Vorsichtig fährt er an, auf den Pedalen stehend. Nach ein paar Metern biegt er um die Kurve. Und bleibt krachend mit dem Hinterrad hängen. »Das ging deutlich besser, als hier noch mehr Platz war!« Paul Smith demonstriert, wie er früher, wenn ihm langweilig war, um den tafelgroßen Besprechungstisch seines Büros im Londoner Stadtteil Covent Garden zu fahren pflegte. Aber inzwischen ist es zu eng. Der Tisch ist umringt von übervollen Regalen und Materialstapeln: Bücher auf Magazinen, alte VHS-Videokassetten auf Kisten, Tand, Kuriositäten, Souvenirs türmen sich meterhoch. »Es ist schon wieder mehr geworden«, entschuldigt er sich. Über Smiths ausufernde Sammelleidenschaft ist viel geschrieben worden. Regelmäßig führt er Reporter durch seine Arbeitsräume. Oder Fremde, die fast täglich bei ihm vor der Tür stehen, um ihm neuen Stoff vorbeizubringen. So wie neulich die Sammlung englischer Polizistenpfeifen, oder die kleine Blechdose, in der alte Briefmarken liegen, fein mit einem Bindfaden zu kleinen Stapel zusammengebunden. »Lovely, isn’t it?«
Man könnte Smiths Passion als Ausdruck jener Suche nach bleibender Schönheit verstehen, die irgendwann alle großen Modedesigner packt. Ralph Lauren sammelt seltene Oldtimer, Miuccia Prada moderne Kunst, und Karl Lagerfeld ist besessen von Büchern, die er zu Hunderttausenden hortet. Doch im Gegensatz zu diesen Leidenschaften, die das Schöngeistige mit dem Nützlichen, nämlich der Geldanlage verbinden, hat Paul Smith noch ein anderes Hobby, eines, das körperlich fordert: Er fährt Rennrad. Und gemäß seiner Natur sammelt er auch. An den Regalen lehnen Dutzende Räder. Dazu kommen Trikots berühmter Pedaleure und andere Memorabilia der berühmten Rundfahrten wie Giro und Tour de France. Aber eigentlich fährt er Rad, weil es etwas ist, was ihm geblieben ist aus seinem früheren Leben, als er noch nicht Modemacher war. Eine Art Phantomschmerz.
Um dieses Lebensthema soll es im Gespräch gehen, also raus. Auf den Sattel.
Es ist sonnig, aber kalt, vielleicht vier Grad über null. Für Briten also: Frühling. Paul Smith, erkältet und etwas heiser, reibt sich die Hände: »Lass uns ein paar Sonnenstrahlen einfangen!« Er trägt einen dunkelgrauen Anzug seiner neuen Spezialkollektion aus extrafein gesponnener, knitterfreier Merinowolle, den er zuvor im Büro begeistert mit den Händen zusammengeknüllt hat: »Sehen Sie, keine Falte!« Darüber einen Schal. Keinen Mantel. Letzten Sommer ist er siebzig geworden, aber seine nach hinten gekämmte, weiße Mähne lässt ihn jünger erscheinen.
Für die kleine Tour durch das Viertel rund um seinen Geschäftssitz in der Kean Street hat er ein mattschwarzes Fixie mit Rennradlenker des Londoner Herstellers Mercian aus seinem Fuhrpark ausgewählt, sein Dienstrad. Früher radelte er fast jeden Tag eine halbe Stunde von Notting Hill, wo er mit seiner Frau wohnt, in die Arbeit. Heute nur noch, wenn das Wetter stimmt. Das Rad hat keine Schutzbleche.
Smith fährt flott. Es geht am Royal Theatre vorbei Richtung Themse. Durch seine Anzughose zeichnen sich durchtrainierte Beine ab; er sagt, dass er jeden Tag um fünf Uhr aufsteht, um ein paar Bahnen zu schwimmen. An roten Ampeln wechselt er in den »track stand« und tänzelt auf der Stelle balancierend. Dann beschleunigt er, bis sein Jackett flattert. Kurven fährt er gern einhändig, die freie Hand lässig in die Sakkotasche gesteckt. Sein Fahrstil ist anarchistisch. Verkehrszeichen versteht Smith als Anregung. Er fährt, wo er eine Gasse sieht, zur Not auf dem Gehsteig oder auf der Gegenfahrbahn. In deutschen Städten hätte ihm längst jemand fluchend hinterhergebrüllt. In London, das zeigt sich schnell, kann man gar nicht anders Radfahren. Smith trägt keinen Helm.
Die Londoner Stadtverwaltung hat in den vergangenen Jahren viel Geld in die Hand genommen, um die Stadt fahrradfreundlicher zu gestalten: Es gibt in der Innenstadt an fast jeder Ecke Leihräder. Radwege wurden angelegt, vor allem in den Parks und entlang der Themse. Doch im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten, wo schon viel länger in die Fahrrad-Infrastruktur investiert wurde, ist London da immer noch Entwicklungsstadt. Das Grundproblem, sagt Smith, lässt sich nicht so leicht beheben: »Es ist einfach zu viel Verkehr!« Viele Radwege hörten abrupt auf, immer wieder gebe es schwere Unfälle. Einmal sei eine seiner Mitarbeiterinnen unter einen Lastwagen geraten und gestorben. Trotzdem komme fast seine gesamte Belegschaft mit dem Rad zur Arbeit, es gehe einfach schneller. Und natürlich gebe es schöne Strecken. An Sonntagen zieht es Smith in den Regent’s Park: »Da müssen Sie früh da sein, sonst wird es zu voll. Und im Richmond Park etwas außerhalb, im Südwesten Londons, bekommen Sie mit etwas Glück einen Hirsch zu sehen.«
Mehr als fünfzig Räder besitzt Smith. Darunter eins aus Bambus, eins aus armdickem gebogenen Eisenrohr, eins aus Carbon, das man mit dem kleinen Finger hochheben kann, aber auch ein Hollandrad, ein Vintage-Rad aus Indien und das Weltmeisterrad des britischen Rennfahrers Mark Cavendish. Einmal, Smith hatte Geburtstag, stand eine junge Frau aus Russland unangemeldet vor seinem Büro. Sie hatte ein Geschenk aus Moskau mitgebracht: ein schweres grünes Kommunisten-Rad. Es war am Tag seiner Geburt gebaut worden. Sie machten ein Foto zusammen, dann flog sie zurück. Das Rad ließ sie ihm.
Auch in den Städten, die er regelmäßig bereist, hat Smith Räder deponiert. In Tokio, der Hauptstadt eines seiner größten Absatzmärkte, eine Kopie des schwarzen Fixies, ebenso in Mailand und Florenz. In Paris, wo er seine Männerkollektionen zeigt, fährt er ein Hollandrad. Sie alle nutzt er für kurze Wege. Möchte Smith Strecke machen, fliegt er in sein Ferienhaus bei Lucca in der Toskana. Dort steht das Rad, das ihm der britische Tour-de-France-Sieger Bradley Wiggins geschenkt hat. Über die italienischen Landstraßen rollt er mit Helm. »Ich liebe die Freiheit, das Alleinsein in der Natur, das Geräusch der Reifen auf dem Asphalt.«
In der Endell Street, einer Club- und Restaurant-Meile in Covent Garden, stellt Smith kurz sein Rad ab. Hier im »Rock & Sole Plaice«, einem der ältesten Fish-&-Chips-Lokale Londons, isst er gern zu Mittag. Alain Ducasse auch. Gleich nebenan hat Dave Stewart von den Eurythmics ein altes Krankenhaus in einen Privatclub für Kreative umgebaut, den »Hospital Club«. Doch jetzt muss Smith erst einmal mit ein paar Passanten, die ihn erkannt haben, Selfies machen. Er tut das mit der Routine des Local Hero, aber auch seiner typischen Leutseligkeit, die nie aufgesetzt wirkt. Sofort entwickelt sich ein angeregtes Geplauder über britische Radmanufakturen und die Folgen des Brexit.
Im Gegensatz zu anderen Modedesignern umgibt Smith keine Aura der Unnahbarkeit. Er, der den Briten beigebracht hat, dass man auch mit Anzug entspannt und unkonventionell aussehen kann, der von der Queen für seine Verdienste zum Ritter geschlagen wurde, ist ein Mann des Volkes. Er mag Millionen verdienen und die englischen Premierminister mit Anzügen ausstatten. Für die Briten ist er immer der Hippie mit den bunten Streifen geblieben, der kein großes Gewese um seine Mode macht. Einer von ihnen.
1970 eröffnete Smith seine erste Boutique in seiner Heimatstadt Nottingham. Es war ein winziger Raum, drei mal drei Meter, in dem er selbstentworfene Anzüge feilbot mit Blümchenprint im Futter; aber auch allerlei Skurrilitäten, die er vorher auf Straßenmärkten gekauft hatte: Art-déco-Puderdöschen, Anstecker mit Bandnamen, Zigaretten-Etuis. Da fing das Sammeln an. Schon damals schneiderte er Anzüge für Popstars. Carla Sozzani, die Gründerin des weltbekannten Mailänder Concept-Stores »10 Corso Como«, habe seinen Laden als Vorbild für ihren genommen, erzählt Smith stolz. Er selbst begann sich bald aufs Entwerfen zu konzentrieren. Mitte der Neunzigerjahre kam er auf die Sache mit den bunten Streifen, die seinen internationalen Durchbruch einleitete. Heute ist er der Herr über Hunderte Boutiquen in 66 Ländern, die regelmäßig Millionengewinne abwerfen. Und das alles wegen eines Fahrradunfalls.
Als Jugendlicher wollte Paul Smith Radrennfahrer werden. Sein erstes Rennrad bekam er mit elf. »Ich genoss die Freiheit, ohne Eltern überall hinfahren zu können.« Nachts stand es neben seinem Bett. Mit 15 schmiss er die Schule in Nottingham. Wenn er nicht im Kaufhaus jobbte, trainierte er im Beeston Road Club. Bis zu jenem sonnigen Tag im Jahre 1964. Im Gegenlicht übersah er ein Auto, flog über die Motorhaube in die Windschutzscheibe und zog sich einen komplizierten offenen Beinbruch zu. Drei Monate verbrachte er liegend im Krankenhaus mit verschraubtem Bein. »Dort bin ich erwachsen geworden«, sagt Smith. Nicht so sehr wegen der eigenen Schmerzen, sondern weil erstmals der Tod Einzug in sein Leben hielt.
Fast jede Woche wurden schwerstverletzte Motorradfahrer eingeliefert. Nicht alle kamen durch. »Und einmal waren 16 Bergleute bei einem Grubenunglück gestorben, die halbtoten Überlebenden waren meine Bettnachbarn.« Seine Radkarriere lag auf Eis. Doch wie es im Leben oft ist, war es nicht so sehr das Trauma selbst, das seinem Lebensweg eine neue Richtung gab, sondern die Begleitumstände. Im Krankenhaus fand Smith auch neue Freunde, keine Fahrradenthusiasten, sondern Kunststudenten. Über sie lernte er später Pauline kennen, ebenfalls Kunststudentin, die Frau, mit der er bis heute verheiratet ist. »Von ihr habe ich alles gelernt, was man über Mode wissen muss.«
Auf der Höhe des Royal Opera House wird es Smith doch zu frisch, er wirft einen leichten Trenchcoat über. Zum Brexit hat Smith noch keine abgeschlossene Meinung, alles sei noch zu unklar, erklärt er einhändig fahrend. Aber natürlich wäre er gern in der EU geblieben. »So wie fast alle in Südengland.« Schließlich gehören Frankreich und Italien zu seinen großen Märkten. »Aber nicht mal mir als Geschäftsmann ist klar, was der Brexit wirklich bedeutet und wie es weitergeht.«
Der Markt sei schwieriger geworden, das Modebusiness feuere immer schneller. »Es gibt eine Übersättigung, zu viele Läden.« In den vergangenen Jahren musste auch er sein Unternehmen umstrukturieren, Hierarchien verschlanken, ein paar Linien streichen. Jetzt sei er wieder besser aufgestellt. Smith weiß, dass es auf dem umkämpften Modemarkt für privat geführte Unternehmen wie seines (er hält sechzig Prozent) nicht leichter wird. »Glücklicherweise habe ich einen großen weltweiten Fanclub.«
Zurück in seiner Geschäftszentrale geht es durchs Treppenhaus in sein Büro. Die Wände sind flächendeckend mit Bildern, Postern und Fotos behängt. Eines zeigt den Dalai Lama – mit Paul-Smith-Streifenschal. Auf vielen sieht man Smith mit Showgrößen. Mit Gary Oldman, mit Paul Weller, mit Patti Smith und immer wieder mit David Bowie, der sein Freund war.
Noch im November 2015 hatte Bowie ihn gebeten, ein T-Shirt zu entwerfen, um sein Album Blackstar zu bewerben. Am 10. Januar 2016, als Album und T-Shirt vorgestellt wurden, erreichte Smith und den Rest der Welt die Nachricht von Bowies Tod. »Ich rief sofort Pauline an, und das Erste, worüber wir sprachen, war unser letztes gemeinsames Abendessen mit David und Iman. Das Restaurant war im ersten Stock. Als wir gezahlt hatten und die Treppe heruntergingen, fing David plötzlich zu singen an, ein Evergreen von Nat King Cole.«
Smiths Blick wird nun ganz zärtlich, und er fängt leise zu singen an: »The party is over, it’s time to call it a day. The party’s over. It’s all over, my friend.«
Fotos: Mathilde Agius, Thomas Bärnthaler