Es gibt Wörter, die ich mag, zum Beispiel »Unrat«, »Lichtung« oder »Salamander«. Sie rühren mich an, lösen etwas in mir aus, eine Ahnung, eine Erinnerung oder einen Trost. Ich finde sie hübsch und poetisch, als trügen sie eine Seele in sich, manche klingen auch einfach nur schön.
Es gibt auch Wörter, die ich nicht mag, zum Beispiel »zeitnah«, »proaktiv« oder »Transporthilfe«. Auf Letzteres stieß ich in einem Baumarkt. Es stand auf einem Schild im Kassenbereich, und es dauerte eine Weile, aber irgendwann kapierte ich, dass die Pappschachteln gemeint waren, die jemand unter dem Schild aufeinandergestapelt hatte. »Schachtel« – schon wieder ein schönes Wort. Oder von mir aus »Karton«. Aber »Transporthilfe«? Wer kommt auf so was? Und wird dieser Mensch womöglich dafür bezahlt? Es sind solche Wörter, die mich traurig machen, weil sie künstlich wirken und einen an Termine, Bilanzen, Meetings denken lassen, als sei das ganze Leben ein Geschäft. Wie ein hässliches Gebäude eine ganze Straße kontaminieren kann, so stehen sie in unserer Sprache herum und verschandeln sie. Ich finde sie ärgerlich und überflüssig, eine Welt ohne sie wäre eine schönere Welt.
Im Moment beschäftigt mich ein Wort, das nichts mit den bereits genannten zu tun hat, es fällt in eine andere Kategorie, ist unscheinbarer, dafür penetranter. Wann es mir zum ersten Mal aufgefallen ist, weiß ich nicht mehr, aber seit Monaten vergeht kein Tag, an dem es mir nicht auffällt – die Rede ist von dem Wörtchen »tatsächlich«.
Tatsächlich scheint es ein Modewort zu sein. (Sehen Sie? Das meine ich.) Jedenfalls begegne ich ihm dauernd, und zwar – ähnlich wie akkurat nach oben gezogenen Tennissocken – vor allem bei jüngeren Menschen aus der Stadt. Erst dachte ich mir nichts dabei, inzwischen reagiere ich körperlich: Sobald ich jemanden »tatsächlich« sagen höre, fühle ich mich für ein, zwei Sekunden unwohl. In den vergangenen ein, zwei Jahren habe ich mich oft unwohl gefühlt.
Eigentlich habe ich nichts gegen das Wort. Es hat mir nichts getan und kann durchaus sinnvoll verwendet werden, zum Beispiel zur Hervorhebung einer Tatsache, die wider Erwarten eingetreten ist (»Sie hat ihm tatsächlich eine gescheuert«). Auch als Adjektiv – »das tatsächliche Einkommen« – finde ich es in Ordnung. Lästig ist es am Satzanfang, als Füllsel, das weg kann wie ein entzündeter Wurmfortsatz: »Tatsächlich habe ich Jura studiert«, »Tatsächlich lebe ich in Heidelberg«. Achten Sie mal darauf, in der U-Bahn, auf der Straße, in der nächsten Konferenz, also ich fühle mich regelrecht umzingelt. Manchmal lauert es auch am Satzende. Man atmet schon auf, wähnt sich entkommen, da schnappt die Falle zu: »Ich fliege morgen nach Rom – tatsächlich.« Und manchmal taucht es in einem kurzen Gespräch in jedem dritten Satz auf, als hätten wir nicht nur eine Corona-, sondern auch eine »Tatsächlich«-Pandemie, mit dem Unterschied, dass die 20- bis 40-Jährigen die vulnerable Gruppe bilden. Aber wer hat damit angefangen? Wie konnte sich die Marotte durchsetzen? Und wenn das schon ein harmloses Adverb hinkriegt, welche viel fragwürdigeren Trends verbreiten sich gerade, und wir merken es nicht oder wieder mal zu spät? Wie entscheidend sprachliche Kleinigkeiten sein können, erkennt man jedenfalls daran, dass seit Wochen darüber diskutiert wird, wer die Ukraine gewinnen oder nur nicht verlieren sehen will, obwohl es keinerlei Veränderung in der Wirklichkeit nach sich zieht.
Es fällt mir gar nicht leicht, diesen Text zu schreiben. Man kommt ja schnell unsympathisch rüber, wenn man sich über Kleinigkeiten so aufregt, aber obwohl ich diesen Text in Badehose und nicht im Tweed-Sakko schreibe, kann ich irgendwie nicht aus meiner Haut, weil ich in ihnen oft bedeutsamere Zusammenhänge zu erkennen glaube, Zeichen eines Niedergangs, ja den Keim eines Unheils, mit dem wir uns dann Jahre später herumschlagen müssen.
Vielleicht liegt es daran, dass ich mal eine Journalistenschule besucht habe, auf der mir beigebracht wurde, dass man auf Füllwörter wie »mal« oder »wohl« verzichten sollte, sie blähten Texte lediglich auf und machten sie schwächer. Ich habe sogar mal gelesen, dass, wer Erfolg im Leben haben wolle, auf keinen Fall verstärkende Adverbien und Adjektive wie »sehr« oder »total« benutzen sollte. Schon die Gruppe 47, also Deutschlands bedeutendste Nachkriegsschriftsteller, klopfte ihre Texte nach überflüssigen Wörtern ab, »jeder unnötige Schnörkel« sei gerügt worden, schrieb der Gruppenleiter Hans Werner Richter.
Ich habe Kollegen gefragt, aber den meisten war die Unsitte gar nicht aufgefallen, obwohl einige von ihnen, das war wiederum mir aufgefallen, selbst ständig »tatsächlich« in ihre Sätze einbauten. Typischer Fall von »anekdotischer Evidenz«, meinte ein Freund: Könne schon sein, dass mir das Wörtchen zuletzt häufiger über den Weg gelaufen sei, aber deswegen gleich von einem Trend zu sprechen? Na ja. Das müsse man erst mal evaluieren. Allein eine Praktikantin pflichtete mir bei: Ja, das Phänomen habe sie auch schon bemerkt, ob es damit zu tun haben könne, dass man in Zeiten von Fake News den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen besonders hervorheben wolle? Zwei Menschen, ein Gedanke: Ich schöpfte Hoffnung, ging ins Netz und stieß auf eine Forumsdebatte zur »Tatsächlich-Seuche«. Vor allem Radiomoderatoren seien infiziert, oft gebrauchten sie das Wort in jedem zweiten Satz. Als Beispiel, wie überflüssig es sei, zitierte ein User namens Cocolino den unschlagbaren Beispielsatz: »Ich war heute Morgen tatsächlich kacken.« Auch auf Twitter schimpfte ein Kollege: »Tatsächlich, Wort straight aus der Hölle.« Ich war also nicht mehr allein, wir waren zu einer Gruppe, ja einer kleinen Bewegung gewachsen.
Irgendwas musste dran sein, also fragte ich mehrere Sprachwissenschaftler, die mussten es schließlich wissen. Erste Erkenntnis: Manche teilten meine Beobachtung, andere nicht. Wissenschaftler halt. Eine Linguistin meinte den Einfluss des Englischen zu erkennen, dass also das im Englischen häufig verwendete »indeed« sich erst in deutsche Übersetzungen und irgendwann in die Alltagssprache gemogelt habe. Eine andere nahm gleich mal den Druck aus der Angelegenheit: »Ganz normaler Sprachwandel«, erklärte sie, »hat es immer gegeben, wird es immer geben«, Adjektive würden zu Adverbien, Wörter, die sich ursprünglich auf einen konkreten Sachverhalt bezogen, dienten dann eher der Sprachstrukturierung. Und ja, natürlich vollziehe sich Sprachwandel eher im urbanen Raum, es seien nun mal jüngere Menschen, die einer Sprache neue Impulse geben – siehe »nice!«, siehe »Geht’s noch?« Wieder ein anderer bestätigte, die Wortverlaufskurve zu »tatsächlich« steige seit Jahrzehnten, nach 1800 extrem, nach 1946 immerhin stetig, das Wort »tatsächlich« komme also tatsächlich häufiger vor als früher, allerdings solle ich mich hüten, aufgrund dieser erhöhten Frequenz etwas »über unsere Gesellschaft und den Zeitgeist« abzuleiten. Er wisse schon, dass Journalisten derartige Vermutungen gern anstellten, aber wirklich haltbar – das müsse er so deutlich sagen – seien sie in der Regel nicht, ich solle also bitte nicht den Anspruch erheben, »qua kurzschlussartiger Sprachspekulation« unsere Zeit mal eben in Gedanken zu erfassen.
Ich folge also seinem Rat, halte mich zurück und konstatiere: Der Mensch liebt nun mal Überflüssiges, eine beleuchtete Pfeffermühle, Fingerkuppen-Handschuhe, eine Hängematte für Hamster, einen Golfball in Tarnfarben. Gibt es tatsächlich alles.