Heute würde das alles so nicht mehr passieren. Statt planlos am Busbahnhof von Tel Aviv zu stranden, würde ich heute mein Smartphone zücken und in mein online gebuchtes Zimmer eilen. Wahrscheinlich wäre ich heute aber auch nicht mehr spontan genug, um den jungen Mann mit der großen Narbe im Gesicht und dem japanischen Schwert auf dem Rücken anzuquatschen. Ich würde nicht mehr mit ihm in einem Sammeltaxi nach Jerusalem fahren, ohne dort eigentlich hinzuwollen. Ginge nicht auf sein Angebot ein, bei ihm, seiner Mutter und deren Freund zu übernachten. Heute würde ich also nie in diesem alten Steinhaus neben dem äthiopischen Kloster landen. Tränke dort nicht unfassbare Mengen Wodka und sähe nicht bärtigen Flötenspielern dabei zu, wie sie flötenspielend aus dem Fenster im ersten Stock springen und mit gebrochenem Knöchel weitertanzen. Würde nicht in einem grasumnebelten Moment den Nahostkonflikt lösen und die Lösung im nächsten Moment wieder vergessen, schliefe nicht sturztrunken in einem Schlafsack aus sibirischem Wolfsfell ein. Kurz: Ich würde Ida nicht kennenlernen.
Ida Michaeli ist eine in Moskau geborene Keramikkünstlerin, die »Aliyah gemacht« hat, so heißt das, wenn Diaspora-Juden nach Israel einwandern. Damals, im Januar 2008, blieb ich eine ganze Woche, am Ende schneite es.
In den nächsten Jahren besuchte ich Ida immer wieder, zweimal kam sie zu mir nach München. Ida hat feuerrote Haare, die sie stets unter einem Tuch versteckt, und trägt eine mit Schlangenleder besetzte Brille. Ida kann, wenn sie gut drauf ist, Unmengen trinken; wenn sie schlechte Laune hat, flucht sie wie ein Kosaken-Regiment, wenn sie gute Laune hat manchmal auch. Ida spürt in jeder Stadt der Welt innerhalb kürzester Zeit einen Künstlersalon auf, findet auf langen Spaziergängen die wunderlichsten Gegenstände und klettert nachts auf Baustellen herum, um auf dem Dach der Rohbauten den Mond anzuheulen. Ida ist witzig, wild und ein bisschen wahnsinnig.
Nur: Ida ist kein wildes Mädchen Mitte zwanzig. Sondern inzwischen irgendwo in ihren Fünfzigern, ihr genaues Alter verrät sie nicht. Sie könnte meine Mutter sein, tatsächlich ist sie schon zweifache Großmutter: Ihr Sohn, der mit dem Schwert und der Narbe, hat ein Söhnchen und ein Töchterchen.
Wenn Ida und ich uns in den vergangenen Jahren sahen, war sie jedes Mal wie eh und je. Nur ich kam mir neben ihr immer älter vor. Wollte nicht noch das siebte Bier trinken, sechs machen doch schon genug Kopfweh. Wollte nicht noch zum Tanzen aufs Dach klettern, weil eben schon sechs Bier intus, und zu kalt ist es außerdem. Und wollte erst recht nicht in das aufgelassene Fabrikgelände mit den Punks und den großen Hunden, auch wenn das Lagerfeuer dort zugegebenermaßen etwas wärmen würde.
Auch wenn wir nicht zusammen durch Jerusalem oder München streifen, habe ich inzwischen immer öfter Idas Stimme im Ohr, mit einem spöttisch bis ungehaltenen Unterton: »Schau an, du willst schon heim? Früher hättest du jetzt erst losgelegt! Wie, du willst dich nicht mit dem schrägen Typen unterhalten, nur weil er ein bisschen stinkt? Du bist mir ja ein feiner Journalist, vielleicht hat der ja eine interessante Geschichte. Und, ach Quatsch: Nie und nimmer wirst du von irgendjemandem erwischt, wenn du das jetzt einfach frech durchziehst.«
Und das ist dann doch ein bisschen komisch: Ausgerechnet eine Oma ist die Person, die mir – noch nicht einmal Mitte dreißig – wieder und wieder zeigt, dass Älterwerden ohne Altwerden möglich ist. Andere Vorbilder in dieser Richtung sind mir mit der Zeit abhandengekommen. Mein Sponti-Onkel legte sich nach einem wilden Theaterleben mit knapp sechzig eine Familie zu. Heute doziert er mit herausgestrecktem Bauch, dass die FAZ die einzige lesbare Zeitung sei. Und mein Bruder, der lang durch das Bumm-Bumm-Bumm-Berlin ballerte: Eigentumswohnung am Prenzlauer Berg, Datscha in der Uckermark. Auch in meinem Leben kommen die Vokabeln »vernünftig« und »sinnvoll« immer öfter vor. Ich habe seit Kurzem eine Haftpflichtversicherung, einen akkurat sortierten Ordner mit Unterlagen zu einem Immobilienkredit und neige zu Hamsterkäufen, wenn Bio-Artikel im Angebot sind. Meine Unterhosen dürfen nur nach einem speziellen Muster gefaltet in den Wäscheschrank, sonntags kuschele ich brav beim Tatort.
Für jede Stunde Tatort oder Netflix versuche ich mindestens einen Kilometer zu joggen, in der Hoffnung, dass ich den Reißverschluss der Lederjacke irgendwann wieder zubekomme. Und nach 16 Jahren fleißigen Rauchens habe ich das vor neun Monaten auch noch aufgegeben. Ida, die jeden Tag viele starke »Noblesse«-Zigaretten aus der grünen Packung fingert, kommentierte das so: »Et tu, Brute«, auch du mein Sohn Brutus.
Als ich sie kürzlich anrief, um meinen nächsten Besuch anzukündigen, fragte ich, wie sie das macht mit dem Dehnen der Adoleszenz bis ins Großmutter-Alter. Ihre Antwort war ernüchternd: »Mein Nonkonformismus liegt vor allem daran, dass ich kein Geld habe!« Als freie Keramikkünstlerin über die Runden zu kommen schafft man nur, wenn man so was wie einen Zahnarzt als Mann hat. Hat Ida aber nicht und deshalb auch keine der Wohlstandsinsignien, denen der Geruch von Bürgerlichkeit automatisch anhaftet.
Das verstehe ich schon. Aber so einfach, dass nur der Kontostand über den Grad der Spießigkeit entscheidet, ist es doch auch nicht, oder, Ida? Was ist mit Offenheit, was mit der Lust, es aus Prinzip anders zu machen? Ihre Antwort darauf ist ziemlich nebulös. Sie führt von Puschkins Äußerem über die neureiche Nastassja Filippowna aus Dostojewskis Idiot hin zu dem Wein, der gerade vor ihr steht. Ich verstehe den größten Teil nicht, eigentlich nur, dass Ida wie so oft aus der Flasche trinkt. Und das würde sie auch, da ich bin mir sicher, wenn sie sich teuren Barolo leisten könnte.
Vielleicht kommen wir der Sache ja umgekehrt näher: Bin ich bürgerlicher geworden, Ida? Sie lacht lange und etwas dreckig, dann ruft sie: »Sicher, und wie! Das erste Mal aufgefallen ist mir das bei deiner Couch.« Mein Sofa ist braun, schlicht und durchgelegen, keine dieser Liegelandschaften, die so groß sind wie eine Limousine und so viel kosten wie ein Kleinwagen. Was bitte ist daran spießig? »Du hast meinen Hund nicht draufgelassen, damit die Kissen nicht schmutzig werden!« Zaya, Idas Hündin, ist so groß wie ein Kalb und so wild wie ein pubertierender Schimpanse auf Red Bull. Sie hat meinen Geldbeutel samt Inhalt zerkaut, die Sonnenbrille meiner Freundin zerbissen, deren Bikini und meine Badehose zerfetzt. Und mir beim Rumtollen mit ihrem Eisenschädel zwei Zehen gebrochen. Auch als armer Student hätte ich dieses Vieh nicht auf mein Sofa gelassen.
Darum denke ich: Unangepasstsein ist keine Frage des Status, sondern der Einstellung. Und so ist es an der Zeit, mir einzugestehen: So Rock n’Roll wie diese Oma war ich nie. Ich habe ich mich nicht von meinem wilden Ich entfremdet, sondern mich meinem unspektakulären Kern genähert.
Umso besser, wenn Ida mich ab und zu an die Möglichkeit des Ausbruchs erinnert. Und das nächste Mal, das nehme ich mir jetzt fest vor, lasse ich den Hund aufs Sofa. Danach kaufe ich ein neues, das habe ich sowieso schon lange vor.