Alles kann

Birkenstocks zum Abendkleid, bauchfrei im Büro, ein jahrzehntealtes Kleid – in der Mode scheint endgültig alles erlaubt. Was herrlich befreiend klingt, macht die Sache aber nicht viel einfacher.

»Geschmack ist die Kunst, sich auf Kleinigkeiten zu ver­stehen« (Jean-Jacques Rousseau)

Von Coco Chanel stammt der Satz: »Bevor man das Haus verlässt, schaut man in den Spiegel und entfernt ein Accessoire.« Entweder guckt niemand mehr in den Spiegel, oder niemand kann sich noch entscheiden, was von all den Ketten, Ohrringen, Haarbändern, Logogürteln und Bauchtaschen man weglassen könnte. Jedenfalls laufen nicht nur Prominente wie Miley Cyrus und Rihanna gern bis unter die Fußnägel ausstaffiert durch die Gegend. Letztgenannte Sängerin trug vor ein paar Monaten ein Seidentuch um den Kopf gebunden, auf dem bereits eine Baseballmütze saß. Im Internet gibt es eine beachtliche Menge von Einträgen mit Überschriften wie »Jedes Mal, wenn Rihanna wieder eine Moderegel gebrochen hat«. Es sind keine hämischen Stilkritiken, sondern Hymnen auf die Frau, die auf alle Kleiderordnungen pfeift. Die neue Lieblingsregel der Modewelt lautet: Es gibt keine mehr.

»Anything goes« heißt es seit den Sechzigerjahren kopfschüttelnd, wann immer ein Rock noch höher rutschte, Hemden zerschnitten, durchlöchert oder verkehrt herum getragen wurden. Weil unsere Gesellschaft insgesamt weniger formell geworden ist, haben auch Stilfibel-Weisheiten wie »Braun nicht mit Schwarz«, »Kein Silber- zu Goldschmuck« oder »Blue and green should never be seen« ausgedient. Und die Regel, man solle Gürtel, Schuhe, Tasche aufeinander ab­stimmen? Hat sich spätestens erledigt, seit die halbe Welt bunte Turnschuhe und Handtaschen mit Logoprints trägt. Lediglich der Fußballer Franck Ribéry kombiniert noch die Gucci- Schuhe zu den ­Gucci-Strümpfen und dem Gucci-Strampler. So war das aber eigentlich nicht gemeint.

In den vergangenen Jahren hat das »Erlaubt ist, was gefällt« noch einmal eine neue Stufe erreicht. Ein »Jetzt aber wirklich!«, wie bei der x-ten Fortsetzung eines Sylvester-Stallone-Films, in dem alles noch eine Spur wilder zugeht. Kleider und Tops mit Leopardenprint galten lange als etwas »nuttig«, weil die betreffenden Damen das Raubkatzenmuster gern anzogen, um auf dem Straßenstrich maximale Aufmerksamkeit zu erregen. Mittlerweile ist Leoprint so omnipräsent in Büros und Fußgängerzonen, dass das Wort Großstadt­dschungel eine neue Bedeutung bekommt.

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Erlaubt ist vor allem auch, was bequem ist: Weite Teile der jungen männlichen Bevölkerung waren in diesem Sommer ganztags mit Badeschlappen unterwegs, vorzugsweise von Designerlabeln wie Valentino oder Balenciaga und mit Tennissocken darin. Frauen tragen derweil ihre Birkenstocks sogar zum Abendkleid – macht die Schauspielerin Frances McDormand bei den Oscars schließlich genauso. Das urfranzösische Modehaus Givenchy wirbt mit der Sängerin Ariana Grande, deren Fingernägel so lang sind, wie man es früher nur im Kosmetikstudio zu Gesicht bekam. Die Flure von DAX-Unternehmen und Parlamenten einmal ausgenommen, aber wenn sich selbst der Spießer-Schreck Marilyn Manson laut wundert: »Outfits, mit denen ich früher schockieren konnte, tragen die Teenager heute in der Schule« – dann haben wir bei der Kleiderwahl womöglich einen ­Zustand tolerierter Anarchie erreicht.

Kleidervorschriften empfinden manche Menschen als Eingriff in die Persönlichkeitsrechte


Mode spielt seit jeher mit Tabus und Konventionen. Das muss sie, wenn sie unsere Aufmerksamkeit erregen will. Denn unser Auge, so erklären es Psychologen, reagiert weniger auf das Normale, weil es evolutionär keine Gefahr darstellt. Sehen wir aber etwas Außergewöhnliches, eine Störung im System, richten wir – bewusst oder nicht – unsere Aufmerksamkeit darauf. Und je häufiger uns etwas begegnet, desto mehr gewöhnen wir uns daran. Das macht es nicht unbedingt besser, aber vertrauter, wodurch wir es uns am Ende womöglich doch schön gucken. Als Gianni Versace 1992 seine berühmte Kollektion »Miss S&M« mit sehr hohen Stiefeln, engen Lederhosen und Bondage-Tops präsentierte, schnaubte die berühmte Modekritikerin Suzy Menkes: »Ich will nicht, dass Frauen wie Sex-Objekte herumlaufen oder so etwas.« Eine Menge Frauen sahen das offensichtlich anders: Die unerhörten Sachen gelten längst als Klassiker, Overkneestiefel führt selbst Deichmann im Sortiment.

Der Unterschied zu früher ist, dass die Marken in einem hyperventilierenden Modesystem immer schneller mit neuen Reizen um Aufmerksamkeit konkurrieren. Weil echte Innovationen in der Mode heute aber rar sind, bekommen wir vor allem neue Kombinationen von Bekanntem und immer schneller das nächs­te Comeback präsentiert. Leicht variierte Updates alter Versionen, wie beim iPhone. Kehrten die Siebziger gefühlt erst vor drei Jahren zurück, sind sie – jetzt aber wirklich! – schon wieder da.

Nach Jahren intensiven Störfeuers sind wir an so ziemlich alles gewöhnt, unsere optische Toleranzschwelle ist hoch wie nie. Um wirklich noch jemanden vom Hocker zu reißen, so lautete lange Zeit ein Running-Gag unter Moderedakteuren, müsste man schon betont unmodisch, also extra mies rumlaufen. 2013 war es so weit: Der Trend hieß »Normcore« und bedeutete, uncoole »Dadjeans«, weiße Turnschuhe und 08/15-Windbreaker zu tragen. Der Erfolg dieser Anti-Mode war gigantisch. Kurz danach wurde schon wieder die neue Eleganz ausgerufen, dann »Ugly Fashion«.

»Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast« (Johann Wolfgang von Goethe)

So wie bei Wählern wegen widersprüchlicher Aussagen und immer neuer Versprechen von Politikverdrossenheit die Rede ist, lässt sich auch in der Mode eine gewisse Müdigkeit der Konsumenten gegenüber ständig wechselnden Botschaften, dem hundertsten Comeback, dem nächsten »Must-have« beobachten. Die logische Konsequenz lautet irgendwann: Behaltet eure Regeln, wir machen jetzt, was wir wollen.

»Haben die Millennials den Dresscode getötet?«, fragte das US-Onlinemagazin Bustle vergangenes Jahr. Mag sein. Wie keine Generation vor ihnen legen sie Wert auf persönliche Entfaltung. Ob bei der Geschlechterdefinition, der sexuellen Orientierung, dem Lebensentwurf, der ästhetischen Inszenierung – überall verschwimmen Grenzen. Kleidervorschriften empfinden manche als Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Schließlich haben sie miterlebt, wie Mark Zuckerberg seine Milliarden in Kapuzenpullover und grauem T-Shirt verdiente. Ein »Rule Breaker« oder »Disruptor« genannt zu werden – jemand, der bestehende Normen einreißt –, ist ein großes Kompliment geworden.

In einer Gesellschaft, die Individualität vor sich herträgt, poppen tausend Mikro-Trends auf, die auf dem Laufsteg, der Straße, vor allen auf Social-Media-Kanälen entstehen, sich blitzschnell verbreiten und miteinander wiederum um Aufmerksamkeit buhlen. Der Zweck der individuellen Aufmachung heiligt jedes noch so absurde Stilmittel. Madonna wählte für ihr neues Alter Ego »Madame X« eine Augenklappe als Accessoire, obwohl die Sechzigjährige allenfalls an Altersweitsichtigkeit leiden dürfte.

Die Modewelt feiert ihrerseits nun die große Wahlfreiheit. Bei Gucci wird derart kreuz und quer durch alle Stile und Dekaden kombiniert, dass der Designer Alessandro Michele von einem »Frucht­salat der Schönheit« spricht. Luke Meier von Jil Sander erklärte kürzlich, »ein Stück Stoff mit ein paar Nähten« müsse man nicht mit Vorgaben belegen. Jeder könne ein Teil tragen, wie er wolle. Mehr Toleranz war in der Branche nie. In den Neunzigerjahren bekamen Stylisten von Comme des Garçons noch detaillierte Anleitungen, wie ein Entwurf anzuziehen war. Selbst die Chefin der US-Vogue, Anna Wintour, von der man durchaus weiß, dass sie von bestimmten Dingen – zu viel Schwarz, flache Schuhe – eher wenig hält, erklärte in einem Interview auf die Frage nach Tabus, Mode habe vor allem mit »Individualität« zu tun.

Von der Liste der ­aktuellen Trends fühlen sich viele ­so überfordert und verunsichert wie vor der Frische-Theke der Pariser Galeries Lafayette


Doch so befreiend die neue, individuelle Kleiderordnung klingen mag – viel einfacher macht es die Sache nicht. Leder, Leo und Camouflage, aber auch Karo, französischer Bourgeoisie-Chic der Siebziger, Grunge der Neunziger, Mod-Look der Sechziger, immer noch Power Dressing der Achtziger, lange Röcke, kurze Röcke, Midi-Röcke, Militärboots, Springerstiefel, Overknees – die Liste der aktuellen Trends ist ein Supermarkt der freundlichen Empfehlungen des jeweiligen Modehauses, in dem sich viele so überfordert und verunsichert fühlen wie vor der Frische-Theke der Pariser Galeries Lafayette mit 190 Käse­sorten. Die größte Online-Luxusboutique Net-a-porter kündigte diesen September an, hundert zusätzliche »Personal Shopper« und »Client Relations Manager« einzustellen, die den wichtigsten Kunden unter anderem bei der Lösung ihres »wardrobe dilemma« helfen sollen. Dieses Problem heißt wirklich so und bezeichnet den Notstand, nicht zu wissen, was man kaufen und wie man es tragen soll.

Und klar, nur weil alles erlaubt ist, heißt das nicht, dass alles gut aussieht. Wenn der Rapper Asap Rocky einen roten Bademantel über dem weißen T-Shirt trägt, erntet er auf Instagram mehr als eine Million Likes. Wer das Gleiche in der Fußgängerzone von Düsseldorf probiert, bekommt wahrscheinlich Kleingeld in die Manteltaschen gesteckt. Das Prada-Satinkleid wie auf dem Laufsteg mit Militärstiefeln zu kombinieren, muss man sich leisten können – in jeder Hinsicht. Für viele Moden braucht es vor allem eine starke Attitüde. Die gibt es immer noch nicht zu kaufen.

Neben den unzähligen aktuellen Trends hat sich Vintage als Gegenbewegung etabliert. Der Markt für Secondhandkleidung wächst jetzt schneller als der traditionelle Handel. War es früher in bestimmten Kreisen unvorstellbar, zu wichtigen Anlässen ein zig Jahre altes Kleid zu tragen, weil alle Anwesenden es als solches identifizieren würden, beschwören heute Prominente wie Magazine das Tragen von alten Schätzen. Weil es extra individuell daherkommt. Nachhaltiger ist es obendrein.

Das macht die Sache allerdings vollends unübersichtlich. Zu den tausend neuen Optionen gibt es jetzt noch zehntausend alte. Aber was davon ist wirklich toll und was nur oll? Karl Lagerfeld sagte: »Der Mode entkommt man nicht. Denn auch wenn Mode aus der Mode kommt, ist das schon wieder Mode.« Es klingt wie eine Drohung.

Womöglich flüchten sich deshalb so viele Menschen trotz aller angestrebten Einzigartigkeit am Ende doch zu dem, was alle anderen tragen. Der Sommerhit unter den Kleidern war in diesem Jahr ein gepunktetes langes Kleid von Zara. Damit konnte man nichts falsch machen. Levi’s verkauft nach eigenen Schätzungen jede Sekunde irgendwo auf der Welt eines seiner simplen Logo-T-Shirts. Der Mainstream als sicherer Hafen – und natürlich gilt auch das als total okay.

In einem Kommentar auf der Branchenseite Business of Fashion hieß es 2018, nach der Kunst sei nun auch die Mode in der Postmoderne angekommen. Alle möglichen Stilrichtungen existierten nebeneinander, jeder könne in Marcel Duchamps Sinne behaupten, irgendetwas sei »Fashion«. Darüber habe die Mode letztlich ihre Bedeutung verloren. Das Zeichen unserer Zeit sei nicht nur »Anything goes«, sondern vor allem »Whatever«, ganz egal.

Vielleicht werden die Zehnerjahre dereinst aber auch als Dekade betrachtet, in der sich neue Verbote etablierten – nicht ästhetisch, sondern gesellschaftspolitisch. Wer sich kürzlich die Diego-Maradona-Dokumentation anschaute, sah dort viel Ballonseide, einen Leo-Slip und Vokuhila-Frisuren aus den Achtzigern. Alles längst wieder topaktuell und tragbar. An einer Stelle allerdings ist Maradona im Nerzmantel zu sehen – und das würde heute mit schlimmeren Empörungswellen geahndet als jeder Koks-Skandal. Marken wie Gucci, Versace und Michael Kors haben Echtpelz bereits aus den Kollektionen verbannt. In den vergangenen Saisons wurden vermeintlich rassistische oder unsensible Accessoires sofort im Netz angeprangert und dann aus dem Sortiment genommen, etwa eine Pulloverkordel von Burberry, die an einen Galgenstrick erinnerte. Womöglich heißt es bald auch bei nicht nachhaltig produzierter Kleidung oder Lederwaren aus dem Amazonasgebiet: Geht gar nicht.