SZ-Magazin: Herr Leonard, Sie sind 85 Jahre alt, aber die New York Times nennt Sie immer noch den Hipster der Kriminalliteratur. Wie kann das sein?
Elmore Leonard: Ach, wenn die Presse einen Namen gut findet, dann reitet sie ihn zu Tode. »Dickens of Detroit« nennt man mich auch, nur wegen der Alliteration.
Manche nennen Sie auch einfach den besten Krimischriftsteller der Welt.
Als ob es einen Wettbewerb zwischen uns geben würde. Den gibt es nicht. Alles Blödsinn.
Sie beherrschen die Marktgesetze für Krimis jedenfalls gut genug, um zu erklären, wie man Krimis schreibt.
Über die meisten Kollegen auf der Bestsellerliste kann ich mich überhaupt nicht äußern. Ich habe viele nicht gelesen, sie sind nicht gut. Oder sie sind mir zu ernst. Oder sie schreiben ihre Bücher gar nicht selbst, so wie Tom Clancy, oder zumindest nicht allein, so wie James Patterson. Die stecken Millionen ein, während irgendein armer Co-Autor mit 25 000 Dollar abgespeist wird. Was geht bloß in den Verlegern vor? Ich könnte niemals einen anderen die Arbeit in meinem Namen erledigen lassen.
Ihre Ideen sind immer noch gut genug, dass Ihre Bücher viel mehr junge Leser erreichen als Clancy oder Patterson – deswegen nennt man Sie Hipster.
Vielleicht stimmt das ja. Aber man sagt auch, besonders junge Menschen würden viel weniger lesen heutzutage.
Der Regisseur Quentin Tarantino soll als Teenager eines Ihrer Bücher im Supermarkt geklaut haben. Stimmt die Geschichte?
Ja, seine Eltern haben ihn dabei erwischt und dafür bestraft. Das hat er mir erzählt, als wir uns später kennenlernten. Tarantino hat ja mein Buch Rum Punch verfilmt. Sein Film hieß dann Jackie Brown.
Ihre Romane gelten – wie einige Filme von Tarantino – als »Gesellschaftskomödien mit Action«. Ist das ein Geheimnis eines erfolgreichen Krimis?
Ich habe trotzdem ganz gern Waffen in meinen Geschichten – für alle Fälle. Selbst in Touch kam eine Waffe vor. Darin heilt jemand Alkoholiker durch Handauflegen. Ich tue mich wirklich schwer, Ihnen einen Rezept für Krimis an die Hand zu geben. Ich kann ja selbst kaum beschreiben, was ich da treibe.
Was steht am Anfang eines Krimis – die Idee zur Handlung?
Nicht wirklich. Der Plot entwickelt sich während des Schreibens. Ich weiß nie, wie ein Buch ausgeht, wenn ich es beginne. Ich mache keine Gliederung. Auf den ersten 100 Seiten versammle ich meine Figuren, ich sortiere sie in gute und böse. Auf den zweiten 100 Seiten beginnen verschiedene Nebenhandlungen, vielleicht stößt auch noch eine Nebenfigur dazu, oft noch namenlos. Erst auf den letzten 100 Seiten denke ich über das Ende nach.
Ihre Figuren erzählen Ihnen, was passieren soll?
So in etwa. Ich lasse meine Figuren jedenfalls nicht Dinge tun, die sie nicht tun wollen oder tun würden.
Und die Charaktere entstehen immer zuerst?
Sagen wir, ich sehe das Foto eines weiblichen Marshalls vor einem Gefängnis in Miami. Die Frau trägt Uniform, sie stemmt eine Schrotflinte in die Hüfte, sieht sehr gut aus – ich wusste gleich, ja, das ist meine nächste Figur.
Karen Sisco aus Out of Sight, die später in der Verfilmung von Jennifer Lopez gespielt wurde?
Genau. Dann stelle ich mir vor: Karen Sisco steht zufällig vor dem Gefängnis, als jemand durch ein Loch im Zaun flüchtet: Foley, der zu 30 Jahren verurteilt wurde, aber das niemals absitzen könnte. Sein Komplize wartet im Auto auf ihn, aber Karen Sisco versucht Foley mit der Waffe aufzuhalten. Er überwältigt sie, schmeißt sie in den Kofferraum des Fluchtwagens, springt hinterher, das Auto braust mit beiden im Kofferraum davon. Sie beginnen sich zu unterhalten, über alles Mögliche, Filme, das Leben, acht Seiten lang.
Der Beginn von Out of Sight ist einer der lustigsten Anfänge der Kriminalliteratur.
Es machte mir auch viel Spaß, die Szene zu schreiben. Alle beteiligten Drehbuchautoren standen vor dem Problem, wie sie die Szene drehen sollten, im Kofferraum war es ja dunkel. Einer kam also auf die Idee, den Bildschirm während der ganzen Unterhaltung schwarz zu lassen. Ich schlug irgendwann vor, sie sollten einfach eine Taschenlampe im Kofferraum deponieren.
In Deutschland erscheint gerade die Fortsetzung Ihres Romans um die Figur Jack Foley. Das erste Buch wurde verfilmt, mit George Clooney in der Hauptrolle. Dachten Sie beim Schreiben des zweiten Teils, dass Clooney wieder die Hauptfigur Jack Foley im Film spielt?
Natürlich, aber Clooney hat schon abgesagt. Nicht schon wieder einen Bankräuber, meinte er. Er hat das Buch nicht mal gelesen.
Das Foto, das Sie auf die Idee zum ersten Foley-Buch brachte, haben Sie in einer Zeitung gefunden?
Nein, das hat mein Recherche-Assistent gefunden.
Arbeitet Ihr Assistent noch für andere Schriftsteller?
Nein, nur für mich, Vollzeit, seit 30 Jahren. Er weiß, was ich will oder wonach ich suche. Das Foto ließ er allerdings ein paar Jahre bei sich rumliegen, bevor er es mir irgendwann einmal schickte. Er lebt in Los Angeles, er reist für mich, spricht mit den Leuten und erledigt die Internetrecherche. Ich rufe ihn an, wenn ich eine Frage habe.
Sie schreiben mit Ihrem alten Montblanc-Füller?
Inzwischen ist es ein Filzstift. Damit zu schreiben ist viel praktischer als mit dem Computer oder der Schreibmaschine. Ich kritzele ja permanent im Manuskript rum, streiche durch, überarbeite alles ständig. Ich brauche sicher drei Seiten, um am Ende eine zu bekommen, die mich zufriedenstellt.
»Ohne Schreiben würde ich mich zu Tode langweilen«
Liegt darin vielleicht das Geheimnis eines erfolgreichen Krimischriftstellers: Bloß nicht das Haus verlassen, der gleiche Tagesablauf seit 30 Jahren? Sie rauchen sogar noch.
Ich habe mein ganzes Leben lang geraucht, seit ich bei der Marine war im Zweiten Weltkrieg. Einmal habe ich für einen Monat aufgehört. Da habe ich nur 30 Seiten zu Papier gebracht. Als ich mir wieder eine ansteckte, waren es im Monat drauf wieder 100 Seiten. Ich rauche ja nicht ständig, manchmal wartet die Zigarette nur qualmend auf dem Aschenbecherrand, bis sie ausgeht. Ich rauche vielleicht 15 am Tag, höchstens, und es sind leichte Mädchen-Zigaretten.
Darum sind Sie wohl nie nach Kalifornien gezogen. Man hätte Sie als starken Raucher gar nicht reingelassen.
Los Angeles hat mir nie gefallen, zu überfüllt. Ich mag Detroit. Meine Frau auch. Drei meiner fünf Kinder leben hier und die meisten Enkelkinder.
Ist die Verbrechensrate in Detroit immer noch so hoch?
In den Siebzigern galt Detroit mit 700 Mordfällen im Jahr als »Mord-Metropole«. Inzwischen sind es etwa 400, was aber auch daran liegt, dass 700 000 Leute die Stadt verlassen haben. Detroit ist also nicht sicherer geworden. In meiner Nachbarschaft wohnen allerdings nur die ganzen Konzernspitzen der Autoindustrie.
Sitzen Sie immer noch fünf Tage die Woche acht Stunden lang am Schreibtisch?
Eher sieben Tage, wenn ich gerade mittendrin in einem neuen Buch stecke. Samstags und sonntags versuche ich etwas kürzerzutreten. Es macht mir einfach immer noch sehr viel Spaß, auch wenn ich langsamer schreibe.
Haben Sie Ihren Stil im Laufe der Jahre nie verändert?
Nein, aber er hat sich entwickelt. Ich schrieb zuerst ja einige Western-Bücher. Da habe ich noch Adverbien benutzt. Erst allmählich habe ich meinen Stil gefunden und begonnen, mich als allwissenden Erzähler zurückzunehmen, immer eher aus der Perspektive meiner Hauptfiguren zu erzählen, habe meine Regeln gefunden.
Wie lauten Ihre Regeln?
1. Ein Buch niemals mit der Schilderung des Wetters beginnen. Zu langweilig.
2. Prologe und Vorgeschichten vermeiden. Die nerven auch, besonders wenn der Prolog auf eine Einleitung folgt, die nach dem Vorwort steht.
3. Niemals ein anderes Verb außer »sagte« bei Dialogen verwenden, denn der Satz gehört der Figur; das Verb ist der Autor, der sich einmischt. Das Verb »sagte« ist weit weniger aufdringlich als grollte, keuchte, warnte, log. »Postulierte« habe ich auch schon gelesen, die Bedeutung musste ich erst im Lexikon nachschlagen.
Ich sage: Bitte weiter.
4. Niemals das Verb »sagte« mit einem Adverb schmücken wie »laut« oder »leise«. Die Verwendung von Adverbien ist eine Todsünde. Der Autor drängt sich in den Vordergrund, wenn er ein Wort verwendet, das den Leser ablenkt und das den Rhythmus des Dialogs unterbricht.
5. Auf Ausrufezeichen achten. In Prosa sind nicht mehr als zwei oder drei alle 100 000 Worte erlaubt, wenn man nicht Tom Wolfe heißt.
6. Dialekte und Mundart sparsam einsetzen. Sonst müllt man die Seite mit Apostrophen zu und kann nicht mehr aufhören.
7. Detaillierte Figurenbeschreibungen vermeiden. Wie sehen »der Amerikaner und das Mädchen« in Ernest Hemingways Kurzgeschichte Hügel wie weiße Elefanten aus? »Sie hatte ihren Hut abgenommen und ihn auf den Tisch gelegt.« Das ist das Einzige, was annähernd einer Beschreibung gleichkommt, und trotzdem sehen wir das Pärchen vor uns und erkennen sie an ihren Stimmen, ohne ein einziges Adverb weit und breit. Hemingway liebe ich übrigens. So wollte ich immer schreiben. Bis ich merkte, er hatte keinen Humor.
8. Keine aufwändigen Beschreibungen von Szenen oder Gegenständen. Das fällt vielen schwer, da sie so in ihre Formulierungen verliebt sind.
Unsichtbar zu bleiben – macht das den guten Schriftsteller aus?
Die Leser nicht durch das Schriftstellersein von der Story abzulenken. Ein Romanautor kann viele Formulierungen verwenden, die ihm geläufig sind, aber wozu sollte er? Ich versuche mich auf die Stimmen der Figuren zu konzentrieren, die mir sagen, wer sie sind und was sie von dem halten, was sie sehen und was gerade passiert. Ich bin in meinem Büchern nirgends zu sehen.
Finden Sie Ihre Mitmenschen langweiliger als Ihre Figuren?
Wahrscheinlich. Aber ich höre den Menschen heute wenigstens zu. Vor 40, 50 Jahren habe ich noch jede Pause genutzt, um meine Sicht der Dinge darzulegen.
Der Durchbruch als erfolgreicher Schriftsteller gelang Ihnen erst spät, mit Ende 50, und erst nachdem Sie mit dem Trinken aufgehört hatten.
Die Kritiken waren vorher auch schon gut. 1984 beachtete mich die New York Times plötzlich. Danach hängten sich viele Kritiker an. Nach 30 Jahren als Autor kam ich nun nicht gerade aus dem Nichts.
Tarantino machte Sie 1997 schließlich weltberühmt, als er Jackie Brown verfilmte.
Ja, in der Presse hieß es, endlich kapiert mal jemand Elmore Leonard. Die Schauspieler würden endlich so reden wie in der Vorlage. Wenn Tarantino nicht immer so lange brauchen würde für seine Filme, hätte er vielleicht schon mehr von mir gedreht.
Von Ihren mittlerweile 45 Büchern verfilmte Hollywood an die 20. Die wenigsten Filme gefielen Ihnen, heißt es.
Natürlich ist man als Autor eines Buchs sehr selten zufrieden mit der Verfilmung. Die meisten Drehbücher werden schon mal gar nicht realisiert: Dustin Hoffman etwa hat ein Jahr lang mit mir telefoniert, wir haben uns mehrmals wegen La Brava getroffen, viel gestritten, er war unmöglich, alles ergebnislos. Oder aber die schönsten Sätze werden rausgeschnitten: In Atlantic City sagt Burt Lancasters Figur, ein alternder Gangster: »Du hättest das Meer mal früher sehen sollen.« Die Studiobosse haben nicht begriffen, was ich damit sagen wollte.
Hollywood hat Sie reich gemacht, aber meist enttäuscht?
Nein, Hollywood hat mir das Schreiben meiner Bücher ermöglicht. Außerdem liebe ich Filme, ich habe ja lange genug selbst Drehbücher geschrieben. Ich gehöre sogar zu den 8000 Drehbuchautoren der Oscar-Jury.
Welchen Film werden Sie im Februar als besten wählen?
Vielleicht The Kids are All Right, in dem zwei lesbische Frauen Kinder haben. Für mich war das Drehbuchschreiben nie so befriedigend, wie ein richtiges Buch zu schreiben. Ein Drehbuch schreibt man immer für jemand anderen, ein Buch nur für sich selbst.
Denken Sie beim Schreiben nicht an einen guten Freund?
Nein, ich möchte mir selbst gefallen, und ich weiß am besten, wenn ich etwas gut finde oder lachen muss. Ich glaube, das ist bei allen Künstlern so.
Werden Sie weiterschreiben, bis Sie tot umfallen?
Ohne schreiben würde ich mich zu Tode langweilen.