Der folgende Text erschien in der Ausgabe vom 19.12.1997, er wurde nachträglich digitalisiert.
Er ist ein kleiner Mann, vielleicht 1,60 Meter, auf dem Kopf eine Mütze wie festgewachsen und im Gesicht ein Lächeln von Ohr zu Ohr. Die Hände kurz mit krummen Fingern, an den Armen dick hervortretende Adern. Wie er plötzlich auftaucht hier im Stall, denkt man, er wächst einfach aus einer Box heraus, hinter einem Pferd hervor, steht auf einmal so da und ist auch gleich wieder weg. Er fällt so wenig auf wie ein Sattel oder ein Zaumzeug oder eine Karre mit Stroh oder ein Pferd eben, und man könnte stundenlang in der Stallgasse stehen, und am Ende würde jemand fragen: Und, was hast du gesehen?
Da waren Pferde und Sättel und Zaumzeug und eine Karre mit Stroh. – Und, war da ein Mann? War da ein kleiner Mann, einer mit Mütze? – Stimmt, da war ein Mann.
Er sei, sagt Hans Draga, ein wildes Kind gewesen, ungebärdig. Aber dann habe er, als er fünf war, mit einer Nagelschere gespielt, habe deren Spitze auf einen Tisch gedrückt, durch ein Stück Pappe bohren wollen. Da sei die Spitze abgebrochen, nach oben geschnellt, in sein linkes Auge. Er sieht seitdem nichts mehr auf dieser Seite. Das Auge ist blind. Es bewegt sich noch hin und her wie das rechte, doch ist die Bindehaut leicht gerötet, seltsam stumpf. Es sei von da an schwierig geworden, sich zurechtzufinden, sagt er. Man sehe keine Entfernungen, wenn man nur ein Auge habe. Die Welt habe keine Tiefe. Oft habe er neben Türklinken gegriffen. Oft sei er gegen Wände gerannt, »dann stehst du da und kommst dir blöd vor«. Oft sei er ausgelacht worden für seine Ungeschicklichkeit. Vielleicht sei er deswegen immer zaghafter geworden: ein wildes, plötzlich zur Vorsicht genötigtes Kind.
Er ist nun 62 Jahre alt. Nicht selten habe ihn geärgert, sagt er, »daß ich nichts geworden bin«. Er habe davon geträumt, Stallmeister zu werden. Aber Stallmeister gibt es nicht mehr. Es gibt diese ganze Welt nicht mehr: von Stallmeistern und Futtermeistern, und Oberstallmeistern, und Landstallmeistern, die Welt, in der er ein angesehener Mann hätte werden wollen, die Welt der Güter und Gestüte, jene Zeit, in der das Pferd zum täglichen Leben gehörte, den Menschen transportierte, seine Lasten zog, sein Schicksal teilte. Hans Draga lebt heute in zwei Räumen einer ehemaligen Stallmeisterwohnung, direkt neben den Ställen der Universitäts-Reitschule in München, in einem alten Haus unmittelbar am Englischen Garten.
Er ist Pferdeknecht, ist es sein Leben lang gewesen. Nichts geworden? Aber doch ist um ihn herum eine Aura eines seltsamen Glücklichseins, einer erfüllten Leidenschaft.
Seine Arbeit beginnt früh um sieben. Gefrorene Morgen sind das im Winter. Hart wie Blech ist die Plastikplane über dem Stroh im Hof, weißgefrostet der Misthaufen. Früher stand er schon um halb fünf im Stall. Das schafft er nicht mehr. Er brauche, sagt er, mehr Ruhe als früher, mehr Pausen auch tagsüber, in denen er einfach dasitze, erschöpft. Selten verläßt er die Pferde vor Mitternacht. Er füttert viermal Kraftfutter und zweimal Heu, Tag für Tag. Er mistet aus, weiß der Himmel, wie oft er ausmistet, immer die gleiche sanft löffelnde Bewegung mit der Mistgabel, die Roßäpfel aus dem Stroh hebend, in seine Karre hinein.
Er habe Angst, sagt er, einem Pferd mit einem Zinken ein Auge auszustechen, nie verliere er diese Angst.
Er striegelt die Pferde. Er macht sie reitfertig. Er führt sie zum Schmied. Er beruhigt sie, wenn sie dann nervös sind. Er redet mit ihnen. Er sagt ihnen, was für nette, liebenswürdihe Kerle sie seien oder wie dämlich und böse er sie heute finde. »Du schreckliches Schweinepferd«, sagt er, und »Schweinesau«, wenn eines noch mehr Mist gemacht hat als normalerweise schon. Das meint er nicht so. Er lacht dabei.
Er lebt mit den Pferden, arbeitet für sie, teilt ihr Schicksal, begleitet sie, wenn es Zeit ist, in den Tod. Einmal, in einer Faschingsnacht, erzählt er, hatte eines der Pferde eine Darmverschlingung. Der Tierarzt durfte es nicht töten, weil dazu die Einwilligung der Besitzer notwendig gewesen wäre. Die waren nicht erreichbar. Nachts um zwei schaute er nach dem Tier, da lebte es noch. Um fünf Uhr früh, als er wiederkam, »wieherte es mir entgegen, wie ein Hilfeschrei«. Er war machtlos, mistete Boxen der anderen aus, und plötzlich hörte er ein dumpfes Plumpsen, dann das Wiehern der anderen. Da war das Pferd tot umgefallen. »Es war sonst eigentlich so ein blödes Tier«, sagt er. »Es hat sich nie geäußert. Aber das werde ich mein Leben lang nie vergessen.« Es war ein Morgen wie dieser, kalt, klar.
Wenn er sein Leben erzählt, berichtet er von Pferden. Wie die Tiere schuften mußten bei der Rübenernte auf den oberschlesischen Feldern um Gleiwitz, wo er geboren ist, und um Bauerwitz, das Städtchen, in das sie zogen, als er vier war. Oft gingen die Tiere in die Knie, wenn sie die haushohe Rübenlast aus den verschlammten Feldern zogen. Und wenn es mit dem leeren Karren wieder zurückging zum Acker, mußten sie schon wieder im Trab gehen, nie im Schritt. Einmal sah er, daß Passanten einen Pferdeknecht verprügelten, weil er die Tier gar so geschunden hatte. Im Krieg fuhren Pferdewagen am Haus der Dragas vorbei zur Front, in die Schlacht, die vor der Stadt tobte, und vor der die Familie nach Bayern floh.
Als sie alle in Raubling im Chiemgau ankamen, luden sie Hab und Gut auf eine Kutsche, vor der ein heller Fuchs ging. Der Zehnjährige sprang auf den Wagen, aber der Kutscher, der nebenherging, sagte nur: »Geh da herunter, der hat genug zum Ziehen!« Nie vorher, nie nachher, sagt Hans Draga, habe er sich so geschämt. Für vier Jahre kamen sie in das Dorf Kleinholzhausen. Immer wieder erzählt er, wie die Leute dort mit den Tieren lebten, die ihnen halfen, das Holz vom Berg über Hohlwege hinunter ins Tal zu bringen. Das war schwere, gefährliche Arbeit für die »Buam«, wie die Bauern ihre Pferde nannten, obwohl es alles Stuten waren. Keiner von denen, sagt er, habe eine Peitsche gehabt, jeder habe immer voller Hochachtung von seinen Tieren gesprochen und alle Pferde hätten sich für ihre Besitzer zerrissen. Es sei dort eine andere Beziehung zwischen Menschen und Pferden gewesen, eine Beziehung, wie sie über Tausende von Jahren bestanden habe und wie es sie nicht mehr gebe.
Oft wünsche er sich, sagt er, vor zweihundert Jahren gelebt zu haben, als das Pferd den Menschen mehr galt – und sein, Hans Dragas, Beruf auch.
Er ist voller Wut darüber, wie heute mit Pferden umgegangen wird. Viele Freizeitreiter hätten nicht den geringsten Sinn für die Äußerungen ihres Pferdes. Unruhe gelte ihnen als Temperament, Stumpfsinn als Bravheit, und schlage das Tier beim Satteln mit dem Kopf, rufe man, es freue sich aufs Reiten, »dabei würde es am liebsten zum Fenster hinausspringen.« »Manchmal«, sagt er, »könnte ich schreiend weglaufen.« Nur der sportliche Erfolg sei Gradmesser für den Wert eines Pferdes, nur Leistung, wie überall im Leben, »nur Leistungsmenschen überall«. Früher habe auch der beste Pfleger höchstens zwei Pferde zu betreuen gehabt. Heute seien es bei ihm 13, aber das sei eine unvergleichlich gute Situation. In vielen Ställen müsse ein Pfleger sich um fünfzig Pferde kümmern – was heißt: kümmern? Die Bauern auf dem Land, die früher die Ställe voller Kühe und Schweine hatten und nun auf Pferdehaltung ungestellt hätten, die wüßten oft nicht, wovon er rede: Der Knecht müsse bloß putzen und misten, was sei daran soviel Arbeit? »Der Beruf«, sagt Hans Draga, »ist ja praktisch gestorben, in der Form, wie ich ihn mache.«
Wild und wütend redet er, dann wieder furchtsam. Er nennt sich selbst feige. Er sagt, »daß ich mir oft nichts sagen traue. Man weiß genau, es geschieht Unrecht, aber man sagt nichts, aus Angst, daß man seine Arbeit verliert.« Er sagt: »Ich habe oft Angst vor Unannehmlichkeiten. Da bin ich ein richtiger Scheißkerl.« Einmal, das ist lange her, wurde sein jüngster Sohn von Polizisten nach Hause gebracht. Sie hatten ihn im Verdacht, ein Fahrraddieb zu sein – was nicht stimmte. Statt seinen Sohn in Schutz zu nehmen, sei er, sagt Hans Draga, auf ihn losgegangen. Er verflucht sich heute dafür. Dann erzählt er, einem Kollegen sei das Jugendamt auf die Bude gerückt, weil dessen Sohn in der Schule Schwierigkeiten gemacht habe. Da habe der Mann den Buben mit der Mistgabel in der Hand verteidigt. Wie er das bewundert: den Mut, den Zusammenhalt in der Familie!
Als sein eigener Vater in den fünfziger Jahren aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, zog die Familie in den Bayerischen Wald, nach Eging, wo der Vater wieder wurde, was er in Oberschlesien gewesen war: Bezirkskaminkehrermeister. Auch Hans Draga machte eine Lehre als Kaminkehrer, aber er liebte den Beruf nicht, gab ihn auf, wurde Pferdepfleger bei einem Reitverein in Stuttgart. Er wollte auch ein eigenes Pferd haben, bekam es vom Vater zur Hochzeit geschenkt, »die alte Stute«, wie er es nannte. Er habe seitdem immer ein eigenes Pferd gehabt, sagt er, »damit mich das nicht so streßt, was andere mit ihren Pferden machen«. Aber er durfte dieses Pferd in Stuttgart nicht halten. Der Reitverein erlaubte das nicht: Knecht und gleichzeitig Besitzer – das vertrug sich nicht mit dem Dünkel der Mitglieder. Also sattelte Hans Draga seine alte Stute und ritt die Donau entlang bis in den Bayerwald. Ein Jahr war er ohne Arbeit. Dann zog er nach München, 1959, in den seltsamen kleinen Kosmos namens Uni-Reitschule, in dem er heute noch lebt.
Er sagt, er sei froh, hier sein zu können, »an diesem liebenswürdigen, altmodischen Ort«, seit fast vierzig Jahren schon. Er spricht voller Dankbarkeit vom Pächter der Reitschule, Siegfried Dehning, einem früheren Military-Champion, von dessen Frau, eine bekannte Springreiterin, deren Söhnen, ebenfalls erfolgreiche Reiter. Man ermögliche ihm, was anderswo undenkbar sei: wenigstens ein bißchen so zu arbeiten, wie er es wolle. Er redet von Bildhauern, Musikern, Schauspielern, die hier ihre Pferde hatten oder zu Besuch kamen, von Liselotte Pulver, Horst Buchholz, Roy Black. Er sagt, einmal habe es einen Phototermin mit Soraya auf einem Pferd aus seinem Stall gegeben, »da drüben in... Wie heißt das auf der anderen Seite der Isar? Bogenhausen?« Heute pflegt er das Pferd von Veronica Ferres. Aber am meisten, unablässig eigentlich, spricht er von Hippologen, Reitlehrern, Pferdeleuten, die hier ein- und ausgingen, voller Stolz, daß er sie kannte und sie ihn. Seine Kinder sind hier aufgewachsen. Seine Tochter, die Älteste, habe »darunter gelitten, daß ich dienen musste«, sagt er. Anfangs habe sie mit seiner Frau im Bayerischen Wald gelebt. Als er sie einmal dort besuchte und in den Arm nahm, hatte sie den ersten Anfall einer »Stall-Allergie«. Später, in München, mußte sie mit Cortison behandelt werden, »wir konnten sie ja nicht an die Nordsee schicken«. Er sorgt sich um den älteren Sohn, der sich durchschlage mit Jobs, nicht buckeln wolle für andere, das Knechtsein verachte. Der zweite, jüngere Sohn starb vor zwei Jahren bei einem Motorradunfall. In der Morgendämmerung stand die Polizei vor der Tür, ihm das mitzutzeilen. Er geht seitdem fast täglich in die Kirche. Er sagt, es wäre besser geworden, die Kinder wären in anderer Umgebung groß geworden. Die vielen reichen Kinder der Reitschule – es sei für die vieles selbtsverständlich gewesen, was für seine Kinder unerreichbar war: Geld in Spielautomaten zu stecken; ein Moped zum Geburtstag zu bekommen; es gleich bei einer Raserei auf der Reitbahn zu ruinieren.
Wenn er vor zweihundert Jahren gelebt hätte... Er sagt, damals hätten Pferdepfleger nicht heiraten dürfen und das sei besser gewesen. Nur Stallmeistern war erlaubt, eine Familie zu gründen.
Er sagt, er könne seinen Sohn verstehen, der nicht dienen wolle. Gleichzeitig habe er Angst um ihn: »Man wird ja zermalmt, wenn man nicht mitspielt in der Gesellschaft.« Sprachen wir nicht eingangs von Wildheit und Angst? Einmal hat er die berühmte Reitlehrerin Linda Tellington zitiert mit einem Satz, der uns nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist: Das Pferd sei ein angstvolles Tier und der größte Gefallen, den man ihm tun könne, sei, ihm die Angst zu nehmen. Ist es das, was der Mann in den Pferden gefunden hat: die eigene Angst? Ist es das, was sie ihn ihm finden: einen, der sie versteht, weil er sich in ihnen wiedererkennt? Der ihnen geben kann, was sie brauchen, weil er weiß, was sie brauchen – denn er braucht es ja selbst?
Wir stehen mit ihm im Stall. Ein Hengst, der in seine Box gehen soll, schnüffelt, statt sich zu fügen, am Mist in der Karre. Da wird Draga zornig, schiebt das Tier weg, energisch. Er sagt, niemals sei in einer Herde einem untergeordneteten Hengst erlaubt, gegen den Willen des Leithengstes so etwas zu tun. Was ist der Pfleger anderes als der Leithengst? Es gibt eine Ordnung im Stall, und wer in einer Ordnung lebt, fühlt sich sicher.
Als er einmal Ferien hatte, war er in Andalusien, auf dem Gestüt der Peraltas, einer Familie, die berühmte Stierkämpfer zu Pferde hervorgebracht hat. Er stand vor einer Box und betrachtete ein wunderschönes Pferd, starrte es an wie ein Kind. Da kam einer der Peraltas, klopfte ihm auf die Schulter und holte das Pferd für ihn heraus, führte es ihm vor und sagte: »Sie werden auf der Welt vielleicht schönere finden als ihn, aber keinen von mehr Charakter.« Nur für ihn, den einfachen Mann, habe der das gemacht, sagt Hans Draga – weil er gesehen habe, daß er etwas verstehe von Pferden. In Deutschland sei das undenkbar, »bei unseren Schnöseln«. Natürlich gibt es viele, die ihn achten, eine Menge von Pferden verstehen, mit ihm lachen und weinen über die alten Zeiten der Uni-Reitschule. Aber oft, sagt er, werde ein Pfleger einfach umgerempelt, wenn er im Weg stehe. Es habe Zeiten gegeben, da habe man gefragt, ob man in den Stall kommen dürfe. Heute trete jeder einfach ein, auch die Kinder. »Viele von denen«, sagt er, »lassen sich nichts sagen, schon gar nicht von einem Stalldeppen. Man wird ausgelacht, daß man ist, wie man ist.«
Er fühlt sich den Pferden nahe. Ihre Angst ist seine Angst. Ihr Leben ist sein Leben. Die Beachtung, die er ihnen schenkt, ist die Beachtung, die er sich selbst wünscht. Das Unverständnis, mit dem viele Reiter Pferden gegenüberstehen, ist das Unverständnis, mit dem sie auch ihn sehen. Es geht um Würde in würdelosen Zeiten, und es geht um Zeit in flüchtigen Zeiten. Neulich, sagt Hans Draga, habe er sein Motorrad zur Inspektion gebracht. Er habe an der Wand eine Tabelle gesehen, auf der genau festgelegt war, welche Arbeit wie viele Minuten dauern dürfe. »Widerlich«, sagt er, »wie schnell das heute alles gehen muß.« Seine Tochter habe mit Behinderten gearbeitet: Da habe man nicht mal mit den Patienten reden dürfen, sonst sei man nicht fertig geworden mit der Arbeit.
Warum sehnt sich Hans Draga nach einem Leben vor zweihundert Jahren? Weil er sich nach einer anderen Moral sehnt, nach einer anderen Zuwendung von Menschen zu Tieren und von Tieren zu Menschen, und von Menschen zu Menschen. Was Zeit kostet, das gilt nichts in diesen Zeiten. Wer Herr ist, hat keine Zeit. Mag sein, daß er reich wird und sich Pferde kaufen kann. Aber wird er ihnen geben können, was der Knecht ihnen gibt? Und wird er von ihnen bekommen, was der Knecht von ihnen bekommt?
Er ist jetzt 62 Jahre alt. In drei Jahren wird er den Platz verlassen, den das Leben ihm angewiesen hat. Er sagt, er habe immer in dem Gefühl gelebt, er werde nicht alt. Seine Frau ist vor einiger Zeit in das kleine Haus im Bayerischen Wald gezogen, das er geerbt hat. Sie pflegt dort ihre sehr alten Eltern. Seitdem ist eines der beiden Zimmer, in denen er lebt, ohne Möbel – es für drei Jahre einzurichten, sagt er, könne er nicht bezahlen. Viel hat er nie verdient. Er wisse nicht, wieviel Rente er bekomme, er wage es nicht, das auszurechnen. Als die Kinder klein waren, überlebte die Familie nur, weil die Großeltern sie unterstützten. Wenn er nicht mehr arbeite, werde er auch in den Bayerischen Wald ziehen müssen, sagt Hans Draga. München sei zu teuer für ihn, und in Eging habe er das Häuschen. Aber undenkbar sei, ein Pferd zu halten – das werde er sich nicht leisten können. Er sagt leise: »Ich kann mir das gar nicht vorstellen – ohne Pferde.«
Wir gehen mit ihm noch einmal in den Stall, nachts um elf, über den dunklen Hof der Reitschule, hinein in den schwach scharfen Geruch der Pferde, das Geräusch raschelnden Strohs unter ihren Hufen, das leise Aufwiehern, das ihn begrüßt. Durch die Stallgasse läuft ein schwarzer Kater. Irgend jemand habe den ausgesetzt, sagt Hans Draga, und nun gebe er ihm jeden Tag zu fressen. Die Gitter vor den Boxen klacken, wenn er sie aufschiebt, klacken wieder, wenn er sie schließt, immer das gleiche Geräusch. Er schaufelt Mist, holt Heu, füttert die Pferde. Er nimmt sein eigenes aus der Box, eine weiße Stute, einen Deliboz-Araber aus Aserbeidschan. Er hat es mit sechs Jahren gekauft, mit chronischer Sehnenscheidenentzündung. Wäre es gesund gewesen, hätte er es nicht bezahen können. Er dachte, er könne es gesundpflegen. Das hat er nicht geschafft. Er zeigt die Melanome am Hals und unter dem Schweif, weiße und schwarze Beulen vom Krebs, an dem das Tier leidet und an dem es sterben wird. Er sagt, was für ein lieber Kerl es sei, wie schön es sei, ihn zu reiten, wie empfindlich er reagiere, wenn man mit ihm schimpfe, wie er dann dastehe, ganz entgeistert, irgendwie dem Weinen nahe, wenn Pferde weinen könnten.
Manchmal reitet er noch um diese Zeit in den Park. Man sei nicht allein dort, sagt er, auch nicht mitten in der Nacht. Man treffe Musiker, die zu Hause nicht üben dürfen. Man treffe einen Kardinal, der spazierengehe. Einmal tanzten im Dunkel türkische Mädchen um ihn herum in wehenden schwarzen Gewändern. Ein anderes Mal, um vier Uhr früh, als er mit der Stute unter einer Laterne hielt, kam ein Betrunkener auf einem Fahrrad, starrte das Pferd an, stürzte, rappelte sich wieder auf, starrte wieder auf das Pferd, umarmte es plötzlich und entschuldigte sich, immer wieder rufend: »Wissen S’ was, i hab’ jetzt glaubt, i bin im Himmel.«