Hinter den Kulissen

Die Mode der Saison zeigen wir diesmal in Venedig. Aber wie fühlt es sich eigentlich an, dort zu leben? Fünf Einwohnerinnen und Einwohner erzählen vom Alltag zwischen den Touristen.

Die Venezianerinnen Benedetta Fullin (l.) und Contessa Elisabetta Czarnocki Lucheschi (r.) sowie der Venezianer Domenico Rossi (M.).

Fotos: Lorenzo Vitturi

Im Grünen

Platz ist knapp in Venedig. Ein eigener Garten: purer Luxus. Einer der schönsten und größten Gärten der Stadt ist im Besitz der Contessa Elisabetta Czarnocki Lucheschi. Und ja: Man kann gern mal vorbeischauen! 

Contessa Elisabetta Czarnocki Lucheschi

Meistgelesen diese Woche:

»Meine Familie hat den Palazzo Nani Bernardo vor vielen Generationen gekauft. Wann genau, weiß ich leider nicht. Die Unterlagen sind über die Jahre verloren gegangen. Gebaut wurde der Palast von der gleichnamigen Familie im 16. Jahrhundert, er liegt direkt am Canal Grande, neben dem berühmten Ca’ Rezzonico. Ca’ ist die venezianische Kurzform von Casa, so werden die Paläste in der ganzen Stadt genannt. Früher haben wir als Familie den zweiten und dritten Stock bewohnt, ich lebe heute im ersten. Weil es ziemlich kostenintensiv ist, so einen Palazzo zu unterhalten, kann man ihn für Firmenevents, Hochzeiten, Maskenbälle mieten, und es gibt zwei Ferienapartments. Wer ein privates Abendessen mit mir als Contessa möchte, kann selbst das buchen. Das Schönste am ganzen Palazzo ist aber der Garten. Es heißt, er sei der größte der Stadt. Als nebenan der Ca’ Rezzonico erbaut wurde, ließen meine Vorfahren die vielen kleinen Häuser abreißen, die dort standen, um ein bisschen mehr Abstand zu diesem mächtigen Gebäude zu haben. Wir haben außerdem die höchste Palme Venedigs! Leider hat das Hochwasser im November 2019 den Garten komplett verwüstet, eine Windhose hat fast alle Bäume umgerissen. Als ich ihn wieder herrichten lassen wollte, kam uns die Pandemie dazwischen. Zum Glück ist er nun wieder ansehnlich. So einen Palazzo muss man schon sehr lieben, denn man hat ständig damit zu tun.«

Am Ruder

Die Gondolieri in Venedig sind weltberühmt. Die Kunst, ein solches Boot im Stehen zu lenken, muss man allerdings mühsam lernen. Benedetta Fullin ist Mitglied in einem der Ruderclubs der Stadt. Mit gutem Grund, sagt sie: Vom Wasser aus sei die Stadt am allerschönsten.

Benedetta Fullin, 37, Gastronomin

»Ich lebe im Viertel Castello, nahe der Via Garibaldi, da ist alles noch ein bisschen ruhiger als im Rest der Stadt. Als Venezianerin habe ich den Vorteil, dass ich die immer gleichen Wege, auf denen sich die Touristen durch die Stadt schieben, umgehen kann, weil ich jeden Schleichweg kenne. Wenn ich aber mal richtig durchatmen will, gehe ich aufs Wasser. Ich wollte rudern lernen, seit ich klein war, hatte aber nie Zeit dafür, weil ich zwei Restaurants führe. Während des ersten Lockdowns, als ich nicht arbeiten durfte, konnte ich mir diesen Traum endlich erfüllen. Beigebracht hat mir das mein Lehrer ›Baffo‹, das bedeutet Schnauzbart, und den trägt er auch stolz im Gesicht. Beim Ruderstil Voga alla Veneta steht man in einer flachen Gondel mit einem langen Ruder in der Hand und schaut in Fahrtrichtung, meistens fahre ich mit meinem Freund und stehe am liebsten hinten. Damit ich auch an der Vogalonga teilnehmen kann, einem Wettkampf, der jedes Jahr um Pfingsten herum stattfindet, bin ich Mitglied in einem Ruderclub geworden. Venedig mag der schönste Ort der Welt sein, aber über das glitzernde Meer in die Lagune zu fahren und den Möwen bei ihren Flugmanövern zuzusehen, ist das Beste, was mir diese Stadt schenken kann.«

Schön bunt

Auf Venedigs kleiner Nachbarinsel Murano werden seit Jahrhunderten Kunstwerke aus Glas gefertigt. Cristiano Ferro handelt mit halbfertigem Glas, das die Künstler veredeln. Nach 15 Jahren auf dem Festland lebt er jetzt auch wieder auf Murano: »Ich musste einfach zurück auf meine Insel.«

Cristiano Ferro, 52, Unternehmer auf Murano

»Wir sind einer der wenigen Betriebe weltweit, die Glas noch als halbfertiges Produkt herstellen. Meine Familie macht das schon seit vielen Generationen, heute führe ich die Firma mit meinem Bruder und zwei Cousins. Aus den farbigen Blöcken, Platten oder Röhren können unsere Kunden dann Vasen, Trinkgläser, Kronleuchter oder Briefbeschwerer herstellen, ohne das Material auf so hohe Temperaturen erhitzen zu müssen wie wir bei der Herstellung. Das Glas produzieren wir in etwa 300 verschiedenen Farben, möglich wären mehr als tausend. Ich habe 15 Jahre lang auf dem Festland gelebt, dann musste ich einfach zurück auf meine Insel. Schließlich bin ich auf Murano geboren und damit echter Muraneser. Viele haben keine Lust mehr auf das Leben hier: Für die Jungen ist es zu langweilig, für die Alten zu beschwerlich. Ich bin gespannt, wohin es meine beiden Kinder später mal treibt. Ich glaube, dass es nur wenige Orte auf der Welt gibt, an denen man so schön leben kann wie hier. Deswegen empfehle ich jedem, eine Nacht auf Murano zu verbringen. Abends, wenn sich die Insel leert, laufe ich am liebsten zum Leuchtturm. Dort geht im Sommer eine angenehme Brise, und man kann auf die Lagune, die Friedhofsinsel San Michele und die Stadt gucken. Da geht mir das Herz auf.«

Lieferservice

Ohne Dienstleister wie Eduard Onofrei wäre das Leben in Venedig nicht denkbar. Der Unternehmer versorgt viele Hotels der Stadt mit frischer Wäsche – von seinem Boot aus. Um den Stau auf den Wasserstraßen zu meiden, beginnt er seinen Arbeitstag schon in der Nacht.

Eduard Onofrei, 27, Lieferant

»In Venedig habe ich mich schon als Kind verliebt. Als ich zehn Jahre alt war, kam meine Familie aus Rumänien nach Italien. Wohnen kann ich hier allerdings nicht, die Mieten sind zu hoch. Ich beliefere etwa hundert Hotels und Restaurants mit frischer Bettwäsche und Handtüchern. Dafür habe ich ein eigenes Mototopo, ein flaches Boot mit großer Ladefläche, das man häufig in der Lagune von Venedig findet. Mein Boot ist 22,5 Meter lang, dabei ist Platz das größte Problem in der Stadt: Die Kanäle sind oft sehr schmal und voll mit Taxen, Gondeln und Vaporetti, den Bus-Booten. Deswegen fange ich schon um halb fünf Uhr morgens an zu arbeiten. Meine Arbeit ist sehr anstrengend, weil wir ja alles zu Fuß anliefern müssen. Nachts liegt mein Boot an der künstlich aufgeschütteten Insel Tronchetto, gleich hinter der Brücke, die vom Festland nach Venedig führt. Dort liefern die Lastwagen ihre Waren an. Mit dem Anlegeplatz hatte ich großes Glück, die Wartelisten für die wenigen Plätze sind irre lang. Abends trifft man mich rund um die Rialtobrücke und auf dem Campo Santa Margherita. Meine Lieblingsorte sind aber die verlassenen Inseln in der Lagune, zum Beispiel die Insel Poveglia. Dort wurden früher die Kranken und Alten untergebracht, seit den Siebzigerjahren ist die Insel menschenleer.«

Im Netz

Moeche-Fischer wie Domenico Rossi sind in der Lagune vor Venedig auf der Jagd nach ganz besonderen Krabben. Die Arbeit ist hart, die Ausbeute oft gering – aber Rossi sagt: »Ich möchte nichts anderes machen.«

Domenico Rossi, 51, Krabben-Fischer

»Mit sechs Jahren habe ich meinem Vater zum ersten Mal beim Fischen geholfen. So wie er bin ich auf Krabben spezialisiert, die auf Venezianisch Moeche heißen. Die gibt es nur ein paar Wochen lang im Frühling und im Herbst, da legen die Tiere ihren Rückenpanzer ab. Wenn sie die zu kleine Schale verlassen und sich noch keine neue gebildet hat, kann man sie im Ganzen essen. Ihr Fleisch ist herrlich zart, eine Spezialität. Das Problem: Nicht alle Krabben häuten sich zur selben Zeit. Es kann sein, dass mir von hundert Kilo nur fünf bleiben, weil ich die anderen wieder ins Meer werfen muss. Im Boot gucke ich frühmorgens die Netze durch und sortiere sie per Hand aus. Die Auswahl kommt in eine Holzkiste, die im Wasser hängt. Ich schaue täglich, wie weit sie gewachsen sind. Den richtigen Zeitpunkt darf man nicht verpassen, sonst sind die Krabben wieder zu hart. Man braucht ein gutes Auge, viel Erfahrung und Geduld für diese jahrhundertealte Tradition des Fischens. Es ist eine Menge Arbeit für wenig Ausbeute, aber ich möchte nichts anderes machen. In der nördlichen Lagune sind wir nur noch zwanzig Moeche-Fischer. Unser größtes Problem ist der Klimawandel, seit ein paar Jahren hat er einen direkten Einfluss auf unseren Fang. Mein Sohn wäre auch gern Fischer geworden. Aber das habe ich ihm verboten, es lohnt sich nicht. Er arbeitet jetzt in einem Hotel. Übrigens: Am besten schmecken die Krabben frittiert.«