Ich hatte mal eine Schwester. Sie hieß Vera. Sie hatte blonde Locken und strahlend blaue Augen. Ein Engelchen. Als Kleinkind war sie sehr schüchtern, und auch später sprach sie nie über das, was sie bewegte.
Heute habe ich keine Schwester mehr, aber einen Bruder. Er heißt Noah. Er hat kurze braune Haare und trägt viele Tätowierungen an Armen, Beinen, auf dem Rücken und auf der Brust. Das, was ihn umtreibt, muss sofort aus ihm raus, und zwar mit einer Dringlichkeit, dass er es oft drei-, viermal wiederholt. Er ist sehr charmant und hat kein Problem, auf Fremde zuzugehen. Die strahlend blauen Augen sind ihm geblieben.
Mein Bruder Noah war früher meine Schwester Vera, aber er ist im falschen Körper geboren. Er ist noch derselbe Mensch, und doch könnten Vera und Noah kaum unterschiedlicher sein.
Als ich vier Jahre alt war, bekam ich zwei Geschwister auf einmal, Zwillinge, eine Schwester und einen Bruder. Manchmal lachen wir und sagen, dass unsere Mutter während der Schwangerschaft vermutlich zu viel Yoga gemacht hat und dabei im Bauch alles durcheinandergekommen ist: Vera und ihr Zwillingsbruder, das hätten eigentlich Noah und sein Zwillingsbruder sein sollen.
Vera – das klingt fremd. Anfangs habe ich den Namen vermisst, denn obwohl ich auch andere Veras kannte, dachte ich immer an sie, wenn ich den Namen hörte. Heute geht mir das nicht mehr so.
Überhaupt von »ihr« zu sprechen ist seltsam. Ist sie doch längst ein Er.
Als wir klein waren, verstand ich mich besser mit dem anderen Zwilling. Mit ihm konnte man toben und zanken, Vera machte dicht, schottete sich ab, schwieg.
Sie muss drei Jahre alt gewesen sein, da war es vorbei mit dem Engelchen. Sie nahm sich eine Bastelschere und schnitt sich die blonden Locken im Badezimmer ab. Es sah furchtbar aus. Sie wollte nicht mehr Vera sein, sondern Johnny oder Jimmy. Beim Spielen vor der Haustür war sie der Polizist oder der Müllmann, und sie zog mit einer Bande Jungs durch das Gebüsch im nahe gelegenen Park. Das war nichts Besonderes, unsere Eltern hatten nie Ambitionen, die Zwillinge in Rosa und Blau zu teilen oder uns Schwestern in Kleider zu stecken. Wir Kinder spielten alle lieber mit Kuscheltieren als mit Puppen, und keine von uns schwärmte je groß für irgendwelche Stars aus der Bravo. Manchmal haben wir Mädchen unseren Bruder als Frau verkleidet und uns als Männer. Eine ganz normale Kindheit. Nur einmal schimpfte ein Lehrer mit ihr: »Benimm dich doch mal wie ein Mädchen!«
Vera wechselte häufig die Schule, doch der Erfolg blieb aus. Ihre erste Liebe war die Englischlehrerin, in der Pubertät outete sie sich als lesbische Frau. Uns hat das nicht sonderlich überrascht. Sie hatte nur wenig Weibliches an sich. Während sich ihre Freundinnen vor dem Ausgehen schminkten, band sie sich die Brust ab. Die Frauenärztin erklärte, sie habe zu viele männliche Hormone. Heute glaube ich, dass da zu viele weibliche Hormone waren.
Weil das mit der Schule nichts mehr wurde, bewarb sie sich bei der Bundeswehr. Die starren Strukturen und Regeln waren verlässlich und gaben ihr einen Rahmen in einer Zeit, in der sie sich selbst kaum zu fassen bekam. Ich vermute allerdings, dass es für diesen Weg noch einen anderen Grund gab: die Uniformen. Machen sie doch die Menschen gleich, Frauen wie Männer.
An einem Abend im April vor ein paar Jahren bekam ich eine Mail. »Nein, das ist kein Abschiedsbrief, eher ein Anfangsbrief«, schrieb er. »Ein Anfang, damit ihr die Gelegenheit habt, mich wirklich kennenzulernen.« Er erzählte von seiner Verzweiflung, anders zu sein, und davon, wie glücklich er sei, wenn er auf der Straße als junger Mann angesprochen wird. »Wisst ihr, wie demütigend es ist, von einem Türsteher in der Disko aus der Damentoilette geworfen zu werden?« Natürlich konnten wir uns das nicht vorstellen, für uns war er Tochter und Schwester, immer gewesen. »Ihr seht nur mich, aber ich bin so nicht ich«, schrieb er.
An diesem Abend saß ich an meinem Schreibtisch und weinte furchtbar. Nicht, weil ich die Vorstellung, künftig noch einen Bruder zu haben, so schrecklich fand. Sondern weil ich nicht fassen konnte, wie dieser mir liebe Mensch so lange hatte leiden müssen, bevor er die Gewissheit und den Mut hatte, sich zu öffnen. Und wieso ich von seinem Leid nichts mitbekommen hatte.
Hätten wir etwas merken können, wir, seine Familie? Ich glaube nein. Im Rückblick ist alles klarer, aber dafür muss man eben zurückblicken können. Es hat diese Zeit gebraucht und Noah vielleicht auch die Verzweiflung. Sonst wäre er diesen Weg nicht gegangen. Erst jetzt wissen wir, dass Noah immer Noah war. Nun verstehen wir, dass er eben nicht als Frau auf Frauen stand – sondern als Mann. Gleichzeitig werden wir niemals verstehen können, wie es sich anfühlt, im falschen Körper geboren zu werden.
Es wäre gelogen, wenn ich hier behaupten würde, dass ich die Vorstellung einer Geschlechtsangleichung sofort super fand. Ich hatte Angst, vor allem davor, meine Schwester zu verlieren. Wie dumm dieser Gedanke war! Der Mensch blieb mir ja. Doch zum Mann werden, das lässt sich nicht wieder ändern. Noah war schon immer sehr sprunghaft. Mal war es die Geige, die unbedingt gekauft werden musste, dann das Cello, dann die Trommel. Aus Schwimmen wurde Skaten, aus Reiten ein Hund, aus der Freundin mit den blonden glatten Haaren die Freundin mit den braunen Locken. Natürlich kann man den Wunsch nach einem bestimmten Musikinstrument nicht mit der Verzweiflung über das falsche Geschlecht vergleichen, dennoch fragte ich mich, ob er auch noch in zehn, zwanzig, fünfzig Jahren ein Mann sein wollen würde – oder seine Entscheidung bereuen könnte.
Auch ist Noah nicht der Geduldigste. Menschen können ihm schnell auf die Nerven gehen, mal muss überstürzt ein neuer Job oder eine neue Wohnung her. Hat er genug Geduld mit sich und dem Leben? Würde er all das, was auf ihn zukäme, durchstehen? Er hat mir mal erzählt, dass es viele Suizide unter Transsexuellen gibt. Ich mache mir darüber keine Sorgen, weil ich sehe, wie gut es ihm geht. Und doch schrieb ich ihm: Du weißt, dass ich für dich da bin, auch wenn du nicht mehr da sein möchtest, nicht wahr?
Hätte es je einen Funken Zweifel an seinem Vorhaben gegeben, hätte er das, was folgte, nie durchstehen können. Über viele Jahre immer wieder Operationen, vielleicht 15, vielleicht mehr. Wochen und Monate im Krankenhaus, Geburtstage im Krankenhaus, Weihnachten im Krankenhaus, Sommer im Krankenhaus. Immer auf dem Rücken liegend, dabei ist er doch so zappelig. Und die Schmerzen. Noah sagt, für ihn sei der psychische Schmerz viel schlimmer gewesen als all die Schmerzen nach den Operationen.
Die Station im Krankenhaus, auf der überwiegend transsexuelle Frauen und Männer behandelt werden, ist eine Welt für sich. Einige sind am Anfang ihres Weges, andere fast fertig. Manchmal klappt nicht alles so, wie sie es sich ausgemalt haben, manchmal liegen die Erwartungen an den neuen Körper auch weit neben dem, wie es die Natur sonst vorsieht.
Sie, die Menschen, die nicht von Geburt an so sein können, wie sie sind, erleben gerade viel Aufmerksamkeit. Es gibt einen Haufen Hollywoodfilme und jede Menge Reportagen, die Ausgabe der amerikanischen Vanity Fair mit Caitlyn Jenner auf dem Titelbild ist eine der bestverkauften in der Geschichte des Magazins, und Ende Oktober wurde eine Frau namens Loiza, die mal Lucas hieß, zu »Holland’s Next Topmodel«. Ihre Geschichten werden gern erzählt, trotzdem weiß kaum einer genau, was Transsexualität ist. »Sind das die, die sich als Frauen verkleiden, die Dragqueens?«, fragen mich Menschen, wenn ich von meinem Bruder erzähle. Und in den Zeitungen steht häufig, dass sie sich umoperieren lassen. Es mag pingelig klingen, aber das ist falsch: Ihr Körper passt nicht zur Person, zu Seele und Geist. Deswegen passen sie ihn an. Das ist ein Unterschied, den ich auch nicht sofort gesehen habe.
Einige der Menschen, die wir in der Klinik kennenlernten, haben während ihrer Zeit im Krankenhaus nicht einmal Besuch bekommen. Gegen die Schmerzen gibt es Schmerzmittel, aber es gibt keine Medizin gegen die Hoffnung, dass doch noch irgendwann die Tür aufgeht und sich die Familie ans Bett setzt. Einer erzählte, wie er von seiner Mutter als Fehler ihres Lebens beschimpft worden war. Unsere Mutter war immer da. Natürlich war sie immer da. Bald fing sie an, mehr Kuchen zu backen, damit sie den Bettnachbarn auch ein Stück auf den Teller legen konnte.
Menschen, die Noah nicht als Vera kannten, werden nicht erkennen, dass er mal eine Frau war. Selbst ich sehe ihn nicht mehr in seiner früheren Version. Vera? Nur wenn ich seine Hände betrachte, weiß ich: Es gab da mal ein Engelchen.
Viele Menschen in unserem Umfeld schweigen sich aus über die neue Konstellation in unserer Familie, andere tun so, als wäre es nie anders gewesen. Im Sommer trafen wir nach einiger Zeit mal wieder die Familie unseres Onkels. Sie hatten Noah noch nie als Noah gesehen. Es rührte mich zu beobachten, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihn begrüßten und mit ihm plauderten. Und doch sehe ich immer den suchenden Blick, wenn ihm jemand das erste Mal gegenübersteht: Was ist da noch von früher?
Unsere Großmutter, fast hundert Jahre alt, strahlt immer, wenn sie ihn sieht. Dann ruft sie »Mein Junge!« und »Was für ein schöner Mann!« So ganz begreife sie das alles nicht, sagte sie vor einiger Zeit zu mir, aber die Hauptsache sei doch, dass es ihm jetzt gut geht. Als Vera noch da war, sah die Sache anders aus. »Ich hoffe ja sehr, dass sie eines Tages wieder gesund wird«, sagte die Oma. Die Lesbe, das hat sie nicht verstanden. Den neuen Mann versteht sie.
Nicht jeder Mensch in Noahs Umfeld reagierte so wie unsere alte Großmutter. Nachdem er sich während der Zeit der Veränderung seinen Kollegen gegenüber erklärt hatte, sagte einer: »So etwas wie dich hätte man vor siebzig Jahren noch vergast.«
Noah hatte in den vergangenen Jahren viele erste Male. Das erste Mal mit neuem Personalausweis. Das erste Mal rasieren. Das erste Mal im Stehen pinkeln. Das erste Familienfoto als Mann. Das erste Mal mit einer Frau – als Mann.
Seinen Namen hat er sich selbst ausgesucht. Unsere Eltern schwankten nach der Geburt zwischen Vera und Nora, da liegt Noah nicht fern, dachte er sich, nachdem er davon erfahren hatte. Lustigerweise fiel ihm bei seiner Wahl gar nicht auf, was es mit dem Namen noch auf sich hat. Die Arche, und von jedem Tier je ein Weibchen und ein Männchen. Ich mag die Vorstellung, dass auch in meinem Bruder etwas aus beiden Welten steckt. Am Anfang war es komisch, ihn Noah zu nennen. Ich weiß noch, wie böse er mir war, als ich in einem Kaufhaus mal laut nach ihm gerufen hatte. Ruschka! Die Kurzform von Veruschka, sein alter Spitzname. Das kann mir nicht mehr passieren.
Es bleibt ein Bruch. Nämlich dann, wenn von der Vergangenheit die Rede ist, unserer Kindheit, gemeinsamen Urlauben. Noah gab es damals noch nicht, Vera stimmt nicht mehr. Verwirre ich die Leute, wenn ich erzähle, wie meine Schwester während einer Wanderung auf einer Alm mal in ein Wespennest gefallen ist, obwohl ich sonst nur von meinen Brüdern spreche? Die Wahrheit kann seltsam sein.
Ich habe mich oft gefragt, was eigentlich einen Mann zum Mann macht, und wie ich reagieren würde, wenn derjenige, in den ich mich verliebe, eine ähnliche Geschichte erlebt hat wie mein Bruder. Ich hoffe, es wäre kein Hindernis.
Dass Noah viel Erfolg bei den Frauen hat, wundert mich nicht. Er sieht super aus, ist schlau und lustig. Und er weiß vermutlich sehr genau, wie man Frauen glücklich macht. Noah hatte einige Beziehungen, die letzte Freundin war bei der Hochzeit unseres Bruders in diesem Sommer dabei. Wenn er eine Frau kennenlernt, geht er offen mit seiner Geschichte um. Manchmal ist dann der Anfang auch das Ende. Was ihn nicht davon abhält, wieder von vorne anzufangen, sich wieder zu verabreden, sich wieder zu verlieben. Gescheitert sind die Beziehungen an den Gründen, an denen Beziehungen nun mal scheitern, und nicht an seiner Vergangenheit. Er wünscht sich eine Freundin, mit der er später eine Familie gründen kann. Und weil ich das immer wieder gefragt werde: Ja, er kann mit Frauen schlafen – wie jeder andere Mann. Und nein, er kann keine eigenen Kinder zeugen. Aber er kann Vater werden. Ich glaube, er wäre ein guter Vater.
In guten wie in schlechten Zeiten, das gilt auch unter Geschwistern. Nie werde ich den Moment vergessen, als ich ihn im Krankenhaus besuchte nach seiner ersten Operation. Wie er da lag, mit einem breiten Verband um die Brust und käseweiß, mit solchen Schmerzen, dass ich es kaum aushielt, ihn so zu sehen. Wie ich seine Hand hielt. Wie er weinte, wie ich weinte.
Ich werde auch nie den Moment vergessen, als er sich traute, das erste Mal oben ohne zu schwimmen. Wir waren zusammen in ein Haus nach Spanien gefahren, ein herrlicher Ort mit eigenem Pool, fernab von allem. Dort konnte er unbefangen ohne Hemd in der Sonne liegen, ohne dass jemand auf die noch frischen Narben starrte. Ein Mann braucht kein Bikini-Oberteil. Er war so glücklich. Inzwischen fahren wir im Sommer oft an den See. Er ist dann der Erste, der sich sein T-Shirt vom Körper zieht und ins Wasser springt. Er ist jetzt frei. Ich hatte mal eine Schwester. Sie hieß Vera. Wir waren uns oft fremd. Sie ist schon lange nicht mehr da, aber ich vermisse sie nicht. Heute habe ich einen Bruder. Er heißt Noah. Kaum jemand steht mir so nahe wie er, die großen Geheimnisse und Sorgen teile ich mit ihm. Ich kenne niemanden, der so mutig ist wie er. Warum ein Mensch im falschen Körper geboren wird, so wie Noah, und diesen Weg gehen muss, weiß ich nicht. Aber wie großartig, dass er ihn gegangen ist.
Foto: Myrzik & Jarisch