Einmal mochte ich den Freund meiner Tochter nicht. ‚Nicht mögen‘, ist milde gesagt. Ich konnte den Kerl nicht ausstehen! Natürlich begründet. Aber das denkt man als Mutter (und vermutlich auch als Vater) ja immer. Tatsächlich konnte ich auf Anhieb zwei oder drei greifbare ‚Gefällt mir nicht!‘-Gründe nennen. Und etwas nicht Greifbares, Fühlbares, Namenloses.
Meine Tochter war damals 23. Ihr Freund war 45. Beinahe so alt wie ich. Damals. Meine Tochter sagte: «Na und, er ist ein paar Jahre älter. Macht ihn das schon zu einem schlechten Menschen?» Ich hätte gern gedacht: natürlich nicht. Alles andere wäre doch unfair gewesen. Wahnsinnig oberflächlich. Gemein.
Und dann sah ich meine Tochter an. Die sehr jung und sehr schön und, was sie selbst und das Leben und Lieben betrifft, trotzdem eben noch unsicher war. Und ich dachte: natürlich doch. Meine Tochter kannte diesen Mann seit langem. Über die ersten beiden Jahre war er ihr Chef gewesen, einer von zweien. «Mehr nicht!», sagte sie. Ich, die den Mann flüchtig kannte, erlebte mich hin- und hergerissen zwischen Argwohn und Sorge. Sie war damals 19, alt genug. Sie verlor ihre Wohnung und zog auf sein Sofa. Sie waren: »Gute Freunde, mehr nicht!« Immer mit diesem höchst zweifelhaften Ausrufezeichen. Dann waren sie plötzlich offiziell ein Paar. Das war allein ihre Sache, na klar. Ich spürte so etwas wie einen Krampf im Magen und einen gewissen Druck auf den Tränendrüsen.
Der Freund und ich hatten uns höchstens eine Handvoll Male getroffen. Wenn ich ihm in die Augen schaute, wich er meinem Blick aus. Wenn er mich ansprach, dann über meine Tochter. Wie das eine Mal im Café, als er sie, die gleich neben mir stand, fragte: »Was will deine Mutter trinken?« Und als ich sagte: »Danke, nichts«, an meine Tochter gewandt zischte: »Sag ihr, ich zahle!« Ich war damals schon sicher, er mochte mich so wenig wie ich ihn. Meine Tochter sagte auf diese von mir immer mal wieder geäußerte Vermutung hin stets mit Nachdruck: »Falsch!« Sie sagte, was ihr Freund tatsächlich fühle, sei Ablehnung. Und zwar meine. Sie grollte, dass er sich in meinem Beisein gebe, wie er sich gibt, liege allein an mir. Sie behauptete: »Sonst ist er ganz anders!« Weil es mir unmöglich war, das zu widerlegen, sagte ich: »Das tut mir leid.« Meine Tochter nahm es als Zynismus. Sie nannte mich kalt. Offenbar war ich nicht kalt genug, denn das tat mir weh.
Heute weiß ich, dass er mich nicht mochte. Meine Tochter hat es mir mittlerweile gesagt. Ich bin ihr darum nicht böse. Im Gegenteil. Ich bin froh, dass ich meine Tochter wieder habe. Mit aller Offenheit und Vertrauen und allem. Und ich bin froh, dass ich jetzt weiß, dass ich mich auf mein ungehöriges Gefühl verlassen kann. Besser: dass ich mich auf es verlassen muss. Ist ja nicht immer so leicht. Ich weiß das. Ich habe auch schon Männer gehabt, einige, bei denen man lieber nicht so genau hinfühlen will. Oder erst sehr viel später. Viel zu spät.
Damals, als mein Gefühl und ich sehr allein miteinander waren, fragte ich: »Was kann ich tun?« Meine Tochter sagte: «Natürlich möchte ich, dass ihr euch mögt. Wenigstens, dass ihr miteinander auskommt.» Sie fragte: «Ist das so schwer?» Ich dachte: Und wie! Der Freund meiner Tochter war eher klein. Er kleidete sich gern in Schwarz. Er trug T-Shirts mit Bandnamen und mit lustigen Sprüchen. Als Fotograf porträtierte er junge Mädchen in Unterwäsche und seltsamen Posen. Die Bilder stellte er auf Facebook aus. Das war Kunst und ich überhaupt eine alte Schachtel. Meine Tochter schwärmte von ihrem junggebliebenen, von Konventionen unbeirrt kreativem Mann. Ich fand, sie schwärmte verdächtig oft und verdächtig laut. Kam mir alles bekannt vor, wie gesagt, auch ich hatte schon so Männer.
Der Freund war wahnsinnig locker und lustig. Er machte gern Witze. Eigentlich ununterbrochen. Das war an sich schon ziemlich anstrengend. Wirklich enervierend war, dass er gern Witze auf Kosten meiner Tochter machte. Zum Beispiel als sie, etwas scheu, das neue Baby ihrer Schwester auf den Arm nahm und der Freund das Kind aufforderte: »Los, doch, heule!« Dann wieder offen. Als er zum Beispiel ein Foto auf seine Facebookseite stellte, auf dem meine Tochter in einem Einkaufswagen saß, den der Freund schob. Unter das Bild hatte er kommentiert: »Selbstverständlich habe ich zuvor die Geschäftsbedingungen geprüft. Ich kann die Ware jederzeit zurückgeben.« Ich hätte gern zurück kommentiert, etwa so: »Du unverschämter alter Sack! Nicht nur weißt du meine kluge, schöne Tochter nicht im Geringsten zu schätzen. Du musst sie auch noch umgekehrt Glauben machen, du Lächerlichkeit von einem Mann seist ein unschätzbares Glück für sie.«
Dass und in welchem Maß mich der Spruch aufregte, war meiner Tochter Beweis meiner Altbackenheit. Meiner generellen Humorlosigkeit. Sie sagte: »Du kapierst es einfach nicht. So reden wir nun mal miteinander.« Sie ihrerseits wollte nicht verstehen: Es war genau das, was mich besorgte! Ich hatte Männer, die sprachen genau so oder ganz ähnlich mit mir. Sie machten Witze über meine mangelnde Sportlichkeit. Sie spotteten über meine mangelnde Hausfraulichkeit. Sie ließen sich aus über mein mangelndes Alles. Wenn sie riefen: »Glaub doch nicht, dass irgendjemand außer mir bereit wäre, sich auf dich einzulassen!«, hatten sie mich schon jeweils so weit, dass ich ihnen das als Liebeserklärung abkaufte. Was tat und sagte darauf meine eigene Mutter? Sie sagte: »Der Mann, der es mit dir aushält, muss wirklich erst noch geboren werden!« Und vielleicht ist auch das kein Wunder. Mein Stiefvater redet seit je genau so oder gnaz ähnlich mit meiner Mutter. Er nennt sie, die schwer übergewichtig ist, Speckmaus. Er stichelte, als sie vor Jahren von einem Pelzmantel träumte: »Du lieber Gott! Darin sähst du aus wie ein Teddybär!« Er witzelte, als sie von einem Schminkkurs kam: »Wie ein Clown!« Er nennt sie Mädchen. Ist das liebevoll? Ist es lustig? Oder ist es der feige verhüllte Ausdruck einer Verachtung, die man für jemanden fühlt? Ein Gift, das, verabreicht in nahezu unauffälligen Dosen, über die Dauer nahezu ebenso unauffällig seine Wirkung tut. Meine Mutter schiesst zurück, ich schoss zurück, das ist wahr. Macht das solchen Umgang miteinander besser?
Na klar, was geht es mich an, welche Ehe meine Mutter führt. Ich habe mich so wenig in die einzumischen wie in die Beziehungen meiner Tochter. Kann mich um meinen eigenen Kram kümmern, Und das habe ich ja auch getan, die Männer, die so mit mir sprachen, sind weg. Ich werde mich nicht noch einmal auf so einen wie jene einlassen. Damit ist doch alles gut, oder? Ich dachte: Nein! Ich schaffte nicht, stumm dabei zu sitzen, wenn der Tochterfreund seine Witze machte. Ich wollte es nichtmal schaffen. Wenn dieser Mann, der so viel älter als meine Tochter war, ihr in Jahren so weit überlegen, sich auf ihre Kosten lustig machte, dann fühlte ich, die Gleichaltrige, die ihm in Jahren Gewachsene, mich verpflichtet, ihm entgegenzutreten. Das sagte ich meiner Tochter. Sie schnaubte und rollte die Augen. Und ich fragte mich: Hatten mich meine Beziehungen, hatte mich die Ehe meiner Eltern übersensibel gemacht? Oder verliehen sie mir im Gegenteil ein angemessenes Gespür? Natürlich hätte meine Tochter ihren Freund gern mit nachhause gebracht. Ich versuche, mir vorzustellen, wie das sein würde. Wie wir am Tisch säßen, sie, er und ich. Zwei Mittvierziger und meine junge Tochter.
Wie und worüber hätten wir miteinander gesprochen? Wie und über was spricht ein 45-Jähriger mit einer 22-Jährigen, die nicht seine Tochter, sondern seine Freundin ist? Ich fragte das vorsichtig meine Tochter. Sie sagte: »Du verstehst einfach nicht.« Er und sie liebten die gleiche Musik, sagte sie. Die gleichen Bücher. Die gleichen Filme. Musik, Bücher und Filme, die sie nicht kannte, bevor sie ihn kennen lernte. Sie hätten die gleichen politischen Ansichten. Sie übten die gleiche gesellschaftliche Kritik (vornehmlich an Frauen). Sie passten hervorragend zueinander. Kein Altersunterschied zu merken. Dass ich darauf schwieg, wertete meine Tochter als Arroganz. Tatsächlich machten mich ihre Erklärungen und meine Erinnerungen nahezu panisch vor Sorge.
Wie machte ich die angemessen laut? Dass es hier nicht nur um Geburtsdaten und Zahlen geht, wie konnte ich das meiner Tochter zu verstehen geben? Und wie, wenn es denn das Klügere ist, schaffte ich es, angemessen zu schweigen? Natürlich fürchtete ich, dass ich klang wie meine Mutter. Die keinen meiner Freunde und Männer je passend gefunden hatte. Die keinen von ihnen je mochte. Und die ihnen doch gegenüber stets freundlich war. Weil sie es selbst nicht anders kannte und besser wusste? Oder war es, wie sie heute sagt, eine Notwendigkeit, um den Frieden zu wahren?
Bestärkte es nicht jene Männer in ihrem Verhalten und mich in der falschen Annahme, dass es tolerabel war, wenn sie abfällig mit mir sprachen. Ich dachte immer, dass ich es nicht besser verdiente. War das meine Dummheit? Oder war das die verzeihliche, weil logische Konsequenz?
Als meine Tochter und ihr Freund auf Weltreise gingen, hörte ich vier Monate kaum von meiner Tochter. Ich meinerseits rief nur selten an. Es ist schwer genug, gegenüber den eigenen Kindern, den Töchtern vor allem, die Balance zwischen Sorge, Sehnsucht und Ziehenlassen zu wahren. In der gegebenen Situation fand ich es fast unmöglich. Als ich mich überzeugt hatte, es sei okay, mal nach dem Fortgang der Reise und dem Befinden zu fragen, ging sie nicht ans Telefon. Über drei Wochen nicht. Über drei Wochen kein Eintrag, kein Foto von der Weltreisenden auf Facebook, das ja der Gradmesser des gelebten Lebens ist. Dann, endlich, meldete sich am anderen Ende der Leitung ihre Stimme. Sie sagte, oh, sorry, der Freund verwalte das Telefon. »Musst dich nicht sorgen.« Ich dachte, wieder einmal: Eben deshalb, und wie! Dass ich es nicht mehr sagte, empfand ich als Verrat. Sie weiß das.
Sie weiß, dass ich an jenem Aprilabend, an dem sie anrief und mit kaum vernehmbarer Stimme, schluchzte: »Es ist vorbei! Er ist gerade gegangen.«, am liebsten ohne Verzug durch die Küche getanzt wäre. Sie nimmt mir das nicht übel. Wohl auch und vor allem deshalb, weil ich es nicht tat. Weil ich nicht einmal – wie meine eigene Mutter es jedesmal getan hatte – rief: »Ich hab’s ja gleich gewusst!« Zählte hier doch gar nicht, was ich fühlte und dachte. Mit Ausnahme dieses einen: Wenn man als Mutter nicht damit anfängt, sich selbst und seine Kinder zu respektieren, darf man von den Kindern keinen Selbstrespekt erwarten.
Foto: David Hallinan