SZ-Magazin: Frau Funke, sind Sie Mitglied einer Bande?
Cornelia Funke: Nein. Ich würde nie in eine Bande gehen. Mir ist es suspekt, wenn man seine Freundschaften ritualisiert. Trotzdem sehe ich diese Sehnsucht bei Kindern genauso wie bei Erwachsenen mit ihren Clubs und Vereinigungen. Es scheint ein großer Trieb zu sein, sich eine kleine Welt zu bauen, die verlässliche menschliche Beziehungen hat, in der man sich aufgehoben und zu Hause fühlt.
Wie funktioniert die kleine Welt der Bande?
Eine Bande ist etwas, was sich ganz bewusst gegründet hat. In der Bande bekennen sich alle zu bestimmten Regeln und haben meist ein bestimmtes Ziel. Darin unterscheidet sie sich von einer Freundschaft, die kein Regelwerk braucht.
Ist das Prinzip Bande männlich?
Ja. Wobei ich mich frage, ob das die richtige Wahrnehmung ist. Ich glaube, dass Frauen in der Vergangenheit sogar selbstverständlicher Gruppen gebildet haben als Männer – um auf Kinder aufzupassen, um so etwas wie Heimat und Zuhause zu erschaffen. Die aggressiveren Gruppen, die rausgehen, um bestimmte Ziele zu verfolgen, sind oft männlich.
Warum tauchen in Ihren Geschichten immer wieder Banden auf?
Ich glaube nicht an Einzelhelden. Ich habe in meinen Büchern immer Gruppen und Freundeskreise, weil ich selber so lebe und mich durch meine Freunde definiere. Manchmal gebe ich ihnen die Form einer Bande wie in Herr der Diebe und in den Wilden Hühnern.
Die Mädchen in Die Wilden Hühner gründen eine Bande nach dem Vorbild der Pygmäen, einer Jungsbande …
Das stimmt nicht ganz. Sie gründen eine Bande nach dem Vorbild einer Bande, die eben meistens männlich ist in der Literatur. Aber ihr Bandenalltag ist sehr mädchenorientiert.
Warum nehmen Mädchen das Bandentum selten mit ins Erwachsenenalter?
Ich fürchte, Frauen geben ihre Solidarität allzu schnell für Männer auf. Frauen nehmen die romantische Liebe zu wichtig. Die Verbindung mit einem Mann wird immer noch so zum Lebensinhalt gemacht, dass durch sie die Beziehungen zu Frauen korrumpiert werden. Wir kennen alle das Phänomen: Beste Freundinnen, Mann erscheint, große Liebe, Liebe sticht beste Freundin. Bei Männern ist es eher umgekehrt: Große Liebe sticht selten besten Freund. Natürlich ist das so unwahr wie alle Verallgemeinerungen, aber etwas Wahrheit steckt wohl drin.
Aber es gibt ja durchaus Frauen, die Freundschaften und Netzwerke pflegen …
Ja, ich glaube sogar, dass Frauen Freundschaften oft besser und engagierter pflegen. Schließlich reden wir leichter miteinander über Gefühle und Probleme, als Männer das tun. Und ich kenne natürlich auch Frauen, die fantastisch und dabei uneigennütziger Netzwerke knüpfen als Männer. Viele Wohltätigkeitsorganisationen und kulturelle Vereinigungen wären nicht denkbar ohne einflussreiche Frauen.
Über die Mädchenbande Die Wilden Hühner schreiben Sie: »Sie waren plötzlich Freundinnen geworden. Richtige Freudinnen«. Was bindet die Mitglieder einer männlichen Bande?
Der Leitwolf. Autorität spielt eine große Rolle in Männerbanden und Männernetzwerken.
Die Anführerin der wilden Hühner, Sprotte, ist viel allein. Sie hat eine raue Stimme und macht sich nichts aus Mädchenkram.
Was ja durchaus Anführerqualitäten sind! Der Anführer will sich nicht unbedingt verbrüdern oder verschwestern.
Es sind Qualitäten, die auch als männlich gelten.
Ja, aber sie gehören zum Yin und Yang in uns. Warum definieren wir denn Führerqualitäten und Stärke als männlich? Wir alle wissen, dass Frauen diese Qualitäten haben können – warum werden die als männlich bezeichnet? Diese Eigenschaften sind nicht unbedingt männlich, sie werden uns von der Gesellschaft nur so vermittelt.
Die Bande benutzt Codewörter, Erkennungszeichen und hat einen Schwur, bei dem die Mädchen Spuckefinger aneinanderreiben. Woher kamen die Ideen zum Bandenalltag?
Ich verarbeite meine Ideen möglichst unbewusst und versuche beim Schreiben nicht zu merken, was ich tue. In den Wilden Hühnern stecken Erinnerungen an meine Kindheit und meine Zeit auf dem Bauspielplatz Tegelsbarg in Hamburg, wo ich als Sozialarbeiterin gearbeitet habe. Manche Kinder habe ich unverändert in meine Bücher übernommen, andere habe ich erfunden. Die Anführerin Sprotte ist sicherlich am deutlichsten an mich angelehnt. Ich habe früher in unserer Straße die Kinder furchtbar rumkommandiert. Aber ich wäre unfähig gewesen, in einer Bande zu sein. Ich war ein Einzelgänger. Das hat sich geändert.
Warum sind Sie keine Einzelgängerin mehr?
Ich habe vor sieben Jahren meinen Mann verloren. Wenn man allein ist, dann füllt man das Leben natürlich anders mit Freunden, als wenn man in einer Beziehung ist. Ich war verheiratet mit einem Mann, mit dem ich 24 Stunden rund um die Uhr verbracht habe. Wir haben alles zusammen gemacht. So schmerzhaft der Verlust war – er hat mich gezwungen, mein Leben zu öffnen und die Hilfe anderer anzunehmen. Dass man nicht alles alleine schafft, war eine der wichtigsten Lektionen, die ich gelernt habe. Heute kann ich mir gar nicht vorstellen, ohne meine engen Freunde zu leben. Ich erlebe das als bereichernd, weil jeder dieser Menschen mir einen anderen Aspekt an mir klarmacht und mich als Mensch wachsen lässt.
Gilt das auch für Ihre Figuren? Werden die erst rund durch den Blick anderer auf sie?
Ja. Jeder große Mensch, ob Künstler, Politiker oder Wissenschaftler, erzählt einem von den Einflüssen, die andere auf sein Leben genommen haben. Ihre Arbeit würde sonst fruchtlos bleiben. Das Klischee des einsam kreierenden Genies ist einfach nicht wahr.
Was haben Kinderbanden und Männerbünde gemeinsam?
Die Absicht, mehr Einfluss zu gewinnen: Tue ich mich mit einem Stärkeren zusammen, auch wenn der mich rumkommandiert, habe ich meinen Vorteil davon. Die beste Beschreibung, die je von einer Kinderbande gemacht wurde, ist Der Krieg der Knöpfe, ein französisches Kinderbuch von Louis Pergaud. Da wird gezeigt, wie sehr sich Kinder- und Erwachsenenbanden ähneln und wie schnell sie gewalttätig werden können. Sie spielen durch, was sie im Erwachsenenalter können müssen. Als würden Welpen miteinander spielen und kämpfen, damit sie später das Töten gut beherrschen.
Gilt das auch für Mädchenbanden?
Auch Mädchen spielen die Muster nach, die sie um sich herum beobachten. Und wir alle wissen, dass Mädchen selten Frauen in ihrem Leben sehen, die unabhängig sind, die beruflich erfolgreich sind, die die Familie ernähren – auch wenn es immer mehr werden. So kommt es, dass das einzige Mädchen in der Bande von Herr der Diebe automatisch die Mutterrolle übernimmt. Das ist die Rolle, die die Jungs von dem Mädchen erwarten. Die wollen nicht, dass es einen weiteren Jungen spielt, sondern sie wollen das, was als weiblich definiert wird: das Umsorgen.
Könnte man diese Geschlechtermuster nicht gerade in der Fiktion aufbrechen?
Nein. Wenn die Welt schon fantastisch ist, dann wirkt sie mächtiger, wenn die Figuren so realistisch wie möglich sind. Ich stelle die Beziehungen so dar, wie sie im wirklichen Leben sind.
Banden können die Heldenhaftigkeit von Menschen auf wesentlich anrührendere Weise zeigen als ein einzelner Held.
Cornelia Funke wurde 2003 mit »Tintenherz« weltberühmt, hatte aber vorher bereits die Mädchenbandenbücher über »Die Wilden Hühner« und erste Fantasy-Romane wie »Drachenreiter« und »Herr der Diebe« geschrieben. Die gebürtige Westfälin lebt in Los Angeles. Weltweit liegt die Auflage ihrer Bücher bei mehr als 20 Millionen.
Warum kann kein zweites Mädchen in der Diebesbande leben?
Ja, was würde passieren? Würden sich die beiden Mädchen in denselben Jungen verlieben und konkurrieren? Nein, ich glaube, heute würde ich mehr Mädchen vorkommen lassen, weil ich mehr über Frauenfreundschaften weiß. Ich glaube, dass wir Frauen uns des Wertes unserer Freundschaft zurzeit sehr bewusst sind – da müssen wir nur an Serien wie Sex and the city denken. Natürlich gilt das für die Bedeutung von Freundschaft generell – angesichts vieler Familien, die zerbrechen.
Warum ist die Bande in Herr der Diebe keine reine Jungsbande wie die Pygmäen in Die Wilden Hühner?
Ich gebe zu, dass ich mich hoffnungslos langweile, wenn ich nur über Frauen schreibe. Oder nur über Männer. Deshalb habe ich die Bande in Herr der Diebe gemischt, aber nicht gut, das haben mir übrigens auch viele Leserinnen vorgeworfen. Sie schrieben, dass sie das Buch lieben würden, aber warum nur ein Mädchen? Also habe ich ihnen versprochen: Das nächste Buch hat eine weibliche Heldin. Das war dann Meggie in Tintenherz.
Kann die Bande den Helden ersetzen?
Ja. Ich finde, Banden können die Heldenhaftigkeit von Menschen auf wesentlich anrührendere Weise zeigen als ein einzelner Held. Bei ihm wissen wir alle, wie schnell das gefährlich für ihn werden kann und wie schnell wir ihn überfordern mit unseren Erwartungen, ihn verklären. Wenn etwas Heldenhaftes durch eine Gemeinschaft vollbracht wird, kann das sehr beeindruckend sein, weil die Menschen einander ergänzen und größer machen.
Oder auch kleiner.
Auch das. Sie können sich auch entsetzlicher machen, wie wir alle aus unser Geschichte wissen. Deswegen haben ja auch Deutsche so eine Panik vor Gemeinschaft: weil wir erlebt haben, wohin das führen kann. Die Amerikaner haben in der Hinsicht ein ungebrochenes Selbstverständnis, während wir aufgrund unser Faschismus-Erfahrung ein ganz anderes Bild von Gemeinschaft haben.
Haben Sie es mal mit Banden zu tun bekommen?
Nein. Ich habe gesehen, wie Männer zusammenarbeiten, und mir manchmal gedacht: oh mein Gott. Denn gerade im Filmgeschäft sind die Strukturen sehr machtorientiert und hierarchisch. Frauen, die darin bestehen wollen, müssen ihren eigenen Weg finden – was ein Vorteil sein kann. Ich bin mit einigen erfolgreichen Frauen befreundet, die Familie und Karriere auf beeindruckende Weise verbinden.
Mit wem sind Sie auf diese Weise befreundet?
Zum Beispiel mit einer norwegisch-englischen Ärztin. Wir haben gerade ein Auffanglager für misshandelte Kinder gegründet. Die Freundschaft hat sich während unserer Zusammenarbeit entwickelt. Aber natürlich wissen wir inzwischen über unsere Familien Bescheid und haben kein Problem zuzugeben, wo in unserem Leben etwas falsch gelaufen ist, was wir gern noch erreichen würden und wo wir verletzt wurden … Frauen wissen meiner Meinung nach, dass sie durch so einen Austausch stärker werden.
Tauschen Sie sich auch mit J. K. Rowling aus?
Nein. Ich kenne sie nicht persönlich. Ich war mal auf einer Lesung, die sie im Kodak Theatre gehalten hat. Natürlich würde ich gern mit ihr über das Schreiben sprechen, wie es ist, als Geschichtenerzähler in dieser Zeit zu arbeiten. Aber es ist nicht so, dass ich J. K. Rowling lieber treffen möchte als die Autoren Philip Pullman und Neil Gaiman, und ich hatte das Glück, sie beide schon zu treffen.
In ihrer aktuellen Kinderbuch-Reihe Reckless setzen Sie sich mit den Grimm’schen Märchen auseinander, die Sie, wie Sie sagten, als antifeministisch wahrgenommen haben.
Antifeministisch? Wenn das irgendwo steht: Ich habe es nicht gesagt. Antifeministisch ist ein gefährliches Wort, weil man die Grimms auch aus ihrer Zeit heraus begreifen muss. Die Grimms haben Dinge geschrieben, die wir heute so interpretieren.
Also waren die Frauenfiguren nicht der Anlass, die Märchenmotive zu verfremden?
Doch. Als Frau finde ich es natürlich sehr interessant, mir die Märchen daraufhin anzusehen. Es war eine meiner wichtigsten Erfahrungen, während meiner Arbeit an Reckless festzustellen, dass bürgerliche Ideale ein bestimmtes Frauenbild mit sich bringen. Spannend ist auch, dass das Frauenbild im Mittelalter teilweise rebellischer und undogmatischer war. Wir denken, dass es über die Jahre immer besser geworden ist. Ich fürchte, das ist nicht so.
Ihre Feenkönigin Potilla lassen Sie sagen: »Der Zauber, den ich wirke, braucht Stille. Er ist zu mächtig für Worte.« Sind weibliche Helden stiller als männliche?
Ich glaube nicht. Stille hat eine große Qualität. Das ist meine Sehnsucht nach der Wortlosigkeit, weil ich den ganzen Tag in Wörtern ertrinke. Deshalb fasziniert es mich, wenn mal keine Wörter benutzt werden.
Foto: Jonas Jungblut/Labyrinth Kindermueseum Berlin
Illustration: Luke Pearson