Gerhard Steidl

Als Verleger ist er eher an Buchkunst interessiert als an der Auflage. Das liegt wahrscheinlich daran, dass der Göttinger Steidl, 63, Meister des Siebdrucks ist und in seiner Jugend beeinflusst wurde von Leuten wie dem Plakatgestalter Klaus Staeck und dem Großkünstler Joseph Beuys. Und von einer Kindheit in sehr einfachen Verhältnissen.

Gerhard Steidl sieht aus wie ein strenger Verleger.

SZ-Magazin: Hier geht’s ja zu wie im Taubenschlag.
Gerhard Steidl:
Wieso? Ist wie immer. Ich muss nur zusätzlich heute Nachmittag nach Essen, eine Ausstellung über Karl Lagerfelds Gesamtwerk aufbauen. Und dafür muss noch eine seiner Fotoserien neu gedruckt werden. Verfluchter Digitalschrott.

Wie meinen Sie das?
Ach, die Bilder sind 15 Jahre alt, die wurden damals mit dem sogenannten Iris-Print-Verfahren gemacht und nur ein einziges Mal gezeigt. Die Amerikaner haben mir seinerzeit garantiert, dass diese Drucke ewig halten. Als wir die jetzt wieder hervorgeholt haben, waren sie verfärbt und verblichen, der letzte Dreck, wir mussten alles komplett neu machen. Typisch, der Weltmarkt ist überschwemmt mit diesem Plunder, der sofort verrottet.

Und wie lange halten Ihre eigenen Sachen?
Ich mache Bücher für die Ewigkeit.

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Wow. Wie lange dauert die?
500 Jahre würde ich meinen Büchern schon geben. Ich recherchiere sehr aufwendig, welche Papiere, Farben, Bindematerialien in Frage kommen, da gehe ich kein Risiko ein. Ich habe keine Kinder, aber wenn ich welche hätte, würde ich dafür Sorge tragen, dass sie vernünftig ernährt werden, solange sie bei mir im Haus sind. Genauso gebe ich all meinen Büchern die besten Materialien mit auf den Weg, auf dass sie ein möglichst langes Leben haben.

Interessant, dass Sie dieses Bild benutzen. Hatten Sie als Kind nicht eine Essstörung?
Ich war als kleiner Junge wohl extrem mager. Als die Kinderärztin meiner Mutter sagte, sie solle mir ordentlich zu essen geben, hat die mich nur noch mit Banane, Ei und Schmalzbroten gefüttert. Die Mast hat sehr gut angesetzt, ich bin aufgegangen wie ein Hefekloß und hab mit elf Jahren 85 Kilo gewogen. Als meine Mutter wieder mit mir zu der Ärztin ging, diagnostizierte die kindliche Fettsucht und verschrieb mir Preludin. Das war ein Appetithemmer für Erwachsene. Meine Eltern haben nie den Beipackzettel gelesen, und ich habe täglich meine drei Tabletten geschluckt. Das mit dem Abnehmen hat zwar funktioniert, ich hatte keinen Hunger mehr. Aber das haben Junkies ja auch nicht. Preludin ist ein sehr starkes Psychopharmakon.

Soll das heißen, Sie waren Ihre ganze Kindheit über auf dem Trip?

Zumindest zwei Jahre lang. Ich war völlig benebelt und lag zu Hause nur auf dem Sofa rum. Meine Noten wurden so schlecht, dass ich von der Realschule geflogen bin. Nicht mal die Sonderschule hat mich genommen. Da ist meinem Vater als Letztes eingefallen, dass wir irgendwie katholisch waren, und er ist mit mir zur Bonifatiusschule hier um die Ecke gegangen. Die haben sich meiner erbarmt. Eine der Lehrerinnen hat dann dafür gesorgt, dass ich dieses grauenhafte Mittel absetze. Ich konnte zwei Klassen überspringen, hab die mittlere Reife an meiner alten Realschule gemacht, bin aufs Gymnasium und hab als Jugendlicher endlich Freunde gefunden.

Wie sah so eine Jugend im Göttingen der Sechzigerjahre aus?
Es gab hier einen Club namens »Kenter«. Weil wir damals alle nicht wussten, wie man Center ausspricht. Das war ein Jazzclub mit Galerie, um die hab ich mich mit einem Freund gekümmert. Abends hab ich an der Bar gesessen und Florida Boy getrunken, während alle anderen Bier und Schnaps soffen. Einer von denen fragte, ob ihm jemand Preludin besorgen könne, das war in Junkiekreisen beliebt als Ersatzdroge. Da wurde ich hellhörig, ich hatte schließlich noch ein paar Großpackungen zu Hause. Die hab ich dem für gutes Geld verkauft. Das war gewissermaßen der Grundstock für meine Werkstatt.

Ihr ganzes Verlagsimperium ist auf Drogengeldern aufgebaut?

Irgendwie muss man ja anfangen.

Haben Ihre Eltern nichts davon mitgekriegt?
Die haben nie irgendwas mitgekriegt. Das waren extrem einfache Leute. Meine Mutter wuchs als Waisenkind auf einem Bauernhof auf, im später polnischen Teil des Sudetenlandes. Mein Vater war Bäckereigehilfe im tschechischen Teil des Sudetenlandes. Hier in Göttingen hat meine Mutter dann in einem Großhandelslager Kaffee abgefüllt und später als Putzfrau gearbeitet. Mein Vater hat frühmorgens beim Göttinger Tageblatt die Druckmaschine geputzt.

Ihr Vater hat in Ihrer Kindheit Druckmaschinen gereinigt und Sie sind heute, 300 Meter davon entfernt, Besitzer der berühmtesten Druckerpresse der internationalen Verlagswelt, bei dem die größten Fotografen Schlange stehen. Ich will hier nicht das familiensystemische Analytikerbesteck rausholen, aber das ist schon interessant.
Ja. Kurios. Aber ich glaube, meine Schwester hat mich stärker beeinflusst als meine Eltern.

Warum?
Die war acht Jahre älter als ich und hat eine Ausbildung als Musikalienhändlerin gemacht. Ich bin nach der Schule immer zu ihr in den kleinen Laden und hab Musikerbiografien gelesen oder Platten gehört. Sie hat mich ganz gezielt durch die Musikgeschichte geführt: Heute mal Beethoven, und hör mal, der junge Typ, heißt Bob Dylan, tolle Texte. Auch die Bücher hat sie mir nahe gebracht, meine Eltern wussten ja gar nicht richtig, was ein Buch ist. Wir haben kein inniges Verhältnis, ich seh meine Schwester alle fünf Jahre, aber sie hat damals meinen Horizont geweitet.

»Beuys war mein wichtigster Lehrmeister.«

Gerhard Steidl, 16 Jahre alt, mit seinem Vater beim Sonntagsspaziergang. In der Pubertät hatte Steidl mit starken Gewichtsschwankungen zu kämpfen.

Eben haben Sie von den Büchern als Ihren Kindern gesprochen. Haben Sie als Fotobuchverleger Lieblingskinder?

Am meisten interessiert mich die Realisierung eines Lebenswerkes. Die Fotografin Berenice Abbott, die ich persönlich leider nicht mehr kennengelernt habe – die hatte einen Lebensplan für ihr Werk. Das zu entdecken und aufzuspüren, finde ich spannend. Robert Frank genauso. Solche Leute haben lange und geduldig im Verborgenen gearbeitet. Heute landet alles sofort bei einer Galerie. Da kommt ein chinesischer Milliardär zur Eröffnung, kauft alles auf, inklusive Katalog, man bestellt sofort das Folgeprojekt, so kommt dann der ganze Schrott in die Welt. Der Markt besteht ja zu 70 Prozent aus reinstem Plunder.

Jetzt schimpfen Sie doch nicht so rum. Erzählen Sie lieber noch was von Ihren Lieblingskindern.
Im Moment ist mein Lieblingsprojekt William Egglestons Gesamtwerk. Ich habe vor Jahren mit den Schwarzweißbildern angefangen, jetzt tasten wir uns in die Achtzigerjahre vor und in ein paar Jahren wird dann sein Gesamtwerk abgeschlossen sein. Da er noch lebt, kann ich mit ihm genauso reden wie mit seinen beiden Söhnen, die ja zeitlebens mit ihm zusammengearbeitet haben. Da fühle ich mich wie ein Student, der das Wissen um so ein Lebenswerk in sich aufsaugen kann. Deshalb sind in den letzten Jahren diese großen Schinken dazugekommen, fünf Bände Abbott, Eggleston werden 20 bis 25, Robert Frank 40.

Machen die Künstler eigentlich alle gerne mit bei solch einem Mammutprojekt?
Natürlich. Bei Robert Frank bin ich sicher, dass die Gesamtausgabe lebensverlängernde Wirkung hat. Immer wenn ein Buch abgeschlossen ist, startet er das nächste und wird einfach nicht müde. Seine Frau sagte mal: Bevor Robert anfing, mit dir Bücher zu machen, hat er den ganzen Tag auf dem Sofa gelegen und sich gelangweilt. Seit wir sein Werk drucken, geht er dauernd ins Archiv und kombiniert alles fortwährend neu. Er wird jetzt 90, aber das hält ihn auf Trab.

Was steht eigentlich auf der Tafel hier hinter Ihnen?
»Der Fehler fängt schon an, wenn einer sich anschickt Keilrahmen und Leinwand zu kaufen.« Ist von Joseph Beuys. Seine allerletzte Arbeit.

War der prägend für Sie?
Machen Sie Witze? Natürlich! Ich bin Autodidakt und hatte keine Ahnung von Kunsttheorie, das hat alles er mir beigebracht: Goethes Farbenlehre, das unablässige Suchen nach Materialien, auf die man druckt, das Austüfteln von abseitigen Druckverfahren. Einmal sagte er, er möchte Schwefel drucken. Wie das geht, wusste keiner. Ich bin in die Drogerie, hab Schwefelblüte besorgt und die zunächst in weiße Druckfarbe eingerührt, dann in Binder. Funktionierte nicht. Erst als ich es den Schwefel in Knochenleim mischte und auf Papier druckte, kam dieses fantastische giftige Leuchten zustande. Insofern war Beuys mein wichtigster Lehrmeister. Und Cash in de Täsch, das hab ich auch von ihm.

Bitte was?
Immer genug Bargeld in der Hosentasche haben, damit man sofort das Land verlassen kann.

Klingt nach Siebzigerjahren und Notstandsgesetzen. Haben Sie gerade genug in der Tasche?
Immer. Obwohl man mittlerweile eigentlich nirgends mehr mit Bargeld zahlen kann. So ist das mit frühen Prägungen, die wird man nicht mehr los.

Sind Sie selbst auch prägend? Haben Sie Standards gesetzt?
Das hoffe ich. Bei einem amerikanischen Verlagskonzern sitzt der Verleger im 50. Stock eines Wolkenkratzers, der vom Programmchef ausgewählte Künstler kriegt von ihm einen Handshake und dann geht das Buch seinen Weg, in Amerika wird Korrektur gelesen, in Indien werden die Bilder gescannt, in China wird gedruckt, von einem Zentrallager in Europa ausgeliefert und handwerklich hat keiner mehr irgendeine Ahnung. Wir sind genau das Gegenmodell: Alles passiert hier, unter einem Dach. Das gucken sich viele ab. Nächste Woche kommt eine zehnköpfige Delegation aus Südkorea. Ständig sind Leute aus Singapur, Japan und den USA hier. Wir geben unser Wissen weiter.

Klingt sehr offen. Gleichzeitig beschreiben Sie Ihren Verlag oft als U-Boot, Festung oder Imperium, alles militärische Begriffe, als müssten Sie sich wehren gegen die Außenwelt.
Militärisch? Ich war Kriegsdienstverweigerer. 1969 wurde man noch richtig durch die Mangel gedreht. Ich musste mir auf dem Kreiswehrersatzamt blöde Sprüche anhören von Gert Bastian, der da zusammen mit einem Priester und einem Zivilisten saß und mich diesen ganzen absurden Quatsch fragte: »Wenn ein Neger vor Ihnen steht und ein Kind abmurkst, würden Sie dann etwa nicht schießen?« Wortwörtlich.

Und? Haben Sie bestanden?
Ich bin dreimal durchgefallen, sie sagten, sie könnten bei mir keine pazifistische Grundhaltung erkennen. Ich würde mich trotzdem als Pazifisten bezeichnen. Dass ich unseren Verlag mit einem U-Boot oder einer Festung vergleiche, hat einen anderen Grund: Nichts ist mir so wichtig wie ungestörtes Arbeiten. Wenn ich die Künstler in ihren Ateliers in New York, London oder Tokio besuche, kommen wir ja zu nichts, permanent kommen Journalisten, Mitarbeiter und Fans rein. Oft muss ich die Fotografen richtig zwingen: Jetzt lass uns endlich mal am Stück arbeiten. Hier im abgeschiedenen Göttingen haben wir den unendlichen Luxus, dass nie jemand per Zufall reinkommt. Eggleston und Frank können hier seelenruhig durch die Stadt spazieren, ohne erkannt zu werden. Und seit ich mittags für alle kochen lasse, muss ich die Künstler nicht mal mehr in der Stadt suchen gehen. Wir sind alle an Bord und können jederzeit abtauchen. Ich muss jetzt auch wieder an die Arbeit.

Okay, letzte Frage: Anders als Ihre Bücher werden Sie selbst kaum 500 Jahre alt werden. Wie möchten Sie sterben?
Das Treppenhaus hier ist von oben bis unten vollgepackt mit Bücherstapeln. Die schweren Steinstufen liegen aber alle nur auf winzigen Stahlhaken auf. In meiner Lieblingstodesfantasie renne ich durchs Treppenhaus, auf dem Weg zur Druckerpresse, und wenn ich unten auf der letzten Stufe bin, fällt der ganze Schamott in sich zusammen und ich werde begraben unter dem Haus und all den tausend Büchern. Herrlich!

(Kinderfoto: privat)

Foto: Markus Jans