Die bayerische Burka

In den Sechzigerjahren kam jemand im Münchner Rathaus auf die Idee, die Stadt und das Dirndl untrennbar zu verschnüren. Seitdem gehört die Tracht zum Oktoberfest wie sonst nur das Bier. Und wenn es so weitergeht, steht zu befürchten, dass bald auch der Rest der Republik Dirndl und Lederhosen trägt.

Es wird immer früher September. In diesem Jahr fiel er auf den März. Münchner merkten es daran, dass zusätzlich zu den sehr vielen Dirndlgeschäften sehr viele neue Dirndlgeschäfte und Trachten-Outlets eröffneten: »Jetzt zünftig aufbrezeln« befahlen sie schon kurz vor Ostern. Lang ist es noch nicht her, da machten zwei Monate vor Beginn des Oktoberfests die Dirndl- und Trachtengeschäfte beim Hauptbahnhof und Hofbräuhaus auf, und im Oktober, wenn der letzte Betrunkene von der Wiese unterhalb der Bavaria geräumt wurde, waren sie wieder weg.

Jetzt aber sind sie immer da, fast das ganze Jahr. Und sie breiten sich aus. Vielleicht wird es in zehn Jahren in München nur noch Dirndl- und Lederhosenläden geben.

Dirndl trägt man inzwischen auch in Stuttgart. Nicht, dass sie dort irgendeine Tradition hätten, aber in Stuttgart gibt es auf dem Wasen auch eine Art Oktoberfest im September, und zu dem zog jahrzehntelang jeder an, was er wollte - bis vor zwei Jahren die Veranstalter eine »Württemberg-Tracht« in Schwarz und Rot mit eingesticktem Landeswappen entwerfen ließen, die gleich ein Bombenerfolg war.

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Marcus Christen, einer der Veranstalter des Wasen, sagt, dass inzwischen mehr als die Hälfte der Besucher Tracht trage. Nicht nur das Wasen-Dirndl, in Stuttgart kann man längst auch in anderen Geschäften - bei Breuninger zum Beispiel -Trachten kaufen: »Die Leute kommen in normaler Kleidung zum Wasen, sehen das Dirndl - und fragen dann, ob sie ihre Jeans im Fundbüro abgeben können«, sagt Marcus Christen. Dirndl machen die Welt aber nicht nur schöner, sondern auch friedlicher: Seit auf dem Wasen Tracht getragen wird, muss die Polizei seltener ausrücken. Die Tracht mache die Leute gesitteter, weniger aggressiv - erklärt der Veranstalter.

Über die Hamburger haben wir noch nicht gesprochen. Die gute Nachricht: Sie können jetzt in Richtung Norden fahren, nach Sylt, um dort Dirndl zu kaufen. Diesen Sommer hat in Westerland eine Filiale der Sportalm aus Kitzbühel aufgemacht.

Leider gibt es keine Zahlen, wie viele Dirndl und Lederhosen jedes Jahr verkauft werden: Der Deutsche Textileinzelhandel in Köln hat keine Zahlen und der  Handelsverband Bayern auch nicht. Immerhin, C&A und eBay zählen: Bei C&A   gehen in Spitzenzeiten tausend Dirndl am Tag über den Ladentisch.    Deutschlandweit. Fast eine Viertelmillion »Trachtenkleidungsstücke« wurden    letztes Jahr bei eBay ersteigert, die meisten kurz vor dem Oktoberfest, erzählt Daphne Rauch, Pressesprecherin bei eBay.

Selbst Lebensmitteldiscounter wie Norma boten im September in 1300 Filialen in ganz Deutschland Dirndl für 49,99 Euro und Lederhosen für 99 Euro an.  Natürlich konnte man sie auch online bestellen. Wie bei Tchibo, da kostete das Dirndl jedoch 129 Euro. Das war am 7. September. Leider war es schon nach drei Tagen vergriffen, nur in den Filialen gab es sie ein paar Tage länger.

Auffallend ist, dass sich kein Nord-Süd-Gefälle erkennen lässt, sagt die Pressesprecherin von Tchibo und fügt an, dass die Produkte einer derartigen »Limited Edition« üblicherweise vier Wochen erhältlich sind, sie vermutet aber, dass das Dirndl wohl aber in dieser Woche, also nach nur elf Tagen, komplett ausverkauft sein wird.

Man muss ja auch nicht mehr nach München fahren, um beim Oktoberfest sein Dirndl anzuziehen. Tippt man bei Google hinter dem Wort Oktoberfest eine beliebige deutsche Großstadt ein - Kiel oder Hamburg oder Frankfurt am Main, stets wird man fündig, sogar in Görlitz oder Timmendorf an der Ostsee. Immer wird im Herbst gefeiert. Beim Frankfurter Oktoberfest war für die Eröffnung gestern der König von Mallorca, Jürgen Drews, angekündigt. Wenigstens das ist den Münchnern bisher erspart geblieben.

In Berlin gibt es gleich sechs Oktoberfeste, dazu kommt in Bayern noch eine unüberschaubare Zahl an Wiesn-Warm-ups, Dirndl-Partys, Pre-Wiesn-Partys, After-Wiesn-Partys, Dirndl-Dances, Wiesn-Gogos und Veranstaltungen wie »Die Nacht der Tracht« im Münchner Löwenbräukeller, bei der es sich eigentlich um zwei Nächte im Mai handelt: zweimal 4000 Karten sofort ausverkauft.

Das Dirndl war ja mal wie die Lederhose ein teures Gewand: 500 Mark hat es leicht gekostet und 500 Euro kann man heute noch leicht hinlegen für ein Kleid, eine Schürze und eine Bluse aus Leinen oder Seide oder Baumwolle. Doch das  Gewand ist demokratisch geworden, käuflich für jeden, der sechzig Euro   investiert in eine Handvoll Kleid aus Polyester, produziert meist in der Türkei, in Ungarn oder Indien; die teuren aber werden in der Regel in Deutschland oder Österreich hergestellt. Die Lederhose hat diesen Preisverfall allerdings nicht mitgemacht, selbst günstiges Leder ist immer noch teuer.

Kommen wir zu den großen Fragen: Darf man mit dem Dirndl eigentlich jedes Schindluder treiben? Es aus Tüll und Glitzer zusammennähen wie Lola Paltinger in München bei ihrem Label »Lollipop und Alpenrock«? Aus indischen Saris wie die Designerin Christina Huber? Afrikanische Farben und Drucke verwenden, aber keine Schürze, und es dennoch Dirndl nennen, wie Marie Darouiche und Rahmée Wetterich es machen?

Ja, man darf, denn eine ernste, echte Tradition existiert nicht. Das Dirndl gibt es erst seit Ende des 19. Jahrhunderts und war Mägden und Dienstmädchen ein billiges Arbeitsgewand, das heißt, zum ersten Oktoberfest vor 200 Jahren gab es noch gar kein Dirndl. Auch später wäre keine Magd, keine Bäuerin auf die Idee gekommen, mit dem Alltagskittel in die Stadt zu fahren. Umgekehrt wäre eine Städterin im Dirndl als Landpomeranze angesehen worden.

Erst Ende des 19. Jahrhunderts, als die Oberschicht begann, die Sommerfrische in den Alpen zu verbringen, ließen sich die Frauen Gewänder schneidern, deren Schnitt einem Dirndl ähnelte, die jedoch mit Karo- oder Blümchenmustern aufgepeppt wurden. Das Dirndl stand also von Beginn an für eine städtische Vorstellung vom Land. Und modisch übersetzt wird es bis heute.

Was aber kaum noch einer weiß: Die Verbindung von Oktoberfest und Tracht, die vielen Münchnern ja als fast gottgegeben erscheint, ist eine Erfindung des  Münchner Stadtmarketings aus den Sechzigerjahren - für die Bewerbung zu den Olympischen Spielen. Und als München gewann, wurden sämtliche Hostessen in hellblaue Dirndl mit weißen Blusen gesteckt, die Farben des bayerischen Himmels. Den Rest besorgte Silvia Sommerlath: Als sie in ihrer Olympia-Tracht den schwedischen Kronprinzen eroberte, gab es kein Halten mehr: Jede Frau wollte jetzt ein Dirndl haben.

Der Hype ebbte bald wieder ab, kam in den Neunzigerjahren erneut zum Vorschein, jedoch in seiner grausigsten Ausprägung, als Landhausmode mit Sackkleidern im Rupfen- und Jutestil. Ein Grund, warum sich junge Menschen noch vor zwanzig Jahren lieber ins Knie geschossen hätten, als freiwillig etwas, was an Tracht erinnert, ins Bierzelt anzuziehen. Heute ist ja das Gegenteil der Fall, viele junge Leute sind überzeugt, ohne Dirndl oder Lederhose dürfe man gar nicht auf die Wiesn gehen.

Um das Jahr 2000 herum kam die Trendwende, die Begeisterung für Trachten begann. Ende? Nicht in Sicht. Die Volkskundlerin Simone Egger von der Uni München hat die Gründe dafür untersucht. Sie wertete über Jahre hinweg Zeitungsartikel aus, befragte Wiesnbesucher, sprach mit Herstellern. Das Ergebnis: Knapp die Hälfte der von ihr Befragten gab an, 2004 erstmals in Tracht auf die Wiesn gegangen zu sein.

Simone Eggers Erklärung: Vor der Jahrtausendwende blickten alle nach Berlin. Nach dem Jahr 2000 aber erfuhr München wieder einen Aufschwung, auch, weil es einen Gegenentwurf zu Berlin darstellt, als erfolgreiche und positiv bebilderte Stadt, »das wirkt nach außen und hat eine magnetische Anziehungskraft«. Und es gibt eine Formensprache für diese Stadt, über die Berlin oder Offenbach nicht verfügen - das Dirndl. Und zum Dirndl das Oktoberfest, eine einzigartige Veranstaltung mit weltweiter Aufmerksamkeit.

Bild: Dirndl von Sportalm Kitzbühel, gesehen bei Ludwig Beck

Foto: Ralf Zimmermann