Alis Kuru war der Dritte. Er ist eigentlich nicht daran gewöhnt, Dritter zu sein, nur Dritter, Alis Kuru ist ein selbstbewusster junger Mensch, zerstrubbelte Haare, Bartschatten. Er kommt ziemlich breitbeinig daher, im übertragenen Sinn und im direkten. Kuru setzt sich in einen flachen Stuhl mitten in seinem Laden, im Laden wird nicht geraucht, aber er ist einer dieser Typen, bei denen man sich die Zigarette automatisch dazudenkt.
Ceyda heißt sein Geschäft, Weseler Straße 38, bei Ceyda gibt es Braut- und Abendmode, seit 1998 sitzt er hier, Weseler Straße in Duisburg-Marxloh, er war der Dritte, der den Kunden Brautkleider und Anzüge verkaufte, zwei türkische Geschäftsleute hatten damit angefangen, sie hatten die Hochzeit als Geschäftsmodell sozusagen entdeckt. Inzwischen gibt es fünfzig Läden an der Weseler Straße, Brautmoden, Goldschmuck, Änderungsschneidereien, Friseure, Hochzeitsfotostudios. Alis Kuru war nur Dritter, aber auch der Dritte ist ein Pionier. »Du musst die Nase im Wind haben«, sagt er, »du musst die Welle erkennen, wenn sie sich aufbaut.«
Hinter ihm hängen an Stangen Kleider, Samt und Tüll und Glitzer. Kuru schneidert nicht selbst, er hat Mitarbeiter, die das für ihn tun. Kuru ist Elektroingenieur, »eine Hose kürzen kann ich natürlich auch«. Aber in erster Linie ist er Kaufmann. Er steht gern in der Nähe der Tür, wie die Koberer auf St. Pauli, nur in romantischerem Auftrag. Wenn er draußen ein junges Paar sieht, das sich noch nicht entschlossen hat, ob es reinkommen soll, das vielleicht noch nicht mal weiß, wie belastbar die Idee von der Hochzeit ist, tritt er auf die Straße und bittet das Paar herein, mit der Geste eines dieser Zirkusdirektoren, die »Hereinspaziert!« gerufen haben zu einer Zeit, als mit einem Zirkus noch Geld zu verdienen war. Wenn sie drin sind, gehen sie so schnell nicht mehr raus, sagt Kuru. Wenn sie im Laden sind, verdichtet sich die vage Heiratsabsicht zu einem Plan. »Wenn du dein Mädchen erst mal in meinen Klamotten siehst, kannst du nicht anders: Dann willst du es heiraten.«
Die Weseler Straße, Postleitzahl 47169, ist die Hauptverkehrsader von Marxloh, Duisburger Norden, sie war mal so was wie der Kudamm des Ruhrpotts, Thyssen war der größte Stahlkocher Europas, es gab Jobs und Geld. Die Weseler Straße ist ziemlich breit, angelegt als Straße in einer Stadt, die wächst, aber Duisburg wuchs nicht, Duisburg wurde vom Strukturwandel geschüttelt, die Geschäfte an der Weseler Straße machten dicht, die Schaufenster wurden verrammelt. Die Weseler Straße war auch in ihrer großen Zeit kein Boulevard, tief in den Achtzigern war sie dann wie der trockengelegte Arm eines Flusses. 18 000 Menschen leben in Marxloh, Schulabbrecher, verkrachte Hauptschüler, Arbeitslose darunter. Was sollen die kaufen? Die Zeitungen berichteten von Kreuzberg als sozialem Brennpunkt, vielleicht meinten sie in Wahrheit Marxloh, aber es ist Teil des Schicksals von Duisburg, von Marxloh und der Weseler Straße, dass die Leute von draußen eher nicht hierherschauen. Wenn sie schauten, sahen die Schimanski im Fernsehen, den Duisburger Kommissar, aber nicht mal der kam bis nach Marxloh. Schimanski war unverheiratet.
»Wir sind im Stillen untergegangen. Und im Stillen auferstanden«, sagt Alis Kuru, geboren in der Türkei, aufgewachsen in Gelsenkirchen, inzwischen Duisburger Bürger, der »wir« sagt, wenn er die Türken meint oder die Marxloher. Es kommt aufs Selbe raus. Der Ausländeranteil in diesem Stadtteil liegt bei über 30 Prozent. Kuru war dabei, als die Idee aufkam in der deutschtürkischen Community: Brautmoden verkaufen. Geheiratet wird immer, das wussten die Türken, die Räume an der Weseler Straße waren billig zu mieten, Startkapital war vorhanden. Wer seine Arbeit bei Thyssen verloren hatte, ging zurück in die Türkei, oder er investierte in diese Idee. Wenn es am Anfang schwierig werden würde, wenn es Zeiten der Dürre gäbe, wären die Türken diejenigen, die diese Dürre aushalten könnten, das war allen klar, sagt Kuru. »Du musst kein Personal einstellen, wir sind ja Familienbetriebe, da kann der Vatter einsteigen, die Cousine, die Mutter. Du kannst reagieren. Wenns am Wochenende brummt, holst du eine deiner vielen Schwestern, die verkaufen dann mit. Bei uns« – er lächelt leise – »kann ja jeder alles verkaufen.«
»Sieht schon irre aus«
Die Weseler Straße in Duisburg ist wie eine kleine Schwester der Simmeringer Hauptstraße in Wien. Schnörkellos, gerade Strecke, beide Straßen haben ihren Sinn gefunden, einen sehr diesseitigen oder eher jenseitigen, je nachdem. In den Geschäften an der Simmeringer kann man Trauerkarten kaufen, Kränze und Gießkannen aus rostfreiem Metall; sie führt zum Zentralfriedhof. Dort riecht es, wenn der Wind entsprechend steht, ein bisschen auch nach Krematorium. An der Weseler Straße riecht es nach großzügig parfümierten Bräuten und ein bisschen auch nach dem Qualm der Stresszigaretten der dazugehörigen Männer. Vor dem Fotostudio, Hausnummer 35, steht Seyfiali Yilmaz, daneben seine Braut Reyhan, gerade haben sie die Hochzeitsbilder machen lassen. Sie wohnen in Hagen, in der Dickenbruchstraße, die Adresse klingt wie ein absichtsvoll gesetzter Kontrast zu ihrer Erscheinung. Er: ein zierlicher Tänzer, der dünne Bart rahmt das Jungsgesicht. Sie: eine Elfe, das weiße Brautkleid bauscht in Wellen an ihr herab. Der Bräutigam raucht und schlägt die Asche zur Straße hin ab, die Braut kontrolliert mit Blicken, ob nicht trotzdem ein Funken Glut sich in ihrem Kleid einnistet.
Reyhans Kleid ist von Hatice, ein paar Meter weiter, Weseler/Ecke Kaiser-Wilhelm-Straße, es gibt drei große Spiegel in diesem Laden und eine Bühne. Väter, Brüder, Onkel sitzen auf bequemen Sesseln und trinken Tee, irgendwann wird dann die Braut in ihrem maßgeschneiderten Kleid auf die Bühne geführt. Das ist der Augenblick, in dem die in der Regel schnauzbartgeschmückten Münder der Väter, Brüder, Onkel über dem Rand des Teeglases zur Ruhe kommen, für einen Moment gespannter Andacht.
Dass eine Frau an keinem Tag ihres Lebens schöner ist als am Tag ihrer Hochzeit, daran besteht für Reyhan kein Zweifel. »Sieht schon irre aus«, sagt sie, während sie sich im Fensterglas des Fotoladens zu spiegeln versucht. Der Bräutigam grinst, wie ein Junge grinst, der die Braut auch schon ohne Kleid gesehen hat. Die beiden warten auf ein Auto, das sie zum Festsaal bringt, in wenigen Stunden geht es los. Seyfiali Yilmaz sagt: »Die Rückbank ist reserviert für die Braut, also für das Kleid.« Er raucht. Sie lacht. Seine Hand sucht ihre Hand. Ihre Hand ist allerdings damit beschäftigt, den Stoff des Kleides zu streicheln. Dann kommt das Auto, und als der Bräutigam und ein paar andere Männer versuchen, die Braut in den Wagen zu verfrachten, sieht es aus, als wollten sie einen Wasserfall in einem Koffer verstauen.
»Haben Sie gesehen? Dieses Glück!«, sagt Ali-Riza Özman, dem das Studio gehört. Sein Geschäft, Foto Özman, ist der Ort, an dem das Glück konserviert wird, digitalisiert, auf Einladungskarten gedruckt, auf Leinwand gezogen. Ali-Riza Özman ist seit zwanzig Jahren in Duisburg, seit zehn Jahren an der Weseler Straße, da war die Straße schon die Brautmeile, so stand es in der Zeitung, und so erzählten es die anderen Deutschtürken in Marxloh. Komm doch auch, sagten sie, lohnt sich. Und Özman zog her mit seinem Laden, er ist Teil eines kleinen Wirtschaftswunders geworden, das sich ereignet hat in einem Stadtteil, der mit einem Wunder gar nicht mehr rechnete. Inzwischen steht kein Geschäft mehr leer, wer heiraten will, kommt nach Marxloh, aus Holland und Belgien, sogar aus Frankreich. Samstags herrscht
ein Gedränge wie im Herbst auf der Kirmes. Ali-Riza Özman führt auch Traubonbons
mit Mandeln.
Die Brautmeile? »Wie sagt ihr dazu, wenn alle über was reden?«, fragt Özman, und ein Mitarbeiter an einem der Computer brummt ungefragt die Antwort rüber: Kult. Das Wort lässt Ozman dann so stehen.
Die besten Fotos stellt er ins Schaufenster oder veröffentlicht sie auf seiner Website. Den Männern steht das Glück des Augenblicks nicht so sehr ins Gesicht geschrieben wie den Frauen, die zu den Männern aufschauen, das Verhältnis der Geschlechter zeigt sich auf jedem dieser Bilder. Früher sahen auch Hochzeitsfotos deutscher Paare so aus, Özman findet, dass das anders geworden ist, »sie schauen immer sehr konzentriert, auch in so schönen Momenten«. Kein Vorwurf an die Deutschen. Es ist, wie es ist. Manchmal kommen auch »Grieche, Italiaaner, Nederlands« zu ihm, um sich fotografieren zu lassen. Deutsche praktisch nie.
Die Weseler Straße war verloren, die Türken und die Deutschtürken haben sie gerettet. Eine gute Idee traf eine günstige Gelegenheit. Die Straße lebt jetzt wieder. Sie wird bevölkert von Müttern, Vätern, Töchtern, Söhnen, Kindern, Enkeln, die für eine Hochzeit eingekleidet, frisiert, mit Gold bestäubt, fotografiert werden müssen. »Wenn die Deutschen sagen, wir heiraten, dann kommen die Schwiegereltern, man geht in die Kirche, und das war es«, sagt Alis Kuru. »Bei der türkischen Hochzeit kommen Hunderte. Man trifft sich zu guten und schlechten Zeiten, bei Hochzeiten und Beerdigungen. Trauer und Freude, das ist bei uns ausgeprägter.« Die türkische Großfamilie sorgt dafür, dass die Weseler Straße wieder lebt. Die türkische Großfamilie erregt allerdings Argwohn bei den Deutschen, die inzwischen – freiwillig oder gezwungenermaßen – einen Hang zur Kleinfamilie entwickelt haben, oft besteht sie nur aus einem einzigen Menschen. Das Wunder von der Weseler Straße zeigt, dass Türken mehr können als Kebab. Es beweist gleichzeitig, dass sie oft ganz gern unter sich bleiben. Auf der Weseler Straße beschwört man den Zauber der Heirat. Das Verhängnis der Zwangsheirat ist ein Thema, das jeder lieber überhört.
»Zwangsheirat?«, fragt Ali-Reza Özman, dessen Deutsch brüchiger wird, wenn die Stimmung danach ist.
Die Weseler Straße sei die romantischste Straße Europas, heißt es. Ein Reklamespruch. Marxloh ist längst eine Region geworden, deren Vorzüge von kreativen Werbern ins Licht gestellt werden. Es gelten, auch in Marxloh, die Gesetze der Mediengesellschaft, Regel eins: Nichts geschieht einfach so. Aber einer wie Alis Kuru spricht nicht von
Romantik, er sagt, dass der Konkurrenzkampf natürlich härter geworden ist, jetzt, wo es so viele Geschäfte gibt. »Man muss knapp kalkulieren, um – sag ich mal – am Markt was wegzuziehen.«
Die Fassaden der Geschäfte an der Weseler Straße sind manchmal schäbig, die Namen auf den Leuchttafeln sind immer strahlend. Duett Brautmoden, Prestij-Festmoden, Elizi & Poem, Sultans Mode, der Apostroph ist natürlich falsch, dafür hat er die Form eines roten Herzens. Zwischen den Modeläden: Handyshops und die Sport-Laola-Spielhalle, aus der einer der wenigen Deutschen kommt an diesem Tag. Er taumelt, in der Hand hält er ein Flaschenbier der Marke Landfürst.
Die Weseler Straße war dabei, als das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas war vor einem Jahr. Die A40 wurde für ein paar Stunden stillgelegt. Der Ruhrschnellweg wurde zu einem Ort der Begegnung. Die Marxloher schickten hundert Bräute zu diesem Happening, eine Marketingaktion für den Stadtteil und die Weseler Straße. Und sogar für ein bisschen mehr. Weil in der Eile keine hundert türkischen Bräute aufzutreiben waren, wurden auch deutsche Bräute ins Team aufgenommen.
Die Weseler Straße ist vielleicht ein Wunder, auf jeden Fall ist sie ein Weg. Sie stellt eine Verbindung her. Das ist das Wesen von Straßen.
Fotos: Thomas Rabsch, Pascal Amos Rest/Agentur Focus