Da steht er endlich vor mir und ich werde gleich albern. Die kalifornische Nachmittagssonne scheint auf das Haus in Santa Cruz, an dem der Fotograf Andy und ich geklingelt haben. Ein recht großer, angenehm aussehender Mann, der eindeutig Jonathan Franzen ist und damit die Person, die ich in meinem Leben am dringendsten treffen wollte, öffnet die Tür. »Hallo, darf ich vorstellen«, sage ich zu dem Mann vor mir und deute auf den bärtigen Fotografen neben mir, »das ist Meredith.« Andy lacht verlegen – und Jonathan Franzen? Er macht zum Glück die Tür nicht wieder zu, sondern guckt kurz irritiert und dann sehr freundlich, dann gibt er mir die Hand. So, als würde er sich überhaupt nicht wundern, aber vielleicht tut er das auch nicht. Schließlich bin ich die Frau, von der er nichts weiß, außer dass sie ihm mal per Luftpost eine Clownsfigur aus dem »Hofbräuhaus« geschickt hat. »Das mit uns ist ja eine lange Geschichte«, sagt Jonathan Franzen, »wie wäre es mit einem Kaffee?«
Als ich 16 war, las ich den Autor Jonathan Franzen zum ersten Mal. Lange bevor 2001 sein erster Besteller Die Korrekturen erschien, schrieb Franzen für den New Yorker. Meine Mutter kommt aus Amerika, darum lag das Magazin regelmäßig bei uns herum. Ich erinnere mich an das große Erstaunen, mit dem ich als Schülerin Franzens Essays und Literaturkritiken las. Man sollte dazu sagen, dass ich zu der Sorte 16-Jähriger gehörte, die auf nichts so sehr wartete, wie dass das Sechzehnsein endlich aufhören möge, die Teenagerwelt fand ich klein und anstrengend. Wenn ich Franzen las, fühlte ich mich in Gesellschaft eines interessanten, kritischen, lustigen Menschen, der mich auf Dinge aufmerksam machte, die wirklich wichtig schienen.
Er schrieb gnadenlos ehrliche Texte darüber, wie sich sein Verhältnis zu seinem übermächtigen Vater änderte, als dieser sterbenskrank wurde, er schrieb beißende Essays über unseren modernen Hang, das Private an die Öffentlichkeit zu tragen und Reportagen über amerikanische Hochsicherheitsgefängnisse. Franzens Blick auf die Dinge passte zu mir. Seine Texte wurden zu meinen Freunden. Ich stellte mir mein Erwachsenenleben voller Menschen vor, mit denen ich so gerne Zeit verbringen würde wie mit ihm. Als ich dann im Sommer nach meinem Abitur Die Korrekturen las, war es endgültig um mich geschehen. Wer in diesen Zeiten mit mir über Bücher reden wollte, musste Franzen kennen.
Die Helden meiner Jugend habe ich meistens bewundert, weil sie etwas besonders gut konnten, was ich auch besonders gut können wollte: nachdenken und schreiben. Es gibt viele andere Autoren, deren Bücher mich erfreuen. Aber kein lebender Schriftsteller löste in mir eine derartige Sehnsucht aus.
Obwohl ich Realität und Fantasie normalerweise gut auseinanderhalten kann und vorher nie auf die Idee gekommen wäre, jemandem Fanpost zu schreiben, beschloss ich vor acht Jahren, Kontakt zu Jonathan Franzen aufzunehmen. In einem Brief versuchte ich, ihm für seine Texte zu danken, ohne aufdringlich zu werden. Ich schrieb: »Ihre Worte haben mir oft Trost gespendet. Ihre Essays zu lesen ist für mich ein Weg, mich an einem wunderschönen und sicheren Ort zu verkriechen und gleichzeitig intellektuell extrem angeregt zu werden.« Im Nachhinein kommt mir das doch recht aufdringlich vor.
Ich fragte ihn, ob er Belletristik oder Non-Fiction für die wichtigere Literatur halte und ob ich ihn auf ein Bier einladen dürfte, wenn er mal nach München käme. Um jedes Risiko zu vermeiden, dass Jonathan Franzen meinen Brief übersehen könnte, legte ich ein Präsent bei: eine etwa 30 Zentimeter hohe Clownsfigur aus Porzellan, grün und pink und mit einem Hofbräuhauskrug in der Hand. Wenn man den Hut des Clowns drückte, fletschte er die Zähne und hob seinen Krug. Das Ding war so hässlich und gleichzeitig so lustig, dass ich sicher war, Franzen würde, zumindest kurz, seinen Spaß daran haben, zumal er während seiner Studienzeit in München gelebt hat.
Es vergingen ein paar Wochen, dann Monate. Vielleicht war der Brief doch zu distanzlos, der Clown zu scheußlich? Eine Weile genierte ich mich vor Jonathan Franzen, ich ging sogar seinen Büchern aus dem Weg. Und dann, als ich überhaupt nicht mehr damit rechnete, kam die Postkarte aus Santa Cruz, Kalifornien. »Vielen Dank für den schönen und eloquenten Brief«, schrieb er, »und für den Clown, der auf jeden Fall etwas Besonderes ist.« Er schrieb, dass für ihn alle Formen der Literatur ihren Wert hätten und vermerkte seine Absenderadresse auf der Karte.
Es hätte der Anfang einer Korrespondenz werden können. Aber plötzlich war ich so beschäftigt: Ich arbeitete viel, studierte viel und war verliebt in jemanden, der ebenfalls gern Jonathan Franzen las, aber auch andere Dinge machen wollte. Immer wenn Franzen für eine Lesung nach München kam, war ich gerade woanders, so konnte ich ihn nicht spontan auf ein Bier einladen. Und dann war zu viel Zeit vergangen, um zu antworten, und irgendwie änderte sich auch etwas. Er fing an, in seiner Freizeit Vögel zu beobachten und schrieb darüber einen Text, den ich nicht sehr aufmerksam las. 2006 veröffentlichte er den autobiografischen Essayband Die Unruhezone. Eine Geschichte von mir, ein Buch, mit dem ich mich überhaupt nicht wohl fühlte. Es war mir viel zu privat und ging mir viel zu oft um seine Ex-Frau und um Vögel.
Ich zog um, drei, vier Mal, alles in meinem Leben änderte sich, ich schmiss die Postkarte in irgendeine Kiste. Und dann war es 2010, ich erwartete mein erstes Kind und Freiheit erschien, endlich, endlich nach fast zehn Jahren sein neuer Roman! Doch obwohl der Roman Sätze von unübertroffener Schönheit und Weisheit enthielt, blieb der Franzen-Effekt auf mich aus. Ich war mir nicht sicher, ob es an ihm lag oder an mir.
Es dauerte also acht Jahre, bis ich wieder an Franzen schrieb, diesmal eine E-Mail: »Vielleicht erinnern Sie sich noch an einen Brief von einer jungen Frau aus Deutschland und an ein komisches Geschenk?« und ob er sich vorstellen könnte, sich mit mir zu treffen. Franzen antwortete, als seien bloß acht Wochen vergangen: »Ich erinnere mich gut und würde Sie gern treffen.«
JONATHAN FRANZEN, Jahrgang 1959, wuchs in einem Vorort der mittelamerikanischen Stadt St. Louis auf, eine Tatsache, die sein Werk stark prägt. Er studierte Germanistik, u. a. in München und Berlin. Nach Deutschland kommt er immer noch gern: um Vögel zu beobachten oder sich mit seinem Schriftstellerkollegen Daniel Kehlmann zu treffen. 1988 veröffentlichte er Die 27ste Stadt, seinen ersten Roman, der Durchbruch gelang ihm aber erst 2001 mit Die Korrekturen, die Zeitschrift The New Yorker setzte ihn auf die Liste der wichtigsten Schriftsteller des 21. Jahrhunderts. Er ist mit der Autorin Kathryn Chetkovich liiert, spielt Tennis, mag American Football und amerikanische Fernsehserien.
Und so stehe ich nun in Jonathan Franzens Küche und frage mich, ob ich meine doofe Begrüßung überhaupt noch vergessen machen kann. Das Haus liegt an einem bewaldeten Hang außerhalb von Santa Cruz, die Sonne scheint direkt auf die Terrasse. Franzen erzählt mir, er sei etwa ein Drittel des Jahres hier in Kalifornien, den Rest des Jahres verbringe er in New York und auf Reisen.
Das Haus ist aufgeräumt und gemütlich, nichts liegt einfach so herum. Anders als in den meisten amerikanischen Häusern hängen keine Fotos an den Wänden, dafür stehen verschiedene Vogelfiguren herum, was sonst. Auf der Küchentheke liegen ein Fernglas und ein Rucksack, er war heute wohl schon Vogelgucken. An einer Wand hängt eine riesiges braunes Objekt, das aussieht wie ein riesiger Butternut-Kürbis. »Ist der echt?«, frage ich. »Das? Nein, das ist ein Hologramm!«, sagt er.
Moment mal, jetzt hat Jonathan Franzen einen Witz gemacht. Ich muss ein bisschen mehr lachen als angemessen, aber das liegt auch an der Erleichterung, weil klar wird, dass Albernheiten hier offenbar in Ordnung gehen. Dann gibt er mir eine kleine Tasse mit Espresso und einen viel zu großen Löffel für den Zucker, wir setzen uns auf die Terrasse, lehnen uns auf den harten Stühlen zurück und schauen in die Nachmittagssonne. Jonathan Franzen möchte wissen, was ich denn von meinem Jugendhelden nun eigentlich erwarte.
Die ganze Situation scheint ihn nicht viel weniger nervös zu machen als mich. Ich sage, dass wir uns einfach unterhalten könnten. »Das freut mich«, sagt er. Ich frage, ob er den Clown eigentlich noch hat. Er hebt entschuldigend die Hände, er sagt, er hätte ihn lange behalten, aber er sei eben eher ein Wegschmeißer: »Und wenn ich ehrlich bin, finde ich Clowns ziemlich unheimlich.«
Die Sache ist die: Wenn eine Frau unter 30 und ein Mann über 50 zum ersten Mal nebeneinander im Garten sitzen und Verehrung im Spiel ist, wird es kompliziert. Auch wenn die Verehrung schon einige Jahre zurückliegt. Es entsteht automatisch eine Hierarchie: hier der große, kluge Mann, da die junge Frau, die zu ihm aufblickt oder aufgeblickt hat. Als ich jünger war, hätte ich damit keine Probleme gehabt, aber jetzt weiß ich, dass erfolgreiche Männer um die 50 nicht deswegen so viel zu sagen haben, weil sie so weise sind, sondern meistens vor allem, weil sie es gewöhnt sind, dass man ihnen zuhört. Vielleicht bin ich zu eitel, aber ganz sicher bin ich zu alt, um mir von Jonathan Franzen die Welt erklären zu lassen.
Allerdings macht Jonathan Franzen keine Anstalten, mir die Welt zu erklären. Wir reden nicht über seine Bücher, oder jedenfalls nur kurz. Auch von all den anderen großen, wichtigen Themen – das Schreiben, das Leben, die Liebe – Themen, von denen ich mir früher gedacht hätte, sie sofort mit ihm besprechen zu müssen, reden wir kaum. Wir unterhalten uns stattdessen über unsere gemeinsame Lieblingsserie Breaking Bad. Seine Lebensgefährtin, die Schriftstellerin Kathryn Chetkovich und er hätten sich gerade innerhalb einer Woche die komplette vierte Staffel angeschaut, sagt er. Und über Mad Men, das er nicht der Rede wert findet.
Wir unterhalten uns so, als würden wir irgendwann schon noch zu den ernsten Themen kommen. Zwischendurch unterbricht er sich, um mir einen Vogel zu zeigen. Wir reden über Twitter und Facebook und warum Narzissmus im Internet so schlimm ist, er guckt mich an und sagt: »Menschen wie wir gehören mit dieser Meinung zur absoluten Minderheit. Manchmal denke ich, vielleicht stimmt mit mir einfach irgendwas nicht«, und späht im nächsten Moment einem Zaunkönig hinterher. »Ich würde sagen, mit den anderen stimmt irgendetwas nicht. Aber leider ändert das nichts«, sage ich. »Ach«, sagt er, »dass es nichts ändert, wenn ich recht habe, daran habe ich mich inzwischen gewöhnt.«
Als er mich zur Tür bringt, und wir uns eigentlich schon verabschiedet haben, beugt sich Jonathan Franzen im letzten Moment zu mir und richtet mir den Jackenkragen, der sich irgendwie in meinem Kleid verfangen hat.
Jonathan Franzen und die amerikanische Öffentlichkeit haben ein kompliziertes Verhältnis. Vor allem mit den Frauen hat er es schwer: Zum Erscheinen von Freiheit beschwerten sich die amerikanischen Autorinnen Jennifer Weiner und Jodi Picoult auf Twitter über das Phänomen, das sie »Franzenfreude« tauften: Franzen und seine Artgenossen, die weißen ernsthaften Männer, würden von der weißen und männlichen Topriege der Literaturkritik stets bevorzugt.
Franzen selbst hat schon so missverständliche wie unliebenswerte Aussagen gemacht, wie: Der Grund für den Niedergang der hohen Literatur sei der traurige Umstand, dass nur noch Frauen lesen und Männer lieber fernsehen würden. Kritikerinnen zerlegten ihn Anfang dieses Jahres für seinen Essay über die amerikanische Jahrhundertwende-Autorin Edith Wharton, in dem er sie als unansehnlich beschrieb.
In Interviews und auch gelegentlich in seinen Texten erscheint Franzen als über alle Maßen selbstreflektierter, möglicherweise menschenfeindlicher Dauergrantler, und damit als zutiefst untypischer Amerikaner. Das stört viele. In seinem Garten in Santa Cruz erscheint er mir als über alle Maßen selbstreflektierter, sehr menschenfreundlicher Gelegenheitsgrantler und wirklich nicht übermäßig amerikanisch.
Irgendwann fragt er: »Und … bin ich jetzt heroisch genug?« Ich sage, dass ich es wirklich sehr angenehm mit ihm finde. »Angenehm, oh nein! Das ist ja immer das Todesurteil!« Wenn es um schlechte Romane und den Zustand der Literaturkritik in den USA geht, redet er sich auf unterhaltsamste Weise in Rage. Wenn ein Vogel in sein Blickfeld kommt, hört er einfach auf zu reden. Er wirkt wie jene seltene Sorte von Mensch, die genug wissen, um interessant zu sein, sich genug ärgern, um unterhaltsam zu sein, und genug lieben, um sympathisch zu sein.
Kurz bevor es Zeit zu gehen ist, fragt er: »Haben Sie heute noch Helden?« Ich frage mich, ob er jetzt gern seinen Namen hören würde, oder ob ihm das so genauso unangenehm wäre wie mir. Ich lese ihn immer noch gern, aber es ist mir zu peinlich, zu sagen, wie sehr. Ich erwähne, dass ich einige Menschen sehr bewundere, Joan Didion zum Beispiel, sie bisher aber nicht persönlich kennengelernt habe, woraufhin Franzen mir mit ein paar Anekdoten zu verstehen gibt, dass ich das auch weiterhin vermeiden sollte. Vielleicht mag der eine Held keine anderen Helden neben sich haben.
Als er mich zur Tür bringt, und wir uns eigentlich schon verabschiedet haben, beugt sich Jonathan Franzen im letzten Moment zu mir und richtet mir den Jackenkragen, der sich irgendwie in meinem Kleid verfangen hat. Man kommt sich so nah sonst nur unter Freunden und die Geste zeigt mir, dass wir uns wirklich gut verstanden haben. Dass es der Held in dieser Situation aber auch nicht einfacher hat als die Heldenbesucherin.
Ich bin nicht wie mein Held geworden, ein 53-jähriger Bestseller-Autor ohne Kinder, der alles über Literatur weiß und sehr viel über Vögel. Ich bin eine Frau mit Kind, die bald 30 wird, inzwischen besitze ich sogar mehrere Vogelführer und nerve meinen Freund mit meinen neuesten Beobachtungen, aber mehr auch nicht. Er ist etwas Besseres, nämlich das, was ich mir schon als Teenager erhofft habe: ein Mensch, mit dem ich wirklich gern meine Zeit verbringe.