Judith Hermann, 51, ist Schriftstellerin und lebt heute »mehr oder weniger an der Küste« – genau wie die Protagonistin ihres aktuellen Romans »Daheim«.
SZ-Magazin: Sie waren 28, als Ihr erster Erzählband Sommerhaus, später erschien – ein gigantischer Erfolg. Hat er Sie zu einem anderen Menschen gemacht?
Judith Hermann: Nein, aber er hat mich sicherlich verändert – wie es mich auch verändert hätte, wenn ich eine Festanstellung beim Deutschlandradio angetreten hätte, was damals Plan B war. Als Sommerhaus, später erschien, war ich eine Kellnerin im Prenzlauer Berg. Danach habe ich gekündigt und war zwei Jahre lang auf Lesereise.
Was für ein Mensch waren Sie damals?
Ich nehme an, ich war den Figuren meiner Erzählungen ziemlich ähnlich, orientierungslos, ernsthaft, idealistisch und übermüdet. Rauchend. Sicher bemüht, irgendwas richtig zu machen, sich dem Leben, das ja vor 25 Jahren durchaus noch auf einen zugekommen ist, zu stellen. Klingt alles pathetisch, vermutlich gehört das auch zu diesen Jahren und dieser Zeit.
Wie sind Sie mit dem plötzlichen Erfolg umgegangen?
Ich glaube, der Erfolg hat mich noch vorsichtiger werden lassen, als ich es ohnehin schon immer gewesen bin. Und mein Leben ist einsamer geworden durch das Schreiben. Und in vieler Hinsicht freier. Autonomer.
Können Sie beschreiben, was sich in den Jahren danach verändert hat?
Das Unangenehme ist der distanzierte Blick auf das Leben, die Frage, ob die Dinge, die ich erlebe, einen Platz in einer Geschichte finden könnten, die zweigeteilte Wahrnehmung, ein secret life. Der Abstand zwischen mir und dem, was um mich herum passiert. Die banaleren Dinge sind einfacher zu benennen: Ich fahre nicht mehr so gerne Bahn wie früher, das Bahnfahren vor Sommerhaus, später war beinahe schon eine Meditation, ein glücklicher Schwebezustand zwischen Abschied und Ankunft. Das Bahnfahren heute ist eine Qual, und die Mysterien der Hauptbahnhöfe haben sich in Luft aufgelöst. Ich habe die Lust am Übernachten in Hotels verloren, ich reise nur noch selten ohne eine Einladung, der Impuls, sich von ganz allein auf den Weg zu machen, ist beinah abgeklungen.
Wären Sie eine gute Journalistin geworden?
Ich weiß es nicht. Der Dozent, den ich am meisten verehrt habe, war der Meinung, ich könne nicht zwischen Journalismus und Literatur unterscheiden, und das, was dabei herauskomme, sei Kitsch. Ihm habe ich zu verdanken, dass ich es gewagt habe, eine Geschichte zu versuchen, statt eine Reportage zu schreiben.
Hatten Sie damals, als Kellnerin, eine Art von Traum, wie Sie später, also heute, leben wollen?
Ich fürchte, ich hatte tatsächlich die etwas naive Vorstellung eines Lebens mit einem künstlerischen Beruf, wobei mir vor allem die Abwesenheit jeglicher Verpflichtung wichtig war. Ich wollte eine große Familie, ein Haus auf dem Land, finanziell halbwegs sichere Verhältnisse, sehr viel freien Raum für jedwede Entscheidung. Auf eine Weise hat sich das erfüllt. Auf eine andere Weise hat es aber einen Preis gehabt, von dem ich damals nicht die geringste Ahnung hatte: ein in gewisser Weise asoziales Leben, viel Rückzug, ein zwanghaftes Bedürfnis, allein zu sein, der Platz des Beobachters, der einsam ist und isoliert.
Die Menschen in Sommerhaus, später hören viel Musik. Was für Musik haben Sie mit 28 gehört, welche hören Sie heute?
Eine Zeitlang hat Musik exzessiv zu meinem Leben gehört, es gab keinen Weg ohne Musik. Dann hat das unmerklich aufgehört, und ich habe jahrelang keine Musik mehr gehört. Die Diskrepanz zwischen der Sehnsucht, die Musik auslöst, und den abgeschlossen scheinenden Verhältnissen war zu groß. Aber seit Corona fahre ich Auto, und mit dem Autofahren ist die Musik zu mir zurückgekehrt – es gibt wenig glücklichere Momente, als alleine im Auto zu sitzen und Musik zu hören, die mich aus den Verhältnissen holt. Cat Power zum Beispiel. Nina Simone. Raz Ohara – damals schon, heute immer noch.
Wären Sie gern weniger zögerlich?
Ich war immer ein vorsichtiger Mensch, die Vorsicht wird naturgemäß nicht weniger, sie nimmt eher zu. Auf der anderen Seite gibt es mehr Gelassenheit, viel häufiger eine Lust, die Dinge laufen zu lassen, die Kontrolle abzugeben. Ich weiß nicht, ob ich mich wirklich lockermache, aber mir fällt ab und zu ein, dass ich’s tun könnte.