»Ich habe einen romantischen Blick«

Folter im Internat, Freundschaft mit Ulrike Meinhof, Grabenkämpfe im deutschen Feuilleton: Der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer hat ein bewegtes Leben hinter sich. Ein Resümee.

Sein Lebensmotto stammt von Albert Camus: »Kein Volk kann außerhalb der Schönheit leben.« Seit 40 Jahren streitet Karl Heinz Bohrer für Stil, Eleganz und Pathos und gilt heute vielen als klügste Stimme der konservativen Intelligenz. Nach seinen Jahren als Literaturchef der FAZ lehrte er an Universitäten und wurde 1984 Herausgeber der Zeitschrift Merkur, dem angesehensten Periodikum deutschen Geisteslebens. Mit seiner autobiografischen Erzählung »Granatsplitter« (Hanser Verlag) debütiert er jetzt als Belletrist.

Foto: Spencer Murphy

SZ-Magazin: Herr Bohrer, warum debütiert ein Professor für Literaturwissenschaft mit achtzig Jahren als Literat?
Karl Heinz Bohrer: Meine Knabenzeit in Krieg und Internat kam mir auf einmal sehr exotisch und abenteuerlich vor. Diese Epoche wollte ich bewahren.

Ihre Großmutter setzte sich mit einem grauen Überkleid in die Badewanne, weil sie es für sündig hielt, den eigenen Körper zu betrachten. Ihr Großvater trug morgens eine Ledermaske, um seinen Bart zu festigen.
Meine Großmutter war eine für immer fromme Frau, die jeden Morgen ganz in Schwarz in die Frühmesse ging. Meine Mutter war das glatte Gegenteil: ein mondänes junges Weib im Nerz mit blutrotem Lippenstift, das von einer Filmkarriere träumte, seit eine Freundin ihr gesagt hatte, sie sehe aus wie Greta Garbo. Als mein Vater sie kennenlernte, war sie 16 und Verkäuferin in einem großen Warenhaus. Drei Jahre später kam ich zur Welt. Mein Vater war zwar völlig unversnobt, kam aber aus einer wohlgebildeten bürgerlichen Familie. Diese Ehe konnte nicht funktionieren und wurde dann auch bald geschieden.

Sie kamen 1943 ins legendenumwobene Internat Birklehof in Hinterzarten, das elf Jahre zuvor als Schwesterschule von Schloss Salem gegründet wurde. Im Birklehof, schreiben Sie, »gehörte es damals zum Bestand feiner Erziehungstradition, dass ältere Schüler jüngere quälen«.
Mitten in der Nacht wurde Sextanern Klebstoff in die Nase geschmiert, oder man schleppte sie in die Duschräume im Keller und setzte sie an einen Stuhl gefesselt unter eine kalte Dusche. Je brutaler diese nächtlichen Folterungen waren, desto mehr entsprachen sie einem snobistischen Härte-Ideal. Das hing zum einen mit der außerordentlich sadistischen Erziehung in der Hitlerjugend zusammen, zum anderen gehörte es zu einer bestimmten Upperclass-Tradition, dass Jungens sich solchen Widerwärtigkeiten lakonisch aussetzten und das durchstanden. Mein ansonsten sehr liberaler Vater hat ja auch nicht einen Finger gerührt, als er davon hörte. Seine Haltung war: Das soll der Junge mal selber klarmachen. Meine resolute Mutter dagegen fuhr in die Schule und räumte mit diesen Quälern auf. Weil sie das Fass aufmachte und einen Skandal auslöste, wurden mehrere Jungens aus bekannten Familien öffentlich zu Ehrenstrafen verurteilt oder von der Schule geschmissen.

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Sie sind in den Siebzigerjahren nach London gezogen. Über englische Internate wird Ähnliches berichtet.
Auf den Elite-Internaten gehörte es zum Ritual, dass ältere Schüler jüngere auspeitschten oder mit dem Stock schlugen. Die einschlägigen psychopathologischen Konsequenzen kann man an der Oberschicht bis heute beobachten. In diesem Land gibt es noch immer das Ideal der stiff upper lip. Es besagt: Sei kein Weichei, denn nur wer Schmerzen erträgt, ohne zur Mami zu laufen, wird ein empire builder. Der berühmte Satz, wonach auf den Sportplätzen von Eaton die zukünftigen Männer des Empire ausgebildet werden, ist charakteristisch für dieses Härte-Ideal.

Der Filmproduzent Peter Berling schreibt in seinen Memoiren: »Mit 14 kam ich ins Internat Birklehof. Zu meinen Stubenkameraden zählte Karl Heinz Bohrer, den alle nur ›Börrie‹ nannten. Er trug eine Löwenmähne und hatte eine große, knollige Nase, aus deren Nüstern sich schwarze Haare kringelten. Mit Stentor-Stimme warf er mit philosophischen Weisheiten von Hegel und Hölderlin um sich.«
Seine Wahrnehmung meiner Erscheinung ist ihm zuzugestehen, aber in einem Punkt irrt er: Von Hölderlin hatte ich noch keine Ahnung.

Ihr bestimmendes Bildungserlebnis hatten Sie als Elfjähriger, als Sie eine Schüleraufführung von Aischylos’ Agamemnon sahen.
Die Aufführung fand im Sommer 1944 statt, wenige Wochen nach dem Attentat auf Hitler. Der Mordgeruch im Haus der Atriden vermischte sich für mich mit den Gemetzeln der Nazis. Ein holländischer Klassenkamerad hatte mir wenige Wochen zuvor unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit erzählt, dass es Lager gäbe, in denen Menschen zu Tode gequält würden. Damals setzte mein lebenslanges Nachdenken über die Tragödie ein.

Zu den Bizarrerien des Birklehofs in der Nachkriegszeit gehörte ein junger Philosophielehrer mit Kinnbart und Holzfällerhemd, der Assistent bei Martin Heidegger war und dessen Buch Holzwege ins Französische übersetzt hatte.
Dieser hoch gescheite und vor Gelächter sprühende Mann meinte, wir müssten das Leben leben lernen. Er erklärte uns nicht nur mit Feuer und Leidenschaft, was Sartres Existentialismus bedeutet, sondern erzählte auch, wie ihn einmal eine junge Pariser Prostituierte in einer Straße am Genital hinter sich hergezogen hatte. Eines Tages lud er einen Mitschüler und mich in seine Wohnung ein, um weiter über Sartre zu reden. Als wir in die unverschlossene Wohnung kamen, saß er mit zwei nackten Frauen im Bett. Unbekleidet wie er war, sprach er über Heidegger und die Schwierigkeiten, ihn ins Französische zu übersetzen. Einige Zeit später verschwand er plötzlich von der Schule. Ich vermute, dass der Direktor ihm aufgrund von Gerüchten untersagt hatte, weiter zu unterrichten. Vor ein paar Jahren habe ich erfahren, dass er als älterer Mann in einer Schilfhütte am Bodensee existiert hat.

In den mit Marmorköpfen griechischer und römischer Denker dekorierten Säulengängen des Birklehofs drehten 13-Jährige an ihren Siegelringen, lasen Balzac auf Französisch, trugen eine große silberne Kette um den Hals, die sie als Jünger des Dichters Stefan George auswies, und begehrten Mädchen, die Feodora hießen. Sie gehörten zu den wenigen, die sich auch für Hockey interessierten.
In Salem führte Sport zu Prestigegewinn, im Birklehof wurde er als geistfern geringgeschätzt. Die Salem-Schüler spielten Hockey im Schulanzug und mit nackten Füßen, um von vorneherein ihre Überlegenheit anzukündigen. Bei einem Turnier kriegten wir die Hucke voll und verloren eins zu fünf, begleitet vom Hohngesang der Zuschauer. Was die Demütigung noch jämmerlicher machte, war ein Zuschauer im blauen Jackett und grauer Hose, der die Gegenseite anfeuerte. Es war Prinz Philip, der Ehemann der englischen Kronprinzessin, der einmal Schüler in Salem gewesen war.

Nach Ihrem Studium der Germanistik und Geschichte wurden Sie Jungredakteur bei der Welt und gingen 1966 zur FAZ. Als Sie dort zwei Jahre später Literaturchef wurden, begannen die dramatischsten Jahre der deutschen Nachkriegskultur.
Es war die Hochzeit marxistischer Literaturdiagnostik, eine großartige Epoche der Theorie. Trotz aller Lächerlichkeiten und Fanatismen war nichts langweilig, nichts banal. Ob Frankfurter Rundschau, Suhrkamp Verlag oder Frankfurter Universität: Überall flammten Hunderte rote Flämmchen. Auch enge Freunde von mir wurden fanatische Marxisten. Es gab damals keinen angesehenen Kulturjournalisten in der Stadt, der nicht an die Weltrevolution glaubte. In meinem Ressort gab es zwei sehr begabte Redakteure, die überzeugt waren, wir stünden kurz davor, einen neuen Staat zu gründen. Daran glaubte ich als Nicht-Utopiker nun überhaupt nicht, aber mit Mirabeau gesagt: So muss man gelebt haben, wenn man wissen will, was Leben ist.

Foto: Spencer Murphy

Was macht ein Literaturchef, wenn die tonangebenden Intellektuellen den Tod der Literatur verkünden?
Ich versuchte mein ungeheures Erschrecken durch intellektuelle Maßnahmen unter Kontrolle zu halten. Um die These vom Tod der Literatur theoretisch zu widerlegen, schrieb ich mein erstes Buch: Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror. Der Begriff »gefährdete Phantasie« war meine Antwort auf den Versuch, die Welt der Imagination im Namen einer neuen Praxis ad acta zu legen. Damals schrieb Theodor Adorno einen Brief an die Herausgeber der FAZ, in dem er fragte, wer ich sei. Das gab mir eine gewisse Sicherheit, dass meine theoretische Abwehr des radikalen Pragmatismus richtig sei.

Sie behaupten, »Achtundsechzig begann mit den Partynächten von 1964, am frühesten in Hamburg«.
Das Zentrum kulturrevolutionärer Stimmung waren die ausschweifenden Intellektuellen-Partys im Hause des Hamburger Lyrikers Peter Rühmkorf, ein Mann von großem Prestige und ein ganz großer Unterhalter. Er war eng befreundet mit dem konkret-Herausgeber Klaus Rainer Röhl und dessen Frau Ulrike Meinhof. Die Partymusik kam von den Beatles und galt als revolutionär. Deshalb erschienen die Songtexte in rührender deutscher Übersetzung in konkret. Das Lied Michelle war das Startsignal, die Institution Ehe aufzukündigen und auf Frauenraub zu gehen.

Sie waren mit Ulrike Meinhof befreundet. Wie verhielt sie sich auf diesen Partys?
Die meiste Zeit war sie in Gespräche vertieft, umgeben von einem Flor aus Ernsthaftigkeit, Melancholie und Konzentration. Aber wenn sie tanzte, tanzte sie wie eine anmutige Frau. Von einer spröden, nur vom Gehirn kontrollierten Intellektuellen konnte keine Rede sein. Sie hatte eine durchaus sinnliche und warmherzige Ausstrahlung und war nicht unattraktiv. Nichtsdestotrotz waren die Unterhaltungen mit ihr frei von allen Anzüglichkeiten, erotischen Zweideutigkeiten und Ungesagtheiten. Mit mir hat sie sich vielleicht auch deshalb so gern unterhalten, weil ich gegenüber dem Marxismus eine so radikal abwertende Haltung hatte und gleichzeitig in ihren Augen so etwas wie ein Revolutionär war. Einmal sagte sie: »Es wäre so schade, wenn du der Revolution verloren gehen würdest.«

Warum hat Ulrike Meinhof die ständigen Bosheiten und Affären ihres Mannes still geduldet?
Ich vermute wegen einer Mischung aus Stolz und Puritanismus. Einerseits war Ulrike keine Frau, die sich an ihrem Mann rächt, indem sie selbst ebenfalls fremdgeht. Andererseits lag in ihrem stoischen Ertragen seiner Affären ein Versuch, ihre Ehe zu retten. Je mehr sie versuchte, Röhls Mätzchen und Allüren zu übersehen, desto stärker hoffte sie als Mutter der beiden gemeinsamen Kinder, dass seine Kaspereien ein Ende nehmen. Dass sie sich darin getäuscht hat, hat sich ja dann herausgestellt.

Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?
Zwei Wochen vor der gewaltsamen Befreiung von Andreas Baader aus einem Berliner Gefängnis hatte ich noch ein langes Gespräch mit ihr. Sie saß auf dem Boden, rauchte unzählige Zigaretten und schien am Ende ihrer Kräfte. Sie appellierte an etwas, das sie »die Notwendigkeit zu handeln« nannte – ohne dass mir klar wurde, was genau sie damit meinte.

Ihre Freundschaft mit Ulrike Meinhof führte bei der FAZ zu einem Eklat.
Der Anlass war ein Artikel in konkret. Unter der Schlagzeile »Dahinter steckt immer ein kluger Kopf« wurde ich als Anarchist und Hintermann der Baader-Meinhof-Aktivitäten im Frankfurter Raum dargestellt. Am nächsten Morgen musste ich dem versammelten Herausgebergremium Rede und Antwort stehen. Erich Welter, der alte Primus der Runde, schob angewidert das konkret-Heft von sich und stellte im preußischen Kasino-Ton nur eine Frage: »Was ist da dran?« Meine Antwort fiel ebenso knapp aus: »Nichts.« Daraufhin liquidierte Welter die Angelegenheit dergestalt, dass er mit der flachen Hand auf den Tisch schlug und sagte: »Das war’s denn, meine Herren! Wir können wieder auseinandergehen.« Zack, aus, kein langes Gerede. Schwieriger war der Nachmittag, als mein Literatur-Seminar an der Universität anstand. Statt zwanzig Studenten saßen da zweihundert, und man begrüßte mich mit leicht beifälligem Klatschen. Einige kommissarhaft auftretende Jünglinge in schwarzen Lederjacken versuchten mich in einer Art Schauprozess vorzuführen: Ich solle hier jetzt endlich mal meine bürgerliche Identität klären! Das wies ich kühl ab und schmiss drei dieser großspurig auftretenden Jakobiner mit dem Satz raus, jetzt würden Texte analysiert.

Viele Linksintellektuelle waren für Sie theoretisch unbeschlagene »Großmäuler, die eigentlich nicht bis drei zählen konnten« und »jeden, der nicht mit von der Partie war, verbal zum Abschuss freigaben«.
Fatal und flächendeckend opportunistisch wurde die Sache erst, als aus diesen ehrgeizigen Typen Hochschulprofessoren wurden, die ihre Seminare nach Gewerkschaftsmuster einrichteten und alle in Reih und Glied mit der gleichen Meinung abrufbar waren. Ich habe den sardonischen Verdacht, dass nicht wenige dieser Leute 35 Jahre vorher Nazis geworden wären. Sollte es stimmen, dass unter den prominenten Progressiven von heute viele potenzielle Nazis stecken, ist das, was sie über die Nazis sagen, ironisch und komisch.

Über die FAZ dieser Jahre sagen Sie: »Man hat inzwischen vergessen, zu welch auratischer Provokation diese Zeitung auf dem Höhepunkt ihrer altrömischen Selbstgewissheit à la ›Mögen sie uns hassen, wenn sie uns nur fürchten‹ imstande war.«
Nehmen Sie eine Gestalt wie den Herausgeber und politischen Kommentator Jürgen Tern. Er schrieb Ende der Sechzigerjahre arrogante, vernichtende Polemiken gegen die heilige Figur Willy Brandt und dessen Ostpolitik und wurde zur Symbolfigur für eine skandalmachende, illiberale, nationalkonservative Politik. Die Macht der Zeitung beruhte auf ihrem Verbund mit der Großindustrie und ihrer Reputation in den Universitäten und großen Akademien. Wenn man in linken Abendgesellschaften war, konnte man sicher sein, dass es eine ausufernde Empörungsphase geben würde. Und wogegen empörte man sich? Immer gegen den letzten Leitartikel in der FAZ und den jüngsten Ausspruch von Franz Josef Strauß. Da beide als faschistoid galten, sonnte man sich im Glanz antifaschistischer Opferbereitschaft. Man hätte glauben können, verfolgte Urchristen hätten sich in einer Katakombe getroffen.


Warum wurden Sie 1973 als Literaturchef gefeuert?
Joachim Fest sollte neuer Herausgeber werden und machte es zur Bedingung, dass sein Freund Marcel Reich-Ranicki meinen Posten bekommt. Dessen am traditionellen Realismus orientierten Literaturvorstellungen lagen Fest sehr viel näher als meine. Ob meine intellektuellen Schrillheiten und politischen Zweideutigkeiten – siehe Baader-Meinhof – eine Rolle spielten, möchte ich nicht kommentieren. Namhafte Leute von Enzensberger bis Habermas protestierten in öffentlichen Telegrammen gegen Reich-Ranicki, aber ich sah, dass er es schaffen würde, die FAZ zu dem Organ des bürgerlichen Buchlesers zu machen. Das habe ich nie gewollt. Kurz bevor ich für die Zeitung nach London ging, habe ich ihm in der großen Konferenz gesagt: »Reich-Ranicki, Sie sind die Rache von Jud Süß am deutschen Bürgertum.« Ich vermute, dass er diesen Satz nicht als Kompliment empfunden hat, obwohl er so gemeint war.

Wie wurde Ihnen Ihre Absetzung beigebracht?
Das war eine dramatische Situation. Ich schrieb am Steinhuder Meer vorahnungslos an meiner Habilitation. Während ich gedankenvoll am Ufer spazieren ging, merkte ich plötzlich, dass ein Mercedes langsam hinter mir herfuhr. Aus dem Wagen stieg der Herausgeber Bruno Dechamps und wirkte sehr irritiert. Ich fragte ihn, was er denn hier treibe. Wolle er Aale angeln? Als er sagte, er wolle mich sprechen, dachte ich: Um Gottes Willen, meine Redaktion hat wieder etwas Linksradikales angerichtet, und jetzt will man mir eine Szene machen wegen meines Führungsstils! Dechamps schlug vor, sich abends in irgendeinem Fischerhuus zu treffen, um mir eine gewisse Angelegenheit zu erläutern. Als ich brüsk ablehnte, sagte er mit süßlicher Stimme und gedehntem Hin und Her, dass die Zeitung meinen Vorschlag, irgendwann mal nach England zu gehen, für einen sehr guten Einfall hielte.

Sie sagen, Ihnen seien Empörungsgesten zuwider, »da sie sich nicht mit der Haltung des Stolzes vertragen«. Ein seltsamer Elitismus.

Wer sich empört, gibt seine Unterlegenheit zu und meint, er könne sie moralisch wettmachen. Ich finde, dass man eine Demütigung nicht noch dadurch öffentlich machen sollte, indem man sie moralisch auszugleichen versucht. Mein Stolz verbietet mir, jede Art von Demütigung zu akzeptieren. Sie können das mit einem soldatischen oder aristokratischen Kodex vergleichen. Auf salbadernde Auslegungen meiner Gefühle habe ich mich ebenfalls nie eingelassen. Wenn so etwas notwendig ist, geht man als Katholik beichten. Ansonsten bekennt man nicht. Der Gestus der Selbsteröffnung ist ja heute gang und gäbe und prägt alle großen Medienereignisse. Die Mehrheit des Publikums ist genau an solchen Intimitäten interessiert. Das alles wird durch das Prinzip des Stolzes verboten.

Vertrauen Sie sich engen Freunden an?
Ich glaube, dass ich sehr gute Ohren für Freunde in psychischer Not habe, aber ich selber habe ein solches Gehör kaum gesucht – obwohl es manchmal vielleicht hilfreich gewesen wäre.

Sind Sie ein einsamer Mensch?
Einsamkeit klingt so pathetisch. Faktisch hat es damit zu tun, dass ich seit 39 Jahren keinen Wohnsitz in Deutschland habe.

Von 1984 bis Anfang dieses Jahres waren Sie Herausgeber und Autor des Merkur und stritten mit polemischem Furor gegen die geistigen Verhältnisse. In einer berühmt gewordenen Serie porträtierten Sie Deutschland unter dem ewigen Kanzler Kohl als vulgäre »Fußgängerzone des Geistes«, in der »die Differenz zwischen Sektvertretern und Staatsvertretern« verloren gegangen sei. Eine Ihrer Diagnosen lautete: »Es gibt eine Misere in Deutschland, die kann man nicht abwählen. Und es gibt ein Unvermögen, das kann kein Bruttosozialprodukt ausgleichen. Dieses Unvermögen ist die Unfähigkeit zu Stilbewusstsein.«
Ein Soziologe würde sagen, dass Verhässlichung und Vulgarisierung nun mal Sachverhalte jeder modernen Massendemokratie seien. Ich dagegen habe einen romantischen Blick, wie Menschen sein sollten, wie Kultur sein sollte. Ästhetik und Politik gehören für mich zusammen. Nehmen Sie die bisslose Harmlosigkeit politischer Karikaturen selbst in besseren Zeitungen, die Einfallslosigkeit der Reklame oder die psychologische Einfalt von Serienfilmen: eine Welt ohne formale Sophistication.

Von Kohl zu Merkel: Sind die Dinge besser oder schlechter geworden?

Das von Kohl Akkumulierte und von Schröder in einer gewissen Banalität Weitergeführte ist bei unserer jetzigen Kanzlerin zur endgültigen Banalfigur Mensch geworden. Frau Merkel ist zweifellos sehr intelligent und besitzt ein anziehendes Lächeln, aber sie hat nicht das geringste Gefühl für kulturelle und psychologische Differenzen in Europa. Ihre Empörung über das frivole Verhalten der Südländer zeigt, dass sie in ihrem kleinbürgerlich-protestantischen Katechismus kein Verständnis für romanische Kulturen hat. Das ist ein Verfall der Kriterien und Distinktionsfähigkeiten. Die Sprache unserer Kanzlerin ist extrem banal und wird von einer Drögigkeit der schieren Faktizität beherrscht, die nur sagen kann: Die Griechen stehlen! Dass die Griechen einen Anspruch darauf haben, eine andere Kultur zu leben, käme ihr nie in den Sinn. Die Kanzlerin glaubt, es wäre etwas Tolles und Großartiges, dass ein Land gut verwaltet wird und gute Geschäfte macht. Aber was ist so großartig daran, viele Autos zu verkaufen?

Jürgen Habermas sagte über Ihre kulturkritischen Diagnosen mal, es sei »doch besser, langweilig zu sein als faschistisch«.
Eine falsche Alternative, aber natürlich hat eine bestimmte Sorte Stillosigkeit auch ihre Vorteile. Statt angemaßtem Stil sind mir echter Schrot und Korn und gewisse Schwerfälligkeiten lieber. Bei diesen exquisiten Abendunterhaltungen mit Engländern und Franzosen sehnt man sich plötzlich danach, mit einem deutschen Schwarzbrot-Intellektuellen ein richtiges deutsches Gespräch zu haben. Das hat äußerlich durchaus Form- und Distanzlosigkeiten, aber es bringt Ehrlichkeiten hervor, die die verkniffenen feinen Engländer weniger zustande bringen – zu deren eigenem Bedauern übrigens. Was mich aufbringt, ist dieses Sich-Gehenlassen im Privaten, das in dem berühmten deutschen Satz zum Ausdruck kommt: Ich fühle mich säuisch wohl!

Reut es Sie, nicht mehr Merkur-Chef zu sein?
Nein, denn meine Lebensliebe ist die Universität. Als Student in Göttingen habe ich die ereignislosen Samstage und Sonntage manchmal kaum ertragen. Wenn Menschen nicht arbeiten und keine Genies sind, werden sie banal. Gegenüber diesem existentiellen Kummer habe ich die Universität als erhabene Existenz empfunden. Es gibt keinen stärkeren Schutz gegen die Banalität des Daseins als theoretisches Denken oder Dichten. Im Hörsaal Studenten zu erklären, was die Kunst an der Kunst ist, war und ist für mich ein Lebenselixier.

Sie waren mit der Schriftstellerin Undine Gruenter verheiratet. Was lernt ein Literaturtheoretiker, wenn er mit einer Literatin zusammenlebt?
Die unausgesprochene Vereinbarung war, dass wir nicht über unsere Arbeit reden. Meine stille Bewunderung galt dem Lakonismus ihrer Wahrnehmung und ihrer Fähigkeit, Sachverhalte brutal zu benennen. Undine hatte eine tiefe Skepsis gegenüber meinen Wissenschaftskollegen. Auch den typischen gedankenvollen, kulturkritischen Aufsatz im Merkur fasste sie wenn überhaupt nur mit spitzen Fingern an. Im Namen von etwas für etwas zu sein, fand sie unerträglich.

Gottfried Benn unterhielt mit Undine Gruenters Mutter eine erotisch eingefärbte Brieffreundschaft. Mit 68 Jahren schrieb er ihr: »Zu Ihrem neulich gesandten Bild: mich stört der Säugling auf Ihrem Arm, sieht so blöd aus.« Der Säugling war Ihre Frau, die in einem Waisenhaus landete.
Bitte vermerken Sie mein Zögern, Ihnen über diese traumatischen Familienverhältnisse Auskunft zu geben. Als Undine geboren wurde, war ihr Vater, der Germanist Rainer Gruenter, Habilitant, die Mutter, Astrid Gehlhoff, schrieb an ihrer Promotion über Gottfried Benn und wollte Schriftstellerin werden – was ihr dann ja auch gelungen ist. Zu den Geldnöten der beiden kam die Schande der unehelichen Geburt, wie das damals hieß. Der Vater konnte seine Tochter nicht annehmen, da er noch mit einer anderen Frau verheiratet war. Das hätte seine Professorenkarriere gefährdet. So ist der Skandalfall zu erklären, dass Undine für eineinhalb Jahre in ein Heim kam. Anschließend lebte sie fünf Jahre bei ihren Großeltern.

Ihre Frau, zwanzig Jahre jünger als Sie, starb mit fünfzig. Nach ihrem Tod erschien ihr Buch Der verschlossene Garten, ein zarter, traurig-schöner Roman über die Liebe und die Zerbrechlichkeit des Glücks. Das Buch soll in einem Wettlauf gegen den Tod entstanden sein.
Meine Frau hatte Amyotrophe Lateralsklerose, eine fortschreitende Lähmung der Muskeln, die nach drei Jahren zum Tod führt. Als Undine dieses Buch erfand, war sie nicht mehr in der Lage zu schreiben. Sie war auch nicht mehr in der Lage, eine Seite umzublättern. Sie hat mir dieses Buch im Jahr ihres Todes ohne jede Unterlage aus dem Kopf diktiert, morgens eine Dreiviertelstunde und nachmittags eine Dreiviertelstunde. Mehr Kraft hatte sie nicht. Wenn sie in die Luft starrend einen Satz sprach, schrieb ich ihn auf. Danach haben wir das Geschriebene gemeinsam korrigiert. Die letzte Überarbeitung endete am 10. August 2002. Am 5. Oktober starb sie. Kurz nach ihrem Tod habe ich das Manuskript auf Tonband gesprochen und die Bänder an den Hanser Verlag geschickt.

Hilft es, eine Koryphäe für Tragödien zu sein, wenn einem eine Tragödie widerfährt?
Ohne jetzt albern auf theoretischen Differenzen zu bestehen: Undines schrecklicher Tod war eine Katastrophe, keine Tragödie im klassischen Definitionssinn. Ich kann es heute im Rückblick gar nicht mehr richtig verstehen, dass die Jahre ihrer Krankheit nicht schrecklich waren. Obwohl wir wussten, dass sie sterben würde, war es eine zum Teil sehr erhebende Zeit – sie konnte ja sprechen.

Ihre Frau saß im Rollstuhl. Haben Sie sie allein versorgt?
Ja, und wir wollen nicht erläutern, was das implizierte. Was mir Jahre nach ihrem Tod das Leben wieder ersehnbar machte, war die Wiederentdeckung der Preußen-Girls. Durch sie entdeckte ich die Welt meiner Jugend wieder.

Wer sind diese Preußen-Girls?
Die Töchter von Charlotte von der Schulenburg, der Witwe des in den 20. Juli verwickelten Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, der am 10. August 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde. Die Mutter unterrichtete seit 1950 im Birklehof und leitete die Theateraufführungen, in denen ich begeistert mitwirkte. Dass zwei ihrer fünf Töchter ebenfalls im Birklehof waren, nahm ich nicht wahr, weil sie viel jünger waren. Das geschah erst zwanzig Jahre später. Heute ist eine von ihnen, Angela, meine Frau.

Karl Heinz Bohrer
Sein Lebensmotto stammt von Albert Camus: »Kein Volk kann außerhalb der Schönheit leben.« Seit 40 Jahren streitet Karl Heinz Bohrer für Stil, Eleganz und Pathos und gilt heute vielen als klügste Stimme der konservativen Intelligenz. Nach seinen Jahren als Literaturchef der FAZ lehrte er an Universitäten und wurde 1984 Herausgeber der Zeitschrift Merkur, dem angesehensten Periodikum deutschen Geisteslebens. Mit seiner autobiografischen Erzählung »Granatsplitter« (Hanser Verlag) debütiert er jetzt als Belletrist.

Fotos: Spencer Murphy