Ein Sommerhäuschen auf Öland, rot, im Garten hohe Eichen, dahinter die Ostsee. Die Schriftstellerin Lena Andersson, 45, sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Breite Gürtelschnalle, breites Kreuz, eine tiefe Falte zwischen den Augen. Lena Andersson ist präzise, das kann auch mal sperrig wirken. Mehrmals erwähnt sie das Wort Widerstand. Sie spricht es langsam aus, ihr gefällt der Klang: Widerstand. Gegen ihn schreibt die schwedische Autorin an, gegen ihn lebt und liebt sie. Wie ihre Protagonistin Ester.
SZ-Magazin: Was ist das Schlimmste am Liebeskummer?
Lena Andersson: Dass das Gefühl so stark ist wie Hunger. Den kann man auch nicht ignorieren.
Sie haben einen Roman geschrieben über eine junge Frau, Ester, die sich in den Künstler Hugo Rask verliebt. Er ist nicht ernsthaft interessiert, er ist unaufmerksam, ruft nicht zurück. Aber Ester deutet jedes seiner Zeichen als positiv und hofft 219 Seiten lang, dass sie zusammenkommen. Hat sie sich in ihrer Logik verfangen?
Das ist nicht nur Esters Logik. So wie Ester denken viele Frauen und Männer, nur sprechen sie kaum darüber. Niemand möchte sich so benehmen, das scheint jeder hinter sich zu haben. Ein 16-jähriges Mädchen, das mein Buch gelesen hat, behauptete: Oh ja, so war ich, als ich zwölf war. Und dann begegnete ich einer 70-jährigen Frau, die mir sagte, sie durchlebe gerade Esters Situation. Wenn man Pech hat, holt es einen immer wieder ein.
Der erste Satz lautet: »Ester Nilsson hieß ein Mensch.« Ist es unwichtig, ob Ester Frau oder Mann ist?
Ester beginnt eine Beziehung mit einem Mann, weil sie heterosexuell ist, sucht aber die Begegnung mit einem Menschen. Dabei wird sie auf eine Art gezwungen, Frau zu werden, weil Hugo sie als solche behandelt. Nach dem Motto: Liebesbeziehungen mit Frauen machen nur Ärger.
Sie beschäftigt sich monatelang nur mit der Frage, ob Hugo Rask sie will oder nicht. Was ist das für ein Zustand – Liebeswahn?
Eigentlich sieht Ester die Dinge sehr klar. Sie ist rational, nur unter falschen Prämissen. Denn Hugo hat einen anderen Blick auf die Situation. Er hat Angst vor ihrer Beharrlichkeit, und das macht Ester noch hartnäckiger.
Aber sie ignoriert die Realität: Sie findet ein Bahnticket und sieht, dass er sie angelogen hat und bei seiner Freundin war. Aus seiner Lüge schließt sie, dass ihm die Fernbeziehung nicht wichtig sei.
Ja, ein Fehler, der ihr passiert, weil sie ihrer eigenen Logik folgt: Sie denkt, in der Liebe haben alle die gleichen Moral. Ester würde nie einen anderen Mann neben Hugo haben und kann sich nicht vorstellen, dass Hugo so sein kann. Das erscheint ihr unlogisch. Deshalb findet sie eine andere Erklärung.
Einmal geht sie um den Block, um ihm eine zweite Chance zu geben, sie aufzuhalten. Sie schreibt SMS, ruft an, vergebens. Warum muss sie sich so sehr demütigen?
Ester findet nicht, dass sie sich demütigt. Für sie ist es eine noble Sache zu lieben, ehrlich zu sein, offen mit den eigenen Gefühlen umzugehen. Und hat sie nicht recht? Vielleicht haben wir so große Angst davor, gedemütigt zu werden, dass wir zu schnell zurückweichen, zu wenig wagen? Ester ist in einem Zustand, in dem sie nur eines will: Hugo Rask.
Warum geraten Menschen in solche Zustände?
Warum? Das interessiert mich nicht. Ich schreibe nur über das Desaster der Kommunikation, das es nach sich zieht. Über die psychologischen Mechanismen, die einsetzen und einen vollkommen verschlingen, sodass man keinen Ausweg mehr sieht und alles andere egal wird.
Aber müssten sich nicht gerade Verliebte besonders gut verstehen?
Absolut. Aber Hugo ist unnahbar, er will nicht mit Ester kommunizieren, weil das Intimität bedeuten würde. Intimität schafft nur Probleme. Das ist sein Horror. Eigentlich habe ich eine Horrorstory geschrieben.
Er kommuniziert doch mit Ester: Am Anfang treffen sie sich häufig, reden, essen und verbringen drei Nächte miteinander.
Sie haben ähnliche Interessen, ja, aber er spielt mit ihr. Er denkt, sie ist wie er. Unbeschwert, leicht. Er lässt sie nicht an sich ran, lässt sie aber auch nicht gehen. In dem Moment, wo sie sich zurückzieht, taucht er wieder auf. Er besitzt nicht einmal die Freundlichkeit, offen zu sein, sondern sagt, er werde über sie beide nachdenken, was er natürlich nie macht. Das ist kriminell!
Sie haben Ihren Roman Widerrechtliche Inbesitznahme genannt. Wer nimmt hier wen widerrechtlich in Besitz?
Man kann ihn auf beide Figuren beziehen. Im schwedischen Gesetz bedeutet »widerrechtliche Inbesitznahme«, dass man ein Fahrrad klaut, zwei Kilometer fährt und es dann ins Gebüsch wirft. Hugo macht genau das: Er benutzt Ester und meldet sich dann nicht mehr.
Aber Ester versucht mehr als ein Jahr lang, Hugo Rask für sich einzunehmen.
Sie denkt, sie hat ein Recht, zu erfahren, wie er empfindet, weil sie intim miteinander waren. In Esters Welt schließt man damit automatisch einen Vertrag.
Ester fordert eine Kultur der Ehre und meint: »Je tiefer und nackter eine Zusammenkunft, umso tiefer die Verpflichtung.« Sind Liebende einander verpflichtet? Oder füreinander verantwortlich?
Weder noch. Sie sind für ihr Verhalten verantwortlich. Mit ihrer Forderung geht Ester hier zu weit. Aber ich stimme mit ihr überein, dass es diesen natürlichen Vertrag gibt, der mit dem Sex geschlossen wird. Ich meine verbindlichen Sex zwischen Menschen, die sich öfter sehen.
Aber Hugo Rask war nie verbindlich. Und Ester verliert sich in realitätsfernen Deutungen. Als Leser möchte man sie schütteln und anschreien, damit sie begreift, dass der Mann sie nicht will.
Ich muss Ester verteidigen. Ich finde, nach drei Nächten hat sie das moralische Recht auf eine Erklärung. Aber die bleibt aus. Und dann wird sie sehr fordernd, weil sie verliebt und verzweifelt ist. In diesem Zustand ist eine Stunde wie eine Woche. Also ist es ziemlich viel verlangt, dass sie sich mal beruhigen soll.
Verliert so ein Vertrag irgendwann seine Gültigkeit?
Das kann man diskutieren: Ab wann kann man etwas von jemandem erwarten? Ab wann nicht mehr? Ich weiß es nicht. Was würden Sie sagen? Ab wann hat man das Recht dazu?
Ich glaube, dass das Recht erst eine Rolle spielt, wenn sich die Liebenden nicht mehr in der gleichen Gefühlswelt bewegen. Ester ist in Hugo verliebt, bevor sie ihn überhaupt trifft.
Ja, sie bereitet einen Vortrag über ihn vor und ist entflammt. Sie mag seine Arbeit, schätzt seine Werte. Und Hugo ist ein Narzisst. Narzissten sind sehr charmant. Über Bill Clinton wurde mal geschrieben, wenn man sich in einem Raum mit ihm aufhalte, habe man das Gefühl, man sei der einzige Mensch auf Erden, der ihm etwas bedeute. Ich denke, Hugo Rask ist wie Bill Clinton.
Einmal schreiben Sie: »Sie interessierten sich beide nicht sonderlich für Ester, aber sie interessierten sich beide sehr für Hugo.«
Das Einzige, was ihm wichtig ist, ist ihre Wertschätzung.
Warum können wir so schwer aushalten, jemandem zuzusehen, der sich in seiner Logik verfängt?
Weil wir hilflos sind. Deshalb lasse ich den Freundinnenchor auftreten, den ja jeder von uns hat: Freundinnen, die Ratschläge erteilen und versuchen, Mut zu machen oder abzuraten. Dieser Chor ist das Korrektiv. Er lässt die Leser aufatmen, die Esters Verhalten nicht mehr ertragen.
Als Ester Hugo ein halbes Jahr nicht gesehen hat, sagt der Freundinnenchor: »Gib auf, geh, verlass diesen Mann. Er ist nicht gut für dich.« Sie hört nicht auf den Chor.
Ester ist in einem klaustrophobischen Zustand, aus dem sie nicht heraus kann. Dabei will sie Hugo nicht mehr. Sie möchte nur noch verstehen, was passiert ist, um sich von ihm lösen zu können. Dass sie das nicht schafft, daran ist Hugo mitschuldig.
Hätte er sie befreien können?
Ja, er hätte sagen können: Schau, ich habe ein anderes System, ein anderes Verständnis unserer Situation. Er hätte ihr helfen können, indem er aufrichtig ist, damit sie sich selbst helfen kann. Aber er ist feige.
Ist diese Liebeslogik, der Ester folgt, typisch weiblich?
Klingt verlockend, aber nein. Logik ist Logik. Viele männliche Leser haben sich in Ester wiedererkannt. Ester hätte genauso gut ein Mann sein können. Jeder kann sich in diesem Mechanismus verstricken. Die Frage ist, ob Frauen das schneller passiert als Männern. Aber das glaube ich auch nicht. Ich will es nicht glauben. Es ist das psychische Dilemma derer, die verlieren.
Was bedeutet Logik im Zusammenhang mit Liebe?
Ester benutzt die Logik, um Zeichen zu interpretieren: Ist Hugo mit mir oder nicht? Dafür nimmt sie den Freundinnenchor zur Hilfe. Als Philosophin ist sie es gewohnt, logisch zu denken und zu argumentieren. Sie ist ein rationaler Mensch.
Rationalität schließt das Zweckmäßige ein. Rationale Menschen handeln zielgerichtet.
Und Liebe hat nichts mit Rationalität zu tun. Sie steht außerhalb der Rationalität. Es gibt doch dieses deutsche Wort Vernunftehe? Wenn man Rationalität und Liebe verkuppelt, kommt eine Vernunftehe heraus. Liebe hingegen ist reines Gefühl, dem Ester nachgeht – ihrer Logik folgend.
Im Kern aber ist Liebe nicht logisch?
Nein, Vernunft und Logik sind nicht wirklich Teil der Liebe. Sie strebt nach dem Vergnügen und ist unberechenbar. In ihrem Bemühen um Liebe geht es Ester miserabel. Logisch ist nur das System, innerhalb dessen Ester versucht, Hugos Verhalten zu deuten.
Auch ein Fehler: dass sie ihre Logik nie hinterfragt.
Stimmt. Ester bleibt klar und lässt sich nicht dazu hinreißen, romantisch zu werden. Aber darin liegt, glaube ich, der Reiz dieses Buches: die unromantische Annäherung an ein romantisches Thema, die Liebe. Das verblüfft die Menschen. Es beschämt sie, weil die Gefühle präzise analysiert und nackt daliegen und Ester sie so nüchtern behandelt, als wäre sie ein Ingenieur.
Logik ist tot, sagt der norwegische Schriftsteller Jostein Gaarder.
Das ist wahr, aber Gaarder ist voreingenommen, er mag keine logischen Menschen. Ich finde Logik wundervoll. Wie Ester betrachte ich Dinge nicht gern als Geheimnisse, ich mag Analysen und Erklärungen.
Ester deutet jeden Blick von Hugo, jede Geste, jedes Wort, jedes Luftholen – keiner meiner Freunde hat mir jemals so präzise von einer Frau erzählt, in die er verliebt war.
Ich habe auch noch nie einen Mann getroffen, der verliebt ist und sich wie Ester verhält. Das mag daran liegen, dass ich vor allem mit Frauen befreundet bin. Aber es gibt sicher literarische Figuren, die …Was ist mit den Leiden des jungen Werther?
Werthers Liebe wird erwidert.
So sollte es eigentlich sein. Aber warum leidet er dann?
Weil seine Lotte mit Albert verlobt ist, den sie auch heiratet.
Ach ja. Das ist ein anderes Leiden. Ich glaube jedenfalls nicht, dass Hugo Rask in Esters Situation geraten könnte. Er gehört zu den Narzissten, die uns diktieren, wie die Welt läuft. Niemals würde ein Mann wie Hugo so viel investieren wie Ester.
Also ist es eine Frage des Selbstbewusstseins, die bestimmt, wie viel man bereit ist zu investieren?
Ja, auch. Allerdings ist Ester sehr selbstbewusst: Warum denkt sie, dass sie das Recht hat, diese Liebe weiterzuverfolgen? Warum nimmt sie sich nicht zurück? Eine Person, die nichts von sich hält, würde es niemals weiter versuchen. Sie weiß, sie ist etwas wert, während Hugos Selbstbewusstsein stark von der Meinung anderer abhängt.
Ester ist autark, unbeirrbar und hartnäckig. Die Leute von Elitepartner würden ihr sicher abraten, das ins Profil zu schreiben.
Viele Menschen nehmen an, das sei unattraktiv, ja. Man hört diese Geschichten über Männer, die angeblich Angst haben vor starken Frauen. Deshalb denkt Esther auch, sie müsse nur geduldig sein mit Hugo. Aber ich wehre mich gegen die geschlechtliche Zuordnung von Verhalten. Das macht uns unfrei. Wie wir reagieren, hängt damit zusammen, welchen Charakter wir haben, welches Temperament, in welcher Situation wir sind.
Während Ester auf Zeichen von Hugo wartet, kann sie nicht schreiben, denn Schreiben, heißt es, sei für sie keine Flucht. Ein Andersson-Satz?
Der Satz ist autobiografisch. Schreiben ist nie eine Flucht, sondern immer Widerstand. Ich muss mich jedes Mal zwingen, gegen ihn anzuarbeiten. Mein Schreiben kann deshalb auch nicht therapeutisch sein.
Sie sagen, dass Ester Ihnen nahe ist. Dass Sie auch mal die waren, die zu viele Mails und SMS geschrieben und auf Anrufe gewartet hat.
Ihre Gefühle sind mir vertraut. Aber das ist ein Roman, nicht meine Geschichte. Ich habe mich auch schon ein paar Mal wie Hugo gefühlt. Diese Schuldgefühle, die auf einem lasten, wenn man nicht das erfüllen kann, was der andere erwartet.
Ester trainiert für den Stockholmer Marathon. Auch eine Parallele zwischen Ihnen beiden: Sie sind früher professionell Ski gefahren, Langlauf. Welche Rolle spielt der Sport?
In gewisser Weise behandelt Ester alle Dinge gleich, nämlich zielorientiert. Auch diese Liebe, die für sie ein Problem ist, das gelöst werden muss. Auf die gleiche Art hat sie Philosophie studiert und ihre akademische Karriere angepackt. Sie bleibt fokussiert. Da sind wir uns ähnlich.
Behandeln Sie die Liebe auch wie ein Ingenieur?
Ich bin sehr klar mit meinen Gefühlen. Es gibt kein Dazwischen. Ich glaube, die Menschen verkomplizieren zu sehr – und messen dem Sex eine solche Bedeutung bei! Sex ist nicht kompliziert und nicht so düster, wie ihn viele Schriftsteller beschreiben. Für mich ist er einfach ein Teil von Intimität, und die bedeutet, ganz bei sich selbst zu sein.
Bei sich selbst?
Ja. Ich kann einen Freund treffen und mich drei Stunden unterhalten. Und dann will ich nach Hause, um für mich zu sein. Bin ich mit der Person zusammen, die ich liebe, habe ich nicht das Bedürfnis. Ich kann auch in ihrer Gegenwart ganz bei mir selbst sein.
Illustration: Margherita Urbani und Andy Rementer, Foto: Thron Ullberg