Der Tag, an dem die Erde stillstand

Unser Autor hat mit 28 Jahren eine Tochter bekommen. Und jetzt ein mit 50. Über das Vaterwerden – früher und heute.


Der Fliegergriff sitzt noch. Und im Fernsehen rebellieren wieder die Menschen. Wie damals, vor 22 Jahren, als ich mit meiner ersten Tochter, wenn sie nicht einschlafen konnte, im Wohnzimmer Kreise lief und ihr die Welt erklärte. Damals waren es in einem einzigen Jahr die Chinesen, die Rumänen und die Ostdeutschen, jetzt sind es die Tunesier, die Ägypter, die Jemeniten, die Libyer und die Iraner. Das wird jetzt so weitergehen, erzähle ich meiner zweiten Tochter, die gerade zwölf Wochen alt geworden ist, so wie ich ihr in der Hoffnung, dass sie vom Singsang meiner Stimme einschläft, alles Mögliche erzähle.

In keinem der Bücher über frühkindliche Entwicklung (die ich auch jetzt wieder gelesen habe) wird damit gedroht, dass sie sich später daran erinnern wird. Sonst würde sie mich sicher eines Tages zur Verantwortung ziehen wollen. Mich, der ich dann ein noch älterer Sack als jetzt schon wäre und deswegen noch wehrloser als heute, denn auch das hat sich nicht geändert: Sobald mich ein Kind ansieht, erlischt in mir jeder Widerstand. Noch eine Runde mit Papa-Gelaber? Aber gern. Alles, was du willst …

Fanny ist mein drittes Kind. Die beiden ersten sind jetzt 22 und 20. Stella studiert BWL, Janosch gehört zu den letzten, die Zivildienst absolvieren. Wahrscheinlich hätte sich das auch abbiegen lassen, aber er fand, es täte ihm gut, sich um Behinderte zu kümmern. Und obwohl nie etwas gegen BWL und Behinderte gesprochen hat, kann ich mich nicht daran erinnern, dass sich beides irgendwann einmal angedeutet hätte.

Meistgelesen diese Woche:

Wollte sie nicht gerade noch auf gar keinen Fall an die Uni, er dringend zum Fernsehen? Es war eine der allerersten Lehren, die mir von Kindern beigebracht worden waren: Man kann sie nicht ausrechnen, man hat keine Ahnung, wo sie landen werden. Dennoch erzähle ich Fanny ständig, dass aus ihr eine Maschinenbauerin, Biochemikerin, Physikerin werden wird. Alle Eltern bilden sich ein, sie könnten ihre Kinder durch guten Willen schutzimpfen. Meine Schutzimpfung soll sie gegen das Bravsein, Liebsein, Nettsein immunisieren. Ich finde, es kann nicht schaden, ihr zuzuflüstern, dass es für sie auch ein paar andere Bahnen gäbe als die für Frauen vorgesehenen. Vielleicht irren sich die Gedächtnisforscher ja doch.

Vor 22 Jahren hat man sich noch nicht ständig den Kopf darüber zerbrochen, was aus Babys werden soll, wenn sie einmal groß sind. Jetzt machen sich alle darüber Gedanken. Als Fanny acht Wochen war, haben wir mit der Suche nach einem Kita-Platz begonnen, viel zu spät, wie wir bemerkten, als bei den Besichtigungsterminen auch Frauen herumstanden, die ihren Geburtstermin fünf Monate nach dem unserem hatten (während mich das schlechte Gewissen plagte, sie so bald weggeben zu wollen).

Zwischen den Matratzenlagern für den Mittagsschlaf und den Collagen mit den Familienfotos gegen das Heimweh: lauter Eltern wie wir, die für ihre geborenen und ungeborenen Kinder nur das Beste wollten. Gibt es bei Ihnen auch Computerkurse, fragte eine Frau, die im Juni fällig war, und das war nur ein einziger Punkt auf ihrer vier Seiten langen Checkliste. Bei einem anderen Besichtigungstermin erzählte uns eine leicht verzweifelte Kita-Leiterin, wie häufig sie mit elterlichen Forderungen nach Spanisch- und Französisch-Unterricht traktiert wurde. Für Zwei- und Dreijährige.

Warum, fragte ich. Weil sie Angst haben, sagte die Kita-Leiterin. Und dann bekam ich auch Angst, schließlich wird sie in zwei Jahren schon zwei, und vielleicht wird Fanny dann schon ins Hintertreffen geraten sein, weil wir unseren Kuschelpädagogikidealen anhängen, statt uns um ihre Synapsen zu kümmern.

Als Fanny zehn Wochen alt war, erschienen in den USA Amy Chuas »Bekenntnisse einer Tigermutter«, in denen sie unter anderem schildert, wie sie einer ihrer Töchter mit Liebesentzug und Drohungen ein Klavierstück einbläute. Es dauerte bloß ein paar Tage, bis die dazugehörige Debatte auch hierzulande ausbrach. Wenn es um Disziplin geht, gibt es bei den Deutschen kein Halten mehr. Soll man schon von Kindern Höchstleistungen verlangen oder sie ihrem natürlichen Schlendrian überlassen, selbst wenn der in den Abstieg führt? Ist es nicht eine höhere Form der Liebe, wenn eine Mutter ihrem Kind die Liebe aus pädagogischen Gründen verweigert?

Mich erinnerte das alles an die Kindheitserzählungen meiner Frau, über die lange, ehe sie selbst etwas dazu sagen konnte, beschlossen worden war, aus ihr eine Geigenvirtuosin zu machen. Jeden Tag nach der Schule übte sie Läufe; sie kann sie noch heute greifen, in der Luft, ihre Geige hat sie lange nicht mehr angefasst, und in ihrem Körper stecken immer noch die Erinnerungen an blutige Finger und das ewige Njet, Njet, Njet der russischen Violinlehrer. Ein paar Tage, bevor sie ihren Konservatoriumsplatz in Budapest antrat, hatte sie ihre Hochbegabung aber endlich satt. Schade, sagt ihre Mutter noch heute gelegentlich, sie ist ja so musikalisch.

Auch den Eltern vom Berliner Prenzlauer Berg, wo wir wohnen, wird nachgesagt, dass sie manisch Kinderoptimierung betrieben. Neulich ist mir in einer Zeitung der Begriff »Kinderfaschismus« untergekommen, eine »Tyrannis von Kindern und über Kinder«. Als ich es las, musste ich lachen darüber, weil sich jetzt Antifaschisten über Kindergebrüll und die Enge in Supermarktgängen aufregen, in meiner eigenen Kindheit wurde das noch von alten Nazis besorgt. Aber es stimmt schon: In unserem Kiez kann man sich von Kindern und ihren Eltern regelrecht marginalisiert fühlen. Hier gibt es so viele Kinderklamottenläden wie vor 22 Jahren in ganz Hamburg nicht, und in mindestens jeder zweiten Straße eine Kita.

Ich fand das schon schön, vor ein, zwei Jahren, als Fanny noch nicht einmal ein Gedanke war. Jedes Mal, wenn wir einkaufen gingen, lärmten uns Kinderstampeden entgegen, auf dem Gehsteig vor unserem Haus hatten zwei Mädchen von gegenüber ein Guerilla-Blumenbeet angelegt. Es erinnerte mich an meine eigene Kindheit in der Zeit vor dem Pillenknick, als Kinder noch kein kostbarer nachwachsender Rohstoff und kein Problem waren, sondern einfach nur da. Und jedes Mal, wenn ich wieder einen dieser spöttischen Artikel über die Latte-macchiato-Eltern vom Prenzlauer Berg las, fragte ich mich, was deren Verfassern eigentlich so sauer aufstößt: dass hier die Kids mit in den Restaurants und Cafés sitzen, einfach mitleben mit den Erwachsenen? Mir jedenfalls kommt das alles recht entspannt vor.

»Natürlich hatte ich Angst vor einem weiteren Kind«

Mittlerweile ist das Eltern-Sein zu einer Art Lifestyle-Option geworden, mit coolen Zeitschriften, Weblogs, Facebook-Gruppen und allem, was sonst noch dazugehört. Und so lächerlich sich das manchmal ausnimmt, es ist ein immenser Fortschritt: Vor zwanzig Jahren war das Elternwerden noch der Ausstieg aus allen Lifestyle-Optionen, gleichbedeutend damit, sich unwiderruflich aus dem Leben zu verabschieden, das man geführt hatte. Man konnte nicht einmal mehr ins Kaffeehaus, weil dort alle rauchten.

Wenn man die Zeitschrift Eltern las, fühlte man sich schlagartig um Jahrzehnte erwachsener, und die Freundschaften verflüchtigten sich über kurz oder lang fast automatisch, weil man kaum noch miteinander Erfahrungen teilte. Eltern trafen sich nur noch mit ihresgleichen und tauschten sich über Dreimonatskoliken, Biokisten und Schulreformen aus; die anderen schworen sich, keine Kinder zu bekommen, wenn das mit so viel Spießigkeit verbunden war. Dann kam das Internet mit seinen Möglichkeiten, vernetzt zu bleiben, selbst wenn man sich nur noch alle paar Monate leibhaftig sieht. Für Eltern ist es eine der größten Erfindungen, nicht bloß deswegen, weil man sich nicht mehr allein gelassen fühlt, wenn man sich fragt, wann welche Impfungen tatsächlich sein müssen.

Als Stella geboren wurde, war ich 28, kein Alter, in dem man damals schon Kinder bekam. Zu viele Verpflichtungen, zu viele Karriere- und Ausgehillusionen, die man nicht opfern wollte. Wenn man abends zu Hause blieb und am Wochenende auf dem Spielplatz oder im Zoo war, fühlte es sich an, als hätte man auf sein Leben verzichtet. Die anderen sahen ständig die neuesten Filme und Bands, man selbst bloß dem Zahnen seines Babys zu.

Mit 51 fällt mir das bedeutend leichter. Schon lange bilde ich mir nicht mehr ein, dass genau an den Abenden, an denen ich nicht unter Menschen gehe, exakt das geschieht, was mein Leben aufregend machen könnte. Ich verpasse nichts, und falls doch: Was soll’s? Mittlerweile verstehe ich mich besser auf den Stoizismus, den man für ein Baby braucht. Dass man ihn auch für die Beziehung, den Job, das Tagesschau-Gucken und das Altwerden benötigt, habe ich auch begriffen. Alles gut so, wie es ist.

Vielleicht auch deswegen, weil es den Vätern mittlerweile leichter gemacht wird, ihre Kinder zu lieben, statt sie bloß mit einer Rolle als Ernäher und Sorger abzufinden. 1988 wurde ich nach der Geburt nach Hause geschickt, ich ging an die Nachttankstelle, kaufte mir eine Packung Zigaretten und etwas zu trinken, dann schlief ich mich aus. Dieses Mal verbrachte ich die Nacht im Krankenhaus, Fanny auf der Brust, ihren schnellen Atem an meinem Ohr. In den Wochen danach kam alle paar Tage eine Hebamme zu uns nach Hause, die ihre Termine so legte, dass ich dabei sein konnte. Bis aufs Stillen kann ich alles, was für ein Baby wichtig ist. Und anders als vor zwanzig Jahren weiß ich diesmal, wie die Kinderärztin heißt.

Natürlich hatte ich Angst davor, noch einmal ein Kind zu bekommen, ich konnte mir ja ausrechnen, was auf mich zukommen wird: die Mittelohrentzündungen, die Windelekzeme, das Theater beim Anziehen, die Albträume nachts. All die Elternsprechtage mit Lehrern, die mir einreden werden, dass Fanny zu faul, zu schlimm, zu unkonzentriert, zu hibbelig, nicht weit genug ist. All das Türenschlagen, die Tobsuchtsanfälle, der Liebeskummer. Mit Kindern erlebt man lauter Murmeltiertage, bildet man sich ein. Bis einem wieder einfällt, dass es sich ohne Kinder genauso verhält, man geht schließlich auch jeden Tag ins Büro und schläft jede Nacht im selben Bett ein, ohne sich wie ein Märtyrer zu fühlen.

Das Einzige, was der eigenen Anpassung mit Kindern nicht mehr so gut gelingt, ist die Illusion, man könnte, wenn man nur wollte, jederzeit aus seinem Leben desertieren und etwas völlig Neues beginnen.

Außerdem weiß ich mittlerweile auch, was ich in den nächsten Jahren sonst noch bekommen werde: dieses kinderlosen Menschen nur schwer vermittelbare Glück, das aus vielen winzigen Details besteht. Wie sie guckt. Wie sie lacht. Wie sie zu plappern, krabbeln, laufen beginnt. Wie sie sich beim Einschlafen fallen lassen kann. Und so weiter. Und wie wir zu dritt herumfläzen werden, ein Knäuel aus Spaß und Liebe. Idylle-Kitsch, schwer vermittelbar, wie gesagt.

Das einzig wirklich Schlimme daran, in meinem Alter noch einmal Vater geworden zu sein, ist das Wissen, dass man möglicherweise viel zu früh nicht mehr Vater sein wird können. Als neulich Bernd Eichinger starb, mit 61, bloß zehn Jahre älter, als ich jetzt bin, bin ich fürchterlich erschrocken. Jetzt schleppe ich noch problemlos volle Ikea-Taschen mit den Wochenendeinkäufen drei Stockwerke hoch, jetzt bin ich geduldig und aufmerksam, aber wie wird das in zehn Jahren sein, wenn sich das Alter in meinem Körper eingenistet hat und nicht mehr wegtrainieren lässt? Ich habe mich nie viel bewegt und rauche seit der Pubertät. Wenigstens das habe ich jetzt halbiert. Und nur noch auf dem Balkon.

Um alles andere mache ich mir kaum Sorgen. In den letzten zwanzig Jahren habe ich Beziehungskatastrophen, Arbeitsplatzverluste und so viele Neuanfänge erlebt, dass ich irgendwann verstanden habe: Die Welt ist nie lange wirklich schlimm, irgendwann geht es wieder nach oben.

Hilft mir das mit meinem Baby? Sicher. Ich weiß: Ihr Fieber wird wieder vergehen, ihre Tränen versiegen. Das Wichtigste, was ihr mit einem Kind wissen müsst, hat uns die Hebamme einmal gesagt: Alles geht vorüber.Oft denke ich: hoffentlich nicht.