Zum Dahinschmelzen

Kinderfreund, Filmstar, Werbefigur – alle lieben den Schneemann. Aber oh weh: Seine Tage sind gezählt.

Palästinensische Sicherheitskräfte bauen einen Schneemann
Der Feminismus hat unsere Welt moderner und gerechter und manchmal auch sich selbst lächerlich gemacht: Zum Beispiel, als er sich im Jahr 2001 auf einen Gegner stürzte, der sich nicht wehren konnte, weil er nur aus Luft und Wasser bestand: den Schneemann.

Fünf Jahre hatte Tricia Cusack, Professorin der Kunstgeschichte an der Universität von Birmingham, damit verbracht, »die kulturelle Bedeutung von Schneemännern« zu erforschen, bis sie am Ende so wütend war, dass sie über die BBC ein paar deftige Thesen verbreitete: Der Schneemann sei sexistisch und überholt, er sei weiß, männlich, dick und phallisch – schon wegen der steif gefrorenen Karotte im Gesicht – und werde draußen, also im öffentlich-kommerziellen Bereich, von Jungs und Männern aufgestellt, während sich die Frauen vollkommen abgeschirmt um den Haushalt kümmern, ja eigentlich zu Tode schuften müssten. Ein Zugeständnis musste Frau Professorin aber machen: Man treffe ihn nicht mehr so oft wie früher mit Pfeife im Mund an. Wenigstens das Rauchen schien der alte Macho allmählich aufzugeben. So weit war es also gekommen: ein Macho und Frauenfeind – ausgerechnet der Schneemann, dieses Symbol für heimeligen Familienfrieden. Irgendwann konnte man ja einen Schneemann nicht mal mehr ansehen, ohne die roten Backen seiner Bauherren und die dampfende Tütensuppe gleich mitzudenken. Und doch gibt und gab es zu allen Zeiten sehr unterschiedliche Schneemänner, wie das gerade erschienene Buch The History of the Snowman beweist, eine Kulturgeschichte des Schneemanns, für die der Autor Bob Eckstein monatelang in Bibliotheken und Archiven recherchiert hat – und die gerade noch rechtzeitig kommt, bevor sich niemand mehr an die Spezies der Schneemänner erinnern kann, weil die Erderwärmung sie ausgerottet hat. Eckstein hat einfach die wichtigsten Fakten und Fotos zusammengesammelt, damit unsere Nachfahren was zum Träumen haben.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum der Schneemann ein bisschen wie Günther Jauch wirkt - und warum es ihm wie Elvis Presley ging)

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Nichts anderes passiert ja gerade mit den Eisbären, die werden auch nur vordergründig ständig fotografiert, weil sie so süß sind. Ecksteins These: Der Schneemann ist ein Popstar, eine weltweite Berühmtheit, eine Metapher, an der sich der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit aufzeigen lässt, die überall verstanden und von jedem für seine Zwecke missbraucht werden kann, vom Feminismus, der Politik, vor allem von der Wirtschaft: Die Klitschkos sind groß und stark, also werben sie für Milchschnitte; der Schneemann ist weiß, kühl und rein, also warb er für Waschmittel, Parfums, Zahnpasta, Rasiercreme, Salz, Zucker, Kühlschränke, ja sogar Tampons.

Für nicht weiße Produkte ließ man sich eben ein paar mittelgute Sprüche einfallen, zum Beispiel »Tabak von Velvet kann sogar ein Herz aus Schnee aufwärmen«. Ein Schneemann konnte den Menschen lange Zeit alles andrehen, so glaubwürdig war sein Image, so unschuldig, nackt und asexuell (außer für Feministinnen) wirkte er, ein bisschen wie Günther Jauch, nur nicht so neunmalklug und ohne Gehaltsvorstellung.

Klar, dass auch Hollywood versuchte, aus einem so coolen Typen Profit zu schlagen: 22 Kinofilme gibt es mit dem »Schneemann« in der Hauptrolle, in sechs von ihnen ist er am Ende sogar der Mörder, zum Beispiel im ziemlich trashigen Psychothriller Jack Frost aus dem Jahr 1996, in dem ein Schneemann ohne Nase die Schauspielerin Shannon Elizabeth in der Badewanne vergewaltigt. Der Schneemann taucht in nicht weniger als 500 Buchtiteln auf, auf Ebay werden jeden Tag 37 000 Schneemann-Artikel versteigert, darunter Salz- und Pfefferstreuer, Serviettenhalter und Tupper-Silikonformen.

Dem Schneemann erging es nicht anders als Elvis Presley, James Dean und Marilyn Monroe: Das Original wurde im Laufe der Jahre verkitscht, ironisiert, sinnentleert und mit Größenwahn aufgeladen: 1999 bauten in Bethel, einer Stadt in Maine, 60 Menschen »Angus, King of the Mountain«, den größten Schneemann, den es je gegeben hat. Angus war 35 Meter hoch, wog mehr als 4000 Tonnen (das entspricht dem Gewicht von 20 Blauwalen), seine Arme bestanden aus zwei Nadelbäumen, sein Mund aus sechs Autoreifen. Es dauerte vier Monate, bis er geschmolzen war.

Es scheint, als hätte sich der Schneemann vor seinem Tod noch mal richtig aufgeplustert, um sich ins Gedächtnis der Menschen einzubrennen. Seit wann Schneemänner gebaut werden, lässt sich nicht belegen, das liegt in der Natur der Sache. Aber einige Anthropologen gehen davon aus, dass unsere Vorfahren schon vor Tausenden von Jahren Schneemänner oder -skulpturen gebaut haben. Diese könnten als Schneegötter verehrt oder als Vogelscheuchen gegen wilde Tiere eingesetzt worden sein.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ein Schneemann aus dem Jahr 1380 und ein Schneemann aus dem Jahr 1938 mit Judenstern)

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Der erste gezeichnete Schneemann, von dem wir wissen, findet sich in einem Manuskript aus dem Jahr 1380 und stellt wahrscheinlich einen Juden dar, zu erkennen am merkwürdigen Hut, mit dem im Mittelalter Minderheiten und Außenseiter gebrandmarkt wurden. Bemerkenswert: Aus dem Jahr 1939 gibt es eine Fotografie, auf der Jungen in HJ-Uniformen einen Schneemann mit krummer Nase und Judenstern bauen. Zum ersten Mal schriftlich erwähnt wurde der Schneemann im Jahr 1408. Im Tagebuch eines Weinhändlers ist die Rede von einer Herkules-Skulptur aus Schnee auf der Piazza San Michele Berteldi in Florenz.

Dieser »Schneemann der Renaissance« muss vom »Schneemann der Moderne« klar unterschieden werden. Der frühere verwies meist auf reale Personen oder politische Anliegen. Oft handelte es sich wie bei Herkules um eine künstlerische Skulptur, die nichts mit dem kugelförmigen Schneemann von heute zu tun hat. Eher war er ein Objekt für bildende Künstler, vergleichbar mit Schneebars und -hotels, wie sie heute in Winterorten gebaut werden.

Erst seit dem 19. Jahrhundert gibt es den Schneemann, wie wir ihn heute kennen, bestehend aus drei Schneekugeln, mit Augen aus Kohle oder Steinen und einer Karotten-Nase. Anfangs noch als grimmige Gestalt, als Symbol für entbehrungsreiche Winter, oft sogar als Gegner des Menschen oder Verkörperung verhasster Autoritäten, die es zu bekämpfen gilt. In der Young Folks’ Cyclopaedia of Games and Sports aus dem Jahr 1890 wird eine Variation des Spiels Aunt Sally erklärt, bei dem Kinder Punkte sammeln können, indem sie Schneebälle auf einen Schneemann werfen (statt Stöcke auf eine Vogelscheuche namens »Aunt Sally«).

Als tragische Figur, vor allem als Symbol für Vergänglichkeit wurde er zunehmend auch für die Literatur interessant: 1860 schrieb Hans Christian Andersen sein Märchen Der Schneemann, in dem sich der Schneemann ausgerechnet in einen Ofen verliebt, weil er ihn für eine Frau hält. In einem Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Benjamin Newman wird der Schneemann sogar mit Hamlet verglichen. Beide seien Helden, beide mit dem Verlangen ausgestattet, hinter die Oberfläche der Dinge, hinter den bloßen Schein zu sehen, beide scheitern: Hamlet wird gleichzeitig erdolcht und vergiftet, der Schneemann schmilzt.

Auch als Werbefigur musste der Schneemann noch um die Jahrhundertwende eher für Kater, Mundgeruch und unruhige Beine den runden Kopf hinhalten. Je mehr der moderne Mensch die Schrecken des Winters – vor allem durch neue Heizungen – in den Griff bekam, desto lieblicher wurde das Image des Schneemanns. Sein Körper wurde rundlicher, in den Dreißigerjahren vervierfachte sich die Zahl der Werbeplakate mit Schneemännern. In den Fünfzigern entdeckte er schließlich doch noch den Sex für sich und wurde des Öfteren mit großbusigen Bikini-Schönheiten auf Postkarten verewigt.

Vielleicht setzt ja der Klimawandel der Verkitschung des Schneemanns ein Ende. Weil er vom Aussterben bedroht ist, wird er vom sinnentleerten Symbol zum Opfer, zu einer identitätsstiftenden Figur. Karikaturisten haben das längst erkannt: Wenn ein traurig dreinschauender Schneemann sich einen Föhn an den Kopf hält, weiß jeder, was gemeint ist. Noch deutlicher wird der amerikanische Cartoonist Leigh Rubin: Auf einem seiner Bilder sind nur ein Hut, eine Karotte, ein paar Steine und ein Schild zu sehen. Auf einem Schild steht: »Stop Global Warming!«

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