. Engte ein Mann sie zu sehr ein, trennte sie sich. Ging ihr ein Job auf die Nerven, nahm sie sich tagelange Auszeiten.
Meine Mutter wuchs in den Sechziger- und Siebzigerjahren am Rande von Dortmund auf. Es gab schon Strumpfhosen aus der Fabrik, aber noch keine Onlineshops und Fast-Fashion-Unternehmen. Wollte sie Kleidung kaufen, fuhr sie in die Innenstadt. Dort entdeckte sie als Jugendliche eine beigefarbene Hose, überzogen mit Längsstreifen in Grün, Blau und Braun. Die Hose war heruntergesetzt auf zehn Mark, erzählt sie, und niemand sonst habe sie gewollt. Die Hose war das erste Kleidungsstück, das sie von ihrem eigenen Geld kaufte. Sie trug sie ständig: im Reitverein, in der Schule, am liebsten zusammen mit einem froschgrünen Polohemd. Ihre Klassenkameradinnen trugen Jeans und meinten, die Streifenhose sehe aus wie eine Pyjamahose. Meine Mutter war stolz, etwas zu tragen, das sonst niemand hatte.
An den Kleiderschrank ihrer Mutter ging sie nicht. Meine Großmutter trug Kostüme, in Braun oder Beige, die Röcke reichten bis übers Knie. Meine Mutter fand das langweilig. Zu Hause fühlte sie sich eingeengt. Sie wollte keine Vergangenheit tragen, keinen Lebensentwurf übernehmen. Sie wollte sich mit ihrer Kleidung von ihren Eltern abgrenzen, ohne sich Blumenkränze aufzusetzen, wie die Hippies, oder benietete Lederjacken zu tragen, wie die Punks. Kurz nach dem Abitur zog sie zu ihrer Großmutter nach Essen und begann eine Tischlerlehre.
Wenn ich die Sachen meiner Mutter anziehe, fühlt sich das nicht an, als würde ich die Vergangenheit tragen
Als sie bei meiner Großmutter den Müll rausbrachte, sah sie ein Seidentuch in der Tonne liegen, himmelblau, mit Ornamenten in Beige auf den Stoff gemalt, die in der Sonne schimmerten. Das Tuch war von ihrem Großvater, der zwanzig Jahre vorher gestorben war. Ihre Großmutter hatte es hinten in irgendeiner Schublade gefunden und weggeworfen. Meine Mutter nahm das Tuch an sich, reinigte es und band es sich um den Hals, wann immer ihr ein Outfit zu langweilig war – sie fand es toll, ein Herrentuch zu tragen. Auch das Tuch kam irgendwann in die Plastikkiste. Jetzt hängt es oft um meinen Hals.
Wenn ich die Sachen meiner Mutter anziehe, fühlt sich das nicht an, als würde ich die Vergangenheit tragen. Ich will mich nicht abgrenzen, so wie sie es bei ihren Eltern wollte. Stattdessen sehe ich Ähnlichkeiten zwischen uns: unsere Abneigung gegen Abhängigkeiten, die Liebe zur Farbe Schwarz. Die Lebensgeschichte meiner Mutter ist ein Teil meiner Identität. Ich trage sie in mir und bei mir. In Form einer Tasche, eines T-Shirts, eines Tuchs. Ein sichtbares Band zwischen ihr und mir.
Ich versuche, nicht nur ihren Stil zu übernehmen, sondern auch ihr Kaufverhalten. Natürlich wusste sie nie, welche Stücke sie irgendwann an mich weitergeben würde. Der persönliche Wert jedes Teils kam erst mit der Zeit. Aber auch ich versuche, Kleidungsstücke als Souvenirs zu verstehen. Erinnerungsstücke von einem Ort, aus einem Lebensabschnitt. Der Vintage-Rock von Yves Saint Laurent aus Paris, mit dem ich im Jardin des Tuileries saß und glücklich in die Sonne blinzelte. Der grün karierte Blazer vom Flohmarkt, den ich auf dem Konzert der Sängerin Solange in der Elbphilharmonie trug, mit meiner besten Freundin neben mir.
Trage ich den Rock, ziehe ich den Blazer über, spüre ich kurz die Wärme der Sonne in Paris, obwohl ich nur irgendwo in der U-Bahn sitze, höre ich die sanfte Stimme von Solange, begleitet von den Streichern ihres Orchesters. Ich trage nicht nur Kleidung, sondern auch Erinnerungen. Manchmal meine eigenen. Manchmal die meiner Mutter. Manchmal die von uns beiden, wild kombiniert.