Venedig besuchen und dann nicht auf die berühmte Rialtobrücke können – was für ein Reinfall, die amerikanischen Touristen am Fuß des Übergangs sind fassungslos. Zumal dort oben auf dem Baugerüst ja gut sichtbar eine Gruppe Menschen herumturnt und Fotos macht. »Warum dürfen die da rauf?«, fragt eine Dame pikiert. Man könnte sagen: weil sie fünf Millionen Euro dafür zahlen.
Der Diesel-Gründer Renzo Rosso ist am Morgen mit einer Delegation von wichtigen Instagram-Bloggern auf die Baustelle gekommen. Die Stadtverwaltung hat die Blogger eingeladen, damit sie über die vergangene Kunstbiennale berichten. Rosso hat diesen Termin zugesagt, damit sie nebenbei sein großzügiges Engagement zum Thema machen. Er zahlt die Restaurierung des mehr als 400 Jahre alten Bauwerks komplett aus eigener Tasche. Was sich der marode italienische Staat nicht leisten kann, erledigen jetzt die Vorzeige-Modeunternehmer: Fendi, die sich an der Instandhaltung des Trevi-Brunnens beteiligten, Diego Della Valle von Tod’s, der Millionen für die Restaurierung des Kolosseums ausgibt, Bulgari, die die Kosten für die Spanische Treppe übernehmen, und eben Rosso.
Noch ein letztes Selfie mit Bauarbeiterhelm auf den plattgedrückten Locken, Daumen nach oben, Canal Grande zu Füßen, dann klettert Rosso in Turnschuhen und schmalen Diesel-Jeans vom Gerüst auf die Promenade, wo sein Boot auf ihn wartet. Der kurze Weg dorthin wird ein Parcours aus Handschlägen und Schulter-klopfern. Der Hauptsitz von Diesel in Breganze liegt nur eine Dreiviertelstunde entfernt, alle kennen ihn hier, den Bauernsohn aus Brugine, einem Dorf in der Po-Ebene, der es aus dem Nichts zum Mode-Milliardär gebracht hat. Beim US-Magazin Forbes wird er aktuell als der elftreichste Italiener geführt. Armani liegt noch vor ihm, Miuccia Prada schon dahinter.
Wie Rosso das geschafft hat, kann man ausführlich nachlesen. Bei ihm selbst. 2012 brachte er seinen Wirtschaftsratgeber Mach doch mal was Verrücktes heraus, passend zur sehr plakativen »Be Stupid«-Werbekampagne von Diesel, in der auf ironische Weise stets das vermeintlich Bescheuerte über das Vernünftige gestellt wurde. Das ist seine Philosophie. »Ich halte mich nicht für ein Genie oder für intelligenter als die meisten anderen«, sagt Rosso. »Smart may have the brains, but stupid has the balls«, hieß ein Slogan aus der Kampagne – und er hat, etwas höflicher ausgedrückt, tatsächlich die dickere Hose. Also traf er viele Entscheidungen, die andere wahrscheinlich für zu riskant, zu provokant, zu abwegig gehalten hätten. Er entschied sich für einen indianischen Punk als Firmenlogo, er verkaufte abgeschabte Jeans, die seine ersten Kunden für Produktionsfehler hielten, aber teurer waren als die Hosen der Konkurrenz, und wenn ein Modell anfing, sich richtig gut zu verkaufen, nahm er es vom Markt. Am Ende war er damit erfolgreicher als all die Schlauberger.
Neben Diesel gehören zu seiner Unternehmensgruppe OTB (Only the Brave) mittlerweile auch die Marken Maison Margiela, Viktor & Rolf, Marni sowie Staff International, die unter anderem für Marc Jacobs und Vivienne Westwood die Herstellung und den Vertrieb übernimmt. Nach den französischen Luxusgruppen LVMH (Louis Vuitton, Givenchy) und Kering (Gucci, Saint Laurent) ist OTB aktuell die Nummer drei der Branche. Das ist das eigentlich Verrückte an diesem Mann: dass ausgerechnet er geschafft hat, woran beispielsweise Prada mit den Zukäufen Jil Sander und Helmut Lang in den Neunzigerjahren spektakulär scheiterte, nämlich einen italienischen Modekonzern aufzubauen. Bis heute meinen viele in der Branche, Renzo Rosso habe keine Ahnung von Luxusmode. Womöglich ist genau das sein Erfolgsgeheimnis.
Er hat auch nie behauptet, viel von Luxusmode zu verstehen. Staff International kaufte er 1999 quasi aus der Not heraus. Der Firma drohte die Pleite, dummerweise fertigte sie auch die hochwertigsten Teile für Diesel, etwa aufwendig besetzte Lederjacken. Am Ende ohne Ware dastehen? Oder schnell die Firma kaufen? Er entschied sich für den Kauf, mit einer eigenen Produktion ließen sich ja auch viel höhere Margen erzielen. Das reizte ihn. Außerdem schauten die Schneider herab auf den neuen Besitzer, der bisher »nur Jeans« gemacht hatte. Das reizte ihn noch mehr. Kurze Zeit später schrieb das Unternehmen wieder schwarze Zahlen.
Rosso erzählt gern die Geschichte von dem Kaninchen, das er von einem Freund geschenkt bekam. Als er feststellte, dass es trächtig war, gab er die Jungen nicht etwa an andere Freunde weiter, sondern baute auf dem Hof seiner Eltern einen Zaun mit Tränken und stieg in die Kaninchenzucht ein. Am Wochenende verkaufte er sie auf dem Wochenmarkt. Da war er zwölf. Sie kenne keinen kreativeren Verkäufer, sagt Franca Sozzani, die einflussreiche Chefredakteurin der italienischen Vogue, die Rosso noch aus seinen Anfängen kennt. »Hart gearbeitet hat er sowieso immer. Aber er war auch bei allem besonders enthusiastisch«, sagt Sozzani.
»Dank Staff entdeckte ich die geheimnisvolle Welt faszinierender Designer und lernte die Maison Martin Margiela kennen, ein ungewöhnliches Modehaus«, schreibt Rosso in seinem Buch. Es klingt nach Alice im Wunderland, nach kindlichem Staunen darüber, wo er da jetzt reingeraten ist. Und nicht mehr herauswill.
Noch vor einigen Jahren beschwerte er sich bei einem Treffen in Mailand bitterlich über »all die Snobs in der Luxusbranche«. Sie würden ihn nicht genügend respektieren. Mittlerweile klingt das anders. »Diego Della Valle, Pinault, Bertelli, der Mann von Frau Prada – ich komme mit allen wunderbar aus«, betont er ein ums andere Mal. Er mag nicht einer von ihnen sein, aber er gehört jetzt irgendwie dazu.
Die Marke Margiela kaufte Rosso 2002. Der diskrete, minimalistische belgische Designer und der Italiener, der weckergroße Uhren und Lederkettchen liebt, der sich seine Initialen auf die rechte Hand tätowieren ließ, ein R auf den Mittelfinger, ein R auf den Ringfinger – eigentlich ein Witz der Modegeschichte. »Aber es war ja Martin, der auf mich zukam, nicht umgekehrt«, sagt Rosso. »Martin hatte sogar ein Angebot von LVMH, aber er wollte nicht in die üblichen Mühlen des Systems geraten.« Er habe ihm alle kreativen Freiheiten gelassen und sich lediglich um Finanzierung, Logistik und Vertrieb gekümmert.
Abgenommen haben ihm das die Fans der Marke nie. Viele glauben bis heute, Margiela sei seinetwegen 2009 ausgestiegen. Rosso kann mit den Gerüchten gut leben. Das Label machte jahrelang keinen Gewinn, dabei hätte er es locker melken können: mehr Accessoires, mehr Parfum – machte er lange nicht. Er installierte nicht einmal einen neuen Designer, sondern ließ ein namenloses Kreativteam die Arbeit fortführen. Bis vor gut eineinhalb Jahren, als er John Galliano zum Chefdesigner machte.
»Da hat wieder die halbe Welt gesagt, Renzo, das kannst du nicht bringen!«, sagt Rosso. Kontaktiert hatte er ihn natürlich längst. Genie ist Genie, selbst wenn es gerade ein mittelschweres Drogen- und ein gewaltiges Imageproblem hatte. Was die meisten aus der Modewelt mit all ihren Befindlichkeiten nie gewagt hätten, war für Rosso geradezu eine Steilvorlage, ein weiteres Kapitel seiner »Mach mal was Verrücktes«-Saga. Modeexperten hätten nicht nur wegen Gallianos antisemitischer Aussagen gezögert, sondern auch fachlich schien es zumindest gewagt, den bei Dior für großes Kostümdrama zuständigen Galliano für eine so minimalistische Marke zu besetzen. Rosso dagegen denkt eher in Marketinggeschichten: der gefallene, exzentrische Stardesigner, geläutert im weißen Kittel. Die Modekritiken fallen bisher nicht berauschend aus, aber die Umsätze sind bereits um 30 Prozent gestiegen; Frauen wie Amal Clooney und Cate Blanchett tragen plötzlich Kleider von Maison Margiela.
In Renzo Rossos Instagram-Account steht als Selbstbeschreibung: »Siebenfacher Vater, Präsident von OTB, Lebensenthusiast.« Ende 2015 hat Rossos Freundin Arianna das erste Kind von ihm bekommen, sein Sohn Stefano wurde fast zur gleichen Zeit zum ersten Mal Vater. »Auf einen Schlag Vater und Großvater werden«, sagt Rosso: »Ganz schön verrückt, oder?« Die Fotogalerie auf Instagram ist voll von Buddy-Bildern. Er mit Pharrell Williams im Arm, mit Rihanna, mit dem Dalai Lama, dem er seinen »RR«-Privatjet leiht, wenn der in Deutschland unterwegs ist. Zu Rossos engen Freunden zählen der Ex-Fußballer Roberto Baggio, der Rapper Jovanotti und der Fiat-Erbe Lapo Elkann, der sagt, Rosso sei immer für ihn dagewesen. Auch Mitarbeiter beschreiben Rosso als äußerst loyal. Viele arbeiten schon eine halbe Ewigkeit für ihn. Sein Handschlag sei immer noch sein wichtigster Vertrag, sagt Rosso. Während sich die italienische Modewelt gern in den Haaren liegt, ist Rosso im Windschatten an vielen vorbeigezogen. Mit Margiela sei er übrigens noch in gutem Kontakt, sagt er. »Ich habe ihn sogar mit John Galliano zusammengesetzt.« Anschließend habe Margiela zur geplanten Verpflichtung von Galliano gesagt: Renzo, du würdest mich sehr glücklich machen. Rosso liebt das Pathos.
Und die Pose. Am Mittag ist er mit seinem Sohn und einigen Mitarbeitern im Garten der Biennale in Venedig unterwegs. Die meiste Zeit ist er unauffindbar. Irgendwann entdeckt man ihn im israelischen Pavillon. Zwischen zwei Fensterläden, die zur Installation gehören, steht Rosso da und räkelt sich, als wäre er gerade aufgestanden.
Ähnlich lustig fand er wahrscheinlich das Fotoshooting damals für ein deutsches Magazin, in dem er sich mit Geldkoffer in der Hand ablichten ließ. Er hatte gerade die Labels Viktor & Rolf und Sophia Kokosalaki gekauft. Und kündigte an, noch lange nicht fertig zu sein. Dicke Hose, die Taschen voller Geld.
Dummerweise musste er den Geldkoffer dann erst einmal wieder wegstellen. Kokosalaki floppte und wurde vom Markt genommen. Die Konzeptdesigner Viktor & Rolf wurden schwächer, je massentauglicher sie werden sollten. Beim Versuch, Valentino zu kaufen, die italienische Haute-Couture-Marke schlechthin, wurde Rosso von einer Bietergruppe um die Königsfamilie von Katar ausgebootet. Und über all dem vernachlässigte er auch noch seine Cashcow Diesel. 2012 sollen sich die Gewinne halbiert haben. Vielleicht wollte er zur Abwechslung zu schlau sein.
Er ist seitdem vorsichtiger geworden. Er und sein Sohn Stefano, der mittlerweile seine rechte Hand ist, schauen sich die Labels jetzt noch genauer an, bevor sie investieren. Die Marken müssen nicht irgendwie rebellisch daherkommen, sondern wirklich Potenzial haben. So wie Marni, das kunstaffine Label der scheuen Designerin Consuelo Castiglioni, das Renzo Rosso 2012 kaufte und das seitdem kräftig expandiert. Bei Damir Doma, dem talentierten Deutschkroaten, wurde Rosso bereits auf Modenschauen gesichtet. Und Rosso plauderte aus, dass er sich mit Alber Elbaz getroffen habe, dem bei Lanvin geschassten Designer. Der brauche ja dringend seine eigene Marke.
Vor allem konzentrierte Rosso sich wieder auf sein Kerngeschäft und holte den ehemaligen Lady- Gaga-Stylisten Nicola Formichetti zu Diesel, dem er gern das maximale Kompliment macht, der Junge sei noch verrückter als er. Die Jogg Jeans, eine Mischung aus Jeans und Jogginghose, ist schon mal ein Bestseller. Bei seiner Audienz brachte Rosso dem Papst eine als Geschenk mit. In Weiß, Franziskus’ Initialen und eine Argentinienflagge eingestickt.
Rosso hat sich für diesen Abend in Venedig umgezogen. Es geht zur Vernissage von Marni, also trägt er jetzt ein schwarzweißes Hemd und ein Jackett der Marke. Die Fahrt im Wassertaxi führt an seinem neuen Apartment vorbei, das gegenüber der Kunstsammlung von Kering-Gründer François Pinault liegt. Ein Kunstmuseum, ja, das könne er sich irgendwann vorstellen, sagt Rosso. Prada und Louis Vuitton haben ja jetzt auch ihre Fondazioni. »Aber ich bin noch nicht so weit.« Gerade will ihm nicht der Name des brasilianischen Künstlers einfallen, dessen Holzwerke Marni in der Ausstellung präsentiert. Dabei hängt das Plakat dazu in Riesengröße an der Rialtobrücke. Ein hübscher Nebeneffekt seiner großzügigen Aufbauhilfe.
Das Marni-Hemd muss er dann ausziehen. Er schaut entschuldigend, dass er jetzt da mit nacktem Oberkörper im Boot sitzt, aber es spannt irgendwie. »Zu heiß gewaschen«, murmelt Rosso und zieht sich schnell ein Diesel-Hemd über.
Fotos: Ola Rindal