Ich möchte ein sogenanntes Oberteil kaufen, denn meine obere Körperhälfte soll jetzt im kühlen Herbst sowohl modisch als auch möglichst warm verhüllt werden. Ich gehe dazu in ein entsprechendes Geschäft, im Internet oder in der Fußgängerzone, sehe dort an einer Schaufensterpuppe oder einem Model ein schönes Oberteil und beschließe, es zu erwerben. Ich schaue also nach meiner Größe, die weder Schaufensterpuppen- noch Modelmaßen entspricht, denn ich bin eine eher große Frau und zwar in alle Himmelsrichtungen. Das Oberteil gibt es sogar in meiner Größe.
Das ist nicht selbstverständlich, denn meine Konfektionsgröße liegt haarscharf über der der deutschen Durchschnittsfrau. Und da wir immer noch im kapitalistischen Patriarchat mit seinen bekannten Schönheitsnormen leben, darf eine leicht überdurchschnittlich große Frau wie ich eigentlich nicht erwarten, ihren Oberkörper modisch ansprechend verhüllen zu dürfen.
Ich ziehe das Oberteil also an und stelle dann fest, was ich immer feststelle, wenn ich Oberteile kaufe: je größer die Größe, desto breiter das Oberteil. Unter meinen Achseln schlackert der Stoff, hier ist reichlich Platz. Allerdings kann ich die Arme nicht heben, denn in der Länge hat sich das Oberteil kaum spürbar vergrößert und endet knapp unterhalb meines Bauchnabels. Würde ich meine Arme anheben, was im Alltag nützlich sein kann, würde ich meinen Bauch entblößen. Es ist nicht so, dass ich der Welt meinen Bauch nicht zumuten möchte, es ist umgekehrt: Ich will meinem Bauch die Welt da draußen nicht zumuten. Er ist weich und rund und sensibel und will einfach nur seine Ruhe haben, bedeckt von ausreichend Stoff.
Kleinen Frauen müssen bei den Kindersachen schauen, die Großen bei den Herren
Die meisten konventionellen Klamotten werden nach einem festgelegten Schema gradiert, derselbe Schnitt also in unterschiedliche Konfektionsgrößen übertragen. Das bedeutet, dass ein Unisex-Standard-T-Shirt zwischen den Größen S und XXL zwar rund sieben Zentimeter breiter wird, aber nur drei Zentimeter länger. Das mag praktisch sein, wenn man einen genau diesem Schema entsprechenden Körperbau hat. Für Menschen, die sehr groß oder sehr klein sind oder einen Bauch haben oder einen langen Oberkörper oder große Brüste, ist das ziemlicher Mist.
Beim Jeanskaufen ist es ja auch möglich, das Verhältnis von Bundweite und Hosenbeinlänge zu variieren, für BHs gibt es unendliche Variationen zwischen Brustumfang und Körbchengröße – bei Oberteilen gibt es diese Option in aller Regel nicht. Stattdessen werden Frauen auf der Suche nach passenden und modischen Oberteilen gern in Sonderabteilungen geschickt: Die besonders kleinen Frauen müssen bei den Kindersachen schauen, die besonders Großen bei den Herren und die Dicken bitte im »Big is beautiful«-Segment, das meistens identisch ist mit der Abteilung für Schwangerschaftsmode. Dort gibt es dann in aller Regel Zelte unter denen jede Körperkontur verschwindet oder besonders eng anliegende Pellen für bauchbewusste Schwangere.
Beides ist nicht wirklich zielführend für Frauen jenseits Konfektionsgröße 42, die einfach nur ein passendes T-Shirt suchen, in dem der Bauch nicht rausguckt. Ich weiß, was einige von Ihnen jetzt denken: Soll sie halt mal was unternehmen gegen ihren Bauch! Warum hungert sie ihren Körperumfang nicht einfach in ein Standardmaß, wenn sie T-Shirts tragen möchte? Das Leben ist kein Wunschkonzert. Aber wenn ich mir und meinem Bauch doch etwas wünschen dürfte, dann, dass diese Standards ab und zu den Realitäten angepasst werden. Und die besagen, dass wahrscheinlich noch nie eine große Frau, ob mit oder ohne Bauch, eine Umkleidekabine betreten und ein Oberteil angezogen und dann gesagt hat: Ach schade, es passt eigentlich gut, aber es ist einfach zu lang.