Wir standen in der Lobby eines dieser typischen österreichischen Hotels aus Holz und Rauputz, in die man sich einbucht, wenn man seinen Winterurlaub in den Alpen verbringen will. Mit strahlendem Lächeln entschuldigte sich die Dame an der Rezeption »für eventuell auftretende Unannehmlichkeiten« – das Hotel werde gerade umgebaut. Zeitgemäßer solle es werden. Sie erklärte, dass leider erst das Erdgeschoss fertiggestellt sei, der Empfangs- und Frühstücksraum, die Bar, das Restaurant – die oberen Stockwerke seien noch »im alten Stil« gehalten.
Was denn der alte Stil sei, fragten wir.
Nun, man wolle das Hotel wärmer und kuscheliger gestalten, sagte sie. In den Betten lägen schon vier Kissen statt zwei, und dort, wo zuvor ein Hallenbad war, sei heute ein Spa. »Wissen Sie«, sagte die fröhliche Rezeptionistin, »früher waren wir ein Sporthotel. Aber jetzt, jetzt werden wir ein Wohlfühlhotel!« So prägnant wie sie hatte es noch kaum jemand formuliert, was in unserer Zeit, in unserer Gesellschaft gerade vor sich geht. Wir blickten uns um. Dicke, weiße, stark duftende Kerzen warfen ihren Schein über weiche Teppiche und Kissen, denen oben jemand mit der Handkante einen Knick hineingeschlagen hatte. Überall sah man Gestecke aus Zapfen, goldene Herzen, aus Stroh geformte Rehe – all das sollte mit großer Vehemenz daran erinnern, dass es im heimeligen Tirol irre gemütlich ist, hier herrschte Tirolismus in seiner heftigsten Form. Wir waren in einer Wohlfühlhölle gelandet. Nun muss man natürlich nicht extra bis nach Tirol fahren, um sich dort von einer netten Rezeptionistin erklären zu lassen, dass wir heute in der Diktatur des Gemütlichen und Kuscheligen leben. Man muss sich nur umschauen: Wie nie zuvor dominiert das Streben nach Wohlfühlen unsere Zeit. Wobei wir uns heute ganz anders wohlfühlen als früher. Es geht nicht mehr um Sport oder Kultur, um ein kühles Bier mit Freunden – um Dinge also, die ganz beiläufig Zufriedenheit hervorrufen können. Nein, heute geht es um die reine Essenz des Wohlfühlens: um Regeneration, Entspannung, gemütliches Genießen, aufpoliertes Nichtstun.
Nicht nur die Gestaltung von Hotels und Gaststätten erfährt eine Neuinterpretation in diesem Sinne (was auf ästhetischer Ebene bisweilen zu tragischen Stilausreizungen führt). In unserem täglichen Leben haben wir es mit einer Fülle von Orten, Stoffen, Produkten zu tun, die einen hysterisch aufzufordern scheinen, sich auf der Stelle wohlzufühlen.
Geschäfte, die sich »Die Wohlfühler« nennen, verkaufen einen Mix aus Massagen, Yoga, Kosmetikanwendungen und Maniküre. Magazine mit dem Namen »Wohl fühlen« (zum Beispiel von dieser Zeitung) präsentieren Angebote, deren Konzept irgendwo zwischen Wellness, Bio und Öko angesiedelt ist. Die Wohlfühlindustrie stellt Produkte wie ausgleichendes Mineralwasser mit Ginseng her, grünen Wohlfühltee oder fermentierte Erfrischungsgetränke, die unsere Laune heben sollen. Fast alle großen Modemarken haben in ihr Programm inzwischen weiche Pantoffeln, Wärmflaschen mit Nerzbesatz, Kuschelplaids oder Hauswäsche aufgenommen. Wie viele Politiker in Deutschland und Österreich behaupten, dass ihr Bundesland ein »Wohlfühlland« sei, ist kaum noch zu überblicken (z.B. Baden-Württemberg, Niedersachsen, Bayern, Kärnten, Steiermark). Kaum jemand, der nicht mit einem schick um den Hals geschmeichelten Wohlfühlschal aus dem Haus geht, egal ob es Sommer oder Winter ist oder ob man als Architekt oder als Fußballtrainer arbeitet. Die Verkaufszahlen von Kaminen und Öfen haben sich in den vergangenen sechs Jahren verfünffacht – nicht nur wegen steigender Energiekosten, sondern aus »Lifestylegründen«, wie man beim Industrieverband Haus-, Heiz-, Kühltechnik erfahren kann. Und auch die Karrieren von edlen Schokolade- und Kaffeeprodukten sind Sinnbilder dieser Entwicklung. Unsere Wohlstandsgesellschaft wird gerade zur Wohlfühlgesellschaft.
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Denken wir heute an die Siebzigerjahre zurück, erinnern wir uns an Käse-Igel, Lavalampen, Farben wie Rot, Orange und Schwarz, Polyester, Lack und Flokati: alles laute, expressive Phänomene, die etwas betont Modernes ausstrahlten. Wird man die Menschen in zwanzig Jahren fragen, was unsere Zeit geprägt hat, werden sie an gedämpfte Cremetöne denken, an weiche Dinge wie Kaffeeschaum, an warme, dampfende Spas und natürlich an das omnipräsente Kaschmir – diese »Wohlfühlfaser«, wie die Fachzeitschrift AD schrieb. Der Begriff Kaschmir bezeichnet heute nicht mehr allein jene von der indischen Kaschmirziege gewonnene Faser, die für Pullover, Kissen oder Socken verwendet wird. Kaschmir gilt vielmehr als Synonym für das Wohlfühlen schlechthin, und daher ist es auch kein Wunder, dass Duschgels, die früher das sportliche Attribut »aktiv« im Namen hatten und mit Männern warben, die in kaltes Wasser sprangen, heute »Cashmere Moments« heißen. Die Sehnsucht nach diesem Stoff ist mittlerweile so allgegenwärtig, dass man fast von einer Kaschmirisierung des Alltags sprechen könnte.
Sogar Dinge, die augenscheinlich nichts mit der Lust auf Weiches und Sanftes zu tun haben, werden auf Wohlfühlen getrimmt: Schon gibt es Kaschmir-Jeans zu kaufen, ebenso wie das Getränk »Wodka Wellness« (mit Kombucha), das immer öfter in Bars zu haben ist.
Wie lässt sich dieser Drang zur immerwährenden Entspannung erklären? Wo mit Hochtouren am Wohlbefinden gearbeitet wird, muss vorher Unwohlsein geherrscht haben. Die Verkrampfungen, Verspannungen unserer Zeit scheinen es notwendig zu machen, dass wir uns sofort und jederzeit – gern gegen Honorar – entkrampfen müssen.
Viele Menschen empfinden das Leben als so hart wie seit den Aufbaujahren der Bundesrepublik nicht mehr. Der berufliche Alltag fordert den meisten mehr als nur eine 35-Stunden-Woche ab, der Leistungsdruck steigt, die Angst vor dem sozialen Abstieg hängt im Nacken. Also versuchen wir – professionell, wie wir sind –, Verstimmungen und Verspannungen von Körper und Gemüt durch ein perfekt organisiertes Wohlfühlprogramm auszugleichen. Jemand, der hart arbeitet, muss sich ebenso schnell und heftig erholen, denken wir, außerdem braucht er körperliche und seelische Ressourcen. Schon dient die Wohlfühllust als Ergänzungsprogramm zur Arbeit, als Hilfsmittel, sofort wieder loslegen zu können.
In früheren Generationen haben sich die Menschen dem Stress aus Beziehung, Beruf, Lebensführung auf andere Art entzogen: Sie haben die Welt verändert oder sind spirituell ausgestiegen. Heute gehen wir den Weg des einsamen Genießens; statt der Welt verändern wir unser Leben: ein ausgefuchster Dreh, einen Ausbruch zu schaffen, aber gleichzeitig gesellschaftskompatibel zu bleiben. Das Leben scheint uns fremdbestimmt und unveränderbar, also flüchten wir in die kleine Selbstbestimmtheit der Massage oder spirituellen Turnübung.
Aber bringt uns das Turbo-Entspannen wirklich das, was wir uns erhoffen? Der Philosoph und Autor Wilhelm Schmid lotet in seinem Buch Glück die verschiedenen Facetten dieses Zustands in unserer Zeit aus: das unverhoffte Glück des Zufalls zum Beispiel, dessen Merkmal seine Unverfügbarkeit ist. Jenes Glück, das Menschen durch subjektives Wohlfühlen empfinden, bezeichnet er als »Wohlfühlglück«. Wenn Menschen heute über »Glück« reden, meinen sie meistens dieses Wohlfühlglück.
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Nicht, dass das verwerflich sein könnte, sagt Wilhelm Schmid. Das Problem sei aber, dass diese Art von Glück nie lange vorhält. Den Pegelstand des Wohlfühlglücks messen Neurobiologen anhand der Ausschüttung von endogenen Morphinen, körpereigenen Drogen, die ähnliche Probleme wie alle Drogen mit sich bringen. Mit ein wenig Erfahrung kann ein Mensch die Ingredienzen für sein Wohlfühlglück kennenlernen und eifrig an ihrer Bereitstellung arbeiten: an Glücksmomenten wie einem Wochenende im Wohlfühlhotel, einer Massage, einer Tasse Kaffee, einer edlen Schokolade. Doch zu häufiger Gebrauch schwächt die Wirkung, Regelmäßigkeit fördert die Abhängigkeit: Die Maximierung von Lust wirkt kontraproduktiv. »Die ständige Jagd nach dem Wohlfühlglück macht auf Dauer systematisch unglücklich«, sagt Schmid und rückt andere Glücksarten ins Blickfeld – etwa das Glück der Fülle, das auch Unangenehmes und Schmerzliches miteinbezieht, oder das Glück des Unglücklichseins: Melancholie als gefühlsbewegte, nachdenkliche Selbstbesinnung zu betrachten. Leben ist Polarität und Glück eine Kontrast-erfahrung, sagt Schmid. Es hat nur Wert, was selten ist, was nicht pausenlos und umstandslos zu haben ist: Glück braucht Pausen.
Solche Sätze hört in der Wohlfühlindustrie niemand gern. Allein in der Wellnessbranche werden derzeit 80 Milliarden Euro im Jahr umgesetzt, mehr als in der Bekleidungsindustrie; bis zum Jahr 2020 sollen eine Million neue Arbeitsplätze entstehen. Die Fülle der Massagen und Behandlungen ist nicht mehr zu überblicken, ihr Sinn auch nicht. Deshalb überrascht es nicht, dass es bereits die ersten Wohlfühljunkies gibt, die sich nur noch mit immer stärkeren Hilfsmitteln entspannen können. Für solche Menschen hält die Industrie bereits doppelte Dosen an Wohlfühlglück bereit: Schokoladenwellness zum Beispiel oder »Latte Massagio«, eine Massage mit Latte macchiato im Anschluss – Wohlfühlglück in kumulierter Form also.
Muss es uns nicht zu denken geben, wenn plötzlich eine ganze Generation weich gespült, durchmassiert, einwattiert werden will? Und was soll man von einer Gesellschaft halten, in der andauerndes Wohlfühlen zur Norm geworden ist? Bevor das Material Kaschmir seinen Siegeszug in unserer Zeit antrat, tauchte es schon einmal auf: Im Biedermeier, jener kurzen Epoche zwischen 1815 und 1848, als nach der Niederlage Napoleons die politischen Zustände Europas vor der Französischen Revolution wiederhergestellt werden sollten. Das Bürgertum hatte sich schmollend zurückgezogen. Das Privatleben, das Idyll, erlebte eine Kultivierung ganz neuen Ausmaßes; Historiker gehen davon aus, dass in diesen Jahren auch der Ausdruck »Gemütlichkeit« erfunden wurde. Damals liebten die Damen der Gesellschaft nicht so sehr wie ihre Kaschmirschals. Die weiche Faser passte gut zu diesem Zeitalter: »Wenn Kaschmir eine Aussage hätte, wäre sie geflüstert«, sagt Diana Weis, Dozentin für Ästhetik an der Universität Hamburg.
Leise und gemütlich wünschen auch wir uns heute unsere Wohlfühlwelt. Alles, was weich ist, verspricht Harmonie – auch wenn dabei in Kauf genommen werden muss, dass die Dinge nachgiebiger, verformbarer sind, schneller kaputtgehen. Menschen mit Depressionen sehnen sich nach Harmonie, essen am liebsten weiche Gerichte. Kleinkinder lieben Kuscheliges. Und planschen gern, lieben Schokolade, wollen gestreichelt werden. Psychologen deuten den Wohlfühlzwang unserer Zeit mitunter als Schritt zurück in die Welt der Kindlichkeit: Wohlfühlen als Wiedergeburt.
Das Bedürfnis nach Harmonie, nach Weichheit und Wärme, hat aber einen
Haken. Der andauernde Drang danach erzeugt genau das Gegenteil: Stress, die Antithese dessen, was wir suchen. Wir hasten zum nächsten Spa-Termin; die mit Wohlfühlkram vollgestopften Kuschelhotels schnüren uns die Luft ab, obwohl für sie in Österreich doch extra die Kategorie »Vital« erfunden worden ist.
Wer am Ende alle Muskeln massiert, jede Faser seines Körpers in Weiches gehüllt, den Geist durch Yoga befreit und genug Milchschaum in sich hineingeschüttet hat, muss erkennen: Der Druck, es sich andauernd gut gehen lassen zu müssen, erzeugt auf Dauer nichts anderes als blanken Wohlfühlterror. Nur haben Wärme, Schaum und Dampf so sehr unsere Sicht vernebelt, dass wir kaum noch etwas erkennen können.