Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich denselben Hocker benutzt, wenn ich mir ein Buch aus dem Regal holen wollte, und eines Tages machte es bumm und ich fiel runter. Lendenwirbelbruch. Fünfmal musste ich ins Krankenhaus, zehn Monate lag ich insgesamt dort, auch, weil irgendwann mein Herz Probleme machte. Da ich nach der Entlassung auf Pflege angewiesen war, sagten meine Kinder: »Du musst ins Altersheim. Dort ist wenigstens immer jemand, wenn du stürzt.« Von meiner Vier-Zimmer-Wohnung mitten in Hamburg zog ich in ein Zimmer im Heim weit draußen. Nach zehn Monaten bin ich wieder in die Stadt zurück.
Nicht wegen der unerträglichen Zustände in dem Heim, nicht wegen der Pfleger, im Gegenteil. Ich habe tiefe Hochachtung vor dem Pflegepersonal; alle waren rührend, immer sofort da und hilfsbereit. Nein, ich konnte das Heim verlassen, weil ich nicht mehr auf Pflege angewiesen war. Und ich wollte es verlassen, weil meine Freunde in der Stadt, ich aber draußen wohnte; weil man sich im Alter bewegen soll, aber nicht allein auf geharkten Spazierwegen, die kein Ziel haben, sondern einen immer nur im Kreis führen; weil man auf diesen Wegen nur alte Menschen mit ihren Rollwagen sieht, weil man in einer surrealen Welt lebt. Jetzt wohne ich wieder in einer Wohnung in der Stadt, ein Zimmer, Küche, Bad und Lift. Ich muss aus dem Haus und bin selig, weil ich zur Reinigung gehe, ein Viertelpfund Butter brauche, die Zeitung, ein Stück Kuchen. Links ist der Supermarkt, vorn die U-Bahnstation, ich sehe Autos, Menschen – das Leben. Natürlich: Jeder Handgriff kostet. Nie habe ich so viel Geld gebraucht wie jetzt. Wenn ich bade, kommt eine Pflegerin in die Wohnung, weil ich dabei nicht allein sein will. Zweimal die Woche bezahle ich eine Putzfrau. Da hätte ich früher nur kurz gehustet: Was? Eine Putzfrau für eine Ein-Zimmer-Wohnung?
Ich würde jederzeit wieder in ein Altersheim oder ein Heim für betreutes Wohnen umziehen, wenn mein Herz schlechter wird, wenn ich also einen Knopf brauche, auf den ich drücken kann, damit mir jemand hilft. Ein Altersheim ist nicht die letzte Station, jeder Tag kann inzwischen der letzte sein, egal, wo ich wohne. Man lebt nicht anders, wenn man begreift, dass es morgen zu Ende sein kann. Vielleicht sagt man öfter Danke als früher: für einen schönen Tag, dafür, dass ich es heute geschafft habe, mich zu etwas zu überwinden. Heute weiß ich, ich habe mich geweigert, beizeiten über das Altwerden nachzudenken. Ich meine vor allem über die ganz praktischen Dinge: Wo und wie willst du wohnen? Wer soll das bezahlen? Man soll sich sein Zuhause, seinen Alterssitz, selber bauen. Dass meine alte Wohnung im dritten Stock lag und nur über sehr steile Stiegen zu erreichen war, wusste ich seit 25 Jahren. Dennoch habe ich es immer als sportliche Herausforderung begriffen, mich nie gefragt: Und, wie willst du da mal raufkommen, wenn deine Beine dich nicht mehr tragen? Leben wollen wir alle lang, nur alt werden nicht.
Was mich überrascht hat: Dass man als alter Mensch so viel damit zu tun hat, sich neu kennenzulernen, und wenn man endlich begriffen hat, dass man dieses und jenes nicht mehr kann, kommt schon das nächste, was man nicht mehr schafft. Angst habe ich davor, dement zu werden, und davor, dass mir die Puste ausgeht, ich unter Atemnot leide. Ich stelle fest, dass ich immer häufiger über das Sterben nachdenke. Nicht über den Tod, über den kann man nicht nachdenken. Vor dem Sterben haben wir alle Angst. Sich damit zu befassen ist eine große Aufgabe. Und ich kann Ihnen hinterher leider nicht erzählen, wie’s war.
Hier weitere Fragen über das Alter:
Frage 1:
Fühlt man sich im Ruhestand nutzlos?
Frage 2:
Wie wichtig ist im Alter das Aussehen?
Frage 3:
Entwickelt man sich mit den Jahren zum Reaktionär?
Frage 4:
Macht das Alter maßlos?
Frage 5:
Wie wird es sich anfühlen, an früher zu denken?
Frage 6:
Was kann man tun, um im Alter nicht müde zu werden?
Frage 8:
Wie geht man mit Krankheit um?
Frage 9:
Was verändert sich im Alter überhaupt nicht?
Frage 10:
Macht es melancholisch, plötzlich Opa zu sein?