Im Mai 1960 trat eine Heldin in mein Leben, die ich sofort ins Herz schloss und der ich bis heute treu geblieben bin: Pippi Langstrumpf. Zu meinem achten Geburtstag bekam ich das erste Buch über sie geschenkt - und war hin und weg. So ein Mädchen wollte ich sein. Wild, stark, großzügig, ohne Angst, unabhängig, selbstbewusst und frei. Die Bücher haben mich mein ganzes Leben begleitet und tun es noch. Und natürlich habe ich mit dem Pippi-Virus auch schon zwei weitere Generationen infiziert.
Erst als ich erwachsen war, wollte ich erfahren, wer mit diesen wunderbaren Geschichten mein Herz und meinen Verstand berührt hatte. Inzwischen war ich Redakteurin beim ZDF-Kinderfernsehen und die Filme nach Geschichten von Astrid Lindgren gehörten zu unseren größten Erfolgen. Pippi, Lotta aus der Krachmacherstraße und Ronja Räubertochter waren mir die wichtigsten Figuren - unerschrockene Mädchen allesamt. (Wobei ich meine Liebe zum frechen Michel aus Lönneberga nicht verhehlen möchte).
Susanne Müller, 66, ist nicht nur die Mutter zweier Töchter, sondern auch der ZDF-Kinder-Nachrichtensendung Logo. Sie leitete die Kinder- und Jugendredaktion des ZDF und war Leiterin der Hauptredaktionen Neue Medien sowie Spielfilm. Seit ihrer Pensionierung ist sie Vorsitzende des Kuratoriums der Aktion Mensch e.V.
Und tatsächlich hatte ich das große Glück, Astrid Lindgren persönlich kennenlernen zu dürfen, 1987, kurz nach ihrem 80. Geburtstag. Lindgren war für eine ZDF-Aufzeichnung zu Gast auf dem Mainzer Lerchenberg, und bei der Gelegenheit hielt sie im Studio auch eine Lesung für Kinder. Es war kurios: Sie saß in so einem alten Oma-Sessel, und einerseits passte sie in dieses Bild hinein, weil sie ja eine alte Frau war. Andererseits schien sie in diesem Sessel irgendwie Fehl am Platz, weil sie so vor Energie sprühte. Ich erinnere mich an die lebendigen, glitzernden Augen, die das Kind noch erahnen ließen, das sie einmal war und das sie in ihren Büchern verewigt hat, und ich war beeindruckt von ihrem hellwachen Geist, ihrem Humor und Witz.
Es war so schön: Diese Frau, die meine Kindheits-Vorbilder geschaffen hatte, wurde in dem Moment selbst zu einem Vorbild für mich. Als Mensch und als Frau. So wie sie schon vielen Generationen von Mädchen vor mir Mut gemacht und den Weg gewiesen hatte, vor allem in Skandinavien und in Deutschland. Vielleicht hat sie sogar unsere Gesellschaft mehr verändert, als wir es ahnen?
Heute vor 40 Jahren wurde Astrid Lindgren mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet - als erste Kinderbuchautorin überhaupt. Sie nutzte die Preisverleihung in der Paulskirche für einen flammenden Appell zur friedlichen Kindererziehung. »Niemals Gewalt!« war der Titel ihrer Dankesrede. Sie sei jedem zur Lektüre empfohlen, denn sie ist heute so aktuell wie damals. Astrid Lindgren hatte zwei Weltkriege erlebt. 1978 war der Weltfrieden durchaus in Gefahr - und sie war der Meinung, dass nur Kinder, die gewaltfrei erzogen worden sind, zum Frieden beitragen können. Wie wahr!
Ihre eigene Kindheit in ihrer Familie mit den drei Geschwistern sei schön gewesen, hat Lindgren einmal gesagt: »Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist - Geborgenheit und Freiheit.«
Und offensichtlich hat diese Kindheit sie auch stark und selbstbewusst gemacht: mit 18 wurde sie Volontärin bei einer Tageszeitung - und bald von ihrem Chef schwanger. Den hat sie aber - Skandal! - nicht geheiratet, sondern wollte für sich und ihr Kind selbst sorgen. So entschieden war sie Zeit ihres Lebens. Sie war immer berufstätig. Sie setzte sich für Frauenrechte, für Kinderrechte, für den Tierschutz ein. Sie unterstützte die Gegner der Rassentrennung in den USA. Sie engagierte sich in einem Verein für würdiges Sterben. Sie hatte immer eine Haltung - etwas, was uns heute manchmal fehlt. Sie war auch bereit, Entscheidungen zu revidieren. So hatte sie zum Beispiel entschieden, dass sie nie Schriftstellerin werden wollte und hat dann doch - was für ein Glück - in einem Anflug von Langeweile wegen eines verstauchten Fußes ihr erstes Buch geschrieben. Eben Pippi Langstrumpf. Diese Pippi (ein bisschen war sie für mich immer das Ebenbild von Astrid Lindgren selbst) war so unerhört, dass sich Kritiker, Pädagogen und Eltern echauffierten: dieses Mädchen, das so gar nicht zum Frauenbild der Nachkriegszeit passte, schade den Kindern. In Deutschland erhielt Astrid Lindgren von vier Verlagen eine Absage, ehe sie eine Heimat für Pippi fand.
Frauen und junge Familien in Deutschland schauen heute noch neidisch nach Schweden, weil man dort beim Thema gerechte Aufteilung der Kindererziehung und Familienarbeit in großer Selbstverständlichkeit viel weiter ist. Ich bin sicher, dass Astrid Lindgren als Role Model und mit ihren Büchern dazu beigetragen hat.
Von ihr haben wir auch gelernt, dass Mädchen genau so stark und selbstbewusst sein können wie ihre Väter - denken wir nur an Pippi Ephraimstochter oder an Ronja Räubertochter. Wer weiß - vielleicht war die Änderung der schwedischen Verfassung, die die weibliche Thronfolge möglich machte, auch nur wegen Astrid Lindgren möglich?
Sie ließ sich für ihre Geschichten von ihrer eigenen Kindheit inspirieren. Sie hatte große Empathie und konnte sich in die Kinder hineinfühlen. Deshalb wurden ihre Geschichten so erfolgreich. Und deshalb sind sie so universell wie zeitlos. Ich bin damit aufgewachsen und habe so vieles darin gefunden, was mir bei der Menschwerdung Orientierung gab. Meine Töchter haben es genauso erfahren; ich habe immer versucht, sie mithilfe der Lindgren'schen Prinzipien Geborgenheit und Freiheit auf das Leben vorzubereiten. Ich glaube bis heute daran: Nur mit dem Gefühl von Rückhalt und Vertrauen kann man mit Mut hinaus in die Welt gehen.