Ich wäre gern älter, viel älter, mehr noch, als es biologisch empfehlenswert ist. Denn dann hätte ich meine jungen Jahre vor dem Ersten Weltkrieg verbracht, in der Belle Époque, in der guten alten Zeit. Ich hätte Opern sehen können, wie deren Komponisten sie sich gedacht hatten, nicht so, wie Regisseure, die auf Originalität versessen sind, sie heute inszenieren. Im Theater hätte ich nicht erleben müssen, dass, wenn ich eigentlich den Reden Wilhelm Tells oder Hamlets lauschen wollte, der Herausgeber der Wochenzeitung Der Stürmer Julius Streicher auf der Bühne onaniert. Männer lösten damals Lebenskrisen, indem sie sich duellierten oder auf den Großen Krieg als Ausweg hofften, Frauen, indem sie dekorativ in Ohnmacht fielen. Es war eine heile Welt.
Wer im Jahrzehnt nach ihrem Zusammenbruch geboren wurde, in Deutschland, in der Weimarer Republik, in München, für den waren die nostalgischen Reden der El-terngeneration über die noch nahe Vergangenheit ein prägendes Leitmotiv. Auf mich jedenfalls wirkte es dauerhaft. Vielleicht bin ich nie ganz und gar jung gewesen, wofür es auch andere Indizien gab: Ich spielte als Bub nicht Fußball und später nicht Tennis. Offenbar war ich von jeher fürs Altern prädestiniert. Alt zu sein schien mir sozusagen der Normalzustand des Menschen – und die Übergänge erwiesen sich als fließend. Schließlich wurde Hegel, dem ich mich sonst nicht gleichsetzen möchte, schon zu seinem 50. Geburtstag als »ehrwürdiger Greis« gefeiert. Lange merkte ich kaum, wie sich die Jahresringe ansetzten.
Die große Frage, wie ich mich im Alter einrichten soll, habe ich bewältigt, indem ich ihr konsequent auswich. Ich trage die gleichen Kleider, gehe in dieselben Restaurants und mache ähnliche Reisen, mit Vorliebe in »Spannungsgebiete«. Unverändert interessiere ich mich für Politik, Kunst, Literatur und Geschichte. Die Freunde freilich machten sich zunehmend rar, doch schritt ich rüstig vorwärts. Nur flüchtig dachte ich manchmal darüber nach, wo ich meine alten Tage verbringen wollte – bis es für konstruktive Entscheidungen zu spät war. Das war kein Unglück, denn da ich in Paris mehr Jahre meines erwachsenen Lebens verbracht habe als an irgendeinem anderen Ort der Erde, meine Heimatstadt eingeschlossen, bleibe ich einfach sitzen. Das ist keine schlechte Lösung, wenn man in einem Haus mit Lift in einem schönen Teil des Zentrums wohnt, alles Wichtige in Gehweite hat und medizinisch gut versorgt ist. Vor allem habe ich nie aufgehört zu arbeiten. Wann immer ich an eine mögliche Pensionsgrenze stieß, fragte ich mich: Sollst du Schluss machen? Obwohl keine Langeweile drohte, ergab sich daraus sofort die nächste Frage: Was wirst du denn tun als Ruheständler? Und gleich darauf die realistische Antwort: nach dem Aufwachen im Bett Radionachrichten hören, im Bad auf andere Sender umschalten, dann ausgehen und Zeitungen kaufen, mit Gleichgesinnten über das Gehörte und Gelesene diskutieren, einschlägige Literatur lesen. Da ich das unverschämte Glück habe, mich seit Jahr-zehnten beruflich mit genau den Fragen zu beschäftigen, die mich faszinieren, lag der Schluss nahe: Das kannst du auch für Geld machen.
Bisher ist alles gut gegangen. Aber das sagte auch jener Mann, der von einem Wolkenkratzer stürzte, während er am 20. Stock vorbeifiel. Gleichaltrige trösten sich mit schlauen Sprüchen der Art: Alt werden ist das einzig sichere Mittel dagegen, jung zu sterben. Solch krampfiger Fröhlichkeit setzten schon im 18. Jahrhundert philo-sophisch gebildete Franzosen mit resignierender Weisheit entgegen: Wenn Jugend wüsste, wenn Alter könnte. Im Bewusstsein, dass bei Super-Senioren kleine Wehwehchen normalerweise nur größer werden können, halte ich mich im Abend-rot des Lebens an die Maxime carpe diem – genieße den Tag.
Hier weitere Fragen über das Alter:
Frage 1:
Fühlt man sich im Ruhestand nutzlos?
Frage 2:
Wie wichtig ist im Alter das Aussehen?
Frage 3:
Entwickelt man sich mit den Jahren zum Reaktionär?
Frage 4:
Macht das Alter maßlos?
Frage 5:
Wie wird es sich anfühlen, an früher zu denken?
Frage 6:
Was kann man tun, um im Alter nicht müde zu werden?
Frage 7:
Was tun, wenn man nicht ins Altersheim will?
Frage 8:
Wie geht man mit Krankheit um?
Frage 10:
Macht es melancholisch, plötzlich Opa zu sein?