Wohin geht die Mode, Raf Simons?

Der einflussreichste Designer der Gegenwart schaut in die Zukunft – auch wenn er findet: "Nicht zu wissen, was kommt, ist doch sehr romantisch."

SZ-Magazin: Herr Simons, Sie gelten als großer Erneuerer. Was glauben Sie: Wohin geht die Mode?
Raf Simons: Ich hoffe, dass auf diese Frage niemand eine Antwort hat. Für mich ist Mode dann faszinierend, wenn ich nicht weiß, was als Nächstes kommt. Ich habe das Gefühl, die Designer sind momentan zu berechnend. Aus der Mode ist ein gigantisches Geschäft geworden. Vorhersehbar, kommerziell. Viele Designer gehen weniger Risiko ein. Sie bleiben lieber auf der sicheren Seite, um den Kunden und dem Business zu gefallen. Immer seltener wird versucht, die Menschen zu überraschen.

Wie könnte man die Menschen denn noch überraschen?
Ich finde die Idee, nicht zu wissen, was kommt, sehr romantisch. Egal, was es ist oder wie es aussieht. Mir gefällt der Gedanke, dass die Zukunft etwas bringt, was besser, aufregender und schöner ist, und das versuche ich in meinen Arbeiten auch zu zeigen.

Auf dem Laufsteg gibt es immer wieder große Revivals. Momentan sind die Neunziger ein Thema. Orientieren Sie sich nicht an vergangenen Zeiten?
Zur Vergangenheit habe ich keinen besonders großen Bezug. Ich respektiere sie, aber ich idealisiere sie nicht. Mich beschäftigt die Zukunft, momentan vor allem alles, was mit den neuen Medien zu tun hat.

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Waren deswegen auf Ihrer letzten Show im Sommer gleich mehrere Reihen mit jungen Modebloggern besetzt?
Ja, ich glaube, es waren fast hundert. Ich habe sie über Facebook eingeladen und wollte ihnen die Chance geben, bei einer Fashion-Show live dabei zu sein. Normalerweise sehen sie sich die Präsentation der neuen Kollektionen im Netz auf einem Livestream an und berichten dann darüber – so als seien sie dabei gewesen. Das besondere Gefühl aber, das man hat, wenn man einmal wirklich dabei gewesen ist, kennen sie gar nicht.

Aber ist es nicht angenehm, dass übers Netz diese Welt für jeden zugänglich ist und keine Ausgrenzung stattfindet?
Früher war Mode ein großes Mysterium. Seit Ewigkeiten wurde Mode zuerst einer kleinen, ausgewählten Gruppe über Laufstegshows zugänglich gemacht, später las man dann darüber in den Magazinen. Von diesem geheimnisvollen Ritual lebte die Mode. Ich frage mich, ob es künftig noch eine Rolle spielen wird. Das Internet hat dem Ganzen einiges an Magie genommen.

Das klingt jetzt so, als seien Sie von der momentanen Entwicklung nicht begeistert?
Mittlerweile bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich versuche, darüber nicht mehr zu urteilen. Aber natürlich tauchen Fragen auf: Welchen Wert hat Lebenserfahrung? Ist sie jungen Menschen nicht mehr wichtig? Kann man vor dem Computer sitzen und virtuell etwas erleben, was vergleichbar ist mit einem realen Erlebnis? Spielen nicht die Atmosphäre an einem Ort, die Luft, der Weg, den man zurückgelegt hat, um etwas zu erleben, eine entscheidende, prägende Rolle? Für meine Generation ist diese Atmosphäre das Wichtigste überhaupt. Über sie sind wir groß geworden, sie erzog uns. Sie gehört dazu, so wie mein Arm zu mir gehört.

Vielleicht gehört auch das Internet mittlerweile so zu uns wie unser Arm?
Wenn das so ist, dann wünsche ich mir gerade deswegen junge Designer, die aufstehen und etwas auf die Beine stellen. Sie haben so viele Möglichkeiten.

Was müssten denn junge Designer im Moment mitbringen, um sich durchzusetzen?
Sie müssen klug sein. Sehr klug und stark. Davon bin ich überzeugt. Computer oder nicht, neue Medien hin oder her. Du kannst nicht erfolgreich sein, wenn in deinem Kopf nicht ein wertvoller Prozess stattgefunden hat. Wenn du nichts zu sagen hast, hast du nichts zu zeigen, und wenn du nichts zu zeigen hast, wird du niemals Erfolg haben.

Haben Sie das auch Ihren Studenten gesagt, als Sie in Wien Mode unterrichteten?
Ja, sicher, und ich hoffe, sie haben in dieser Hinsicht einiges von mir gelernt. Ich vermisse das Unterrichten, es war für mich immer ein wertvoller Generationenaustausch. Gelernt habe auch ich von ihnen. Wie gesagt: Mich interessiert die Kommunikation zwischen den Generationen gerade sehr.

Warum?
Oft ist es ja so – daran hat sich bis heute wenig geändert –, dass die nachkommende Generation von den Alten kritisiert wird. Eine Unart.

Aber Sie tun das ja auch …

Falsch, ich beobachte und versuche dabei, nicht zu werten. Ich glaube fest daran, dass Weiterentwicklung nur dann stattfindet, wenn jungen Menschen eine Stimme geschenkt wird. Die spannendsten Gespräche hatte ich entweder mit 25- oder mit 75-Jährigen.

Hätte man mit Ihnen, als Sie 25 waren, spannende Gespräche führen können?
Über Mode? Viel Ahnung hatte ich nicht. Freunde sagten mir: »Wow, du würdest so gut aussehen in Helmut Lang!« Natürlich konnte ich mir Helmut Lang nicht leisten. Also ging ich auf Flohmärkte und versuchte, nach Helmut Lang auszusehen, dessen Stil ich immer mochte.

Wenn man sich Jil Sander oder Raf Simons nicht leisten kann, soll man also nicht bei modischen Discountern wie Primark einkaufen, sondern lieber auf den Flohmarkt gehen?
Ich denke, ich sollte in Interviews lieber nicht äußern, was ich davon halte. Eigentlich haben doch genau die hippen Kunden die größte Sehnsucht nach Individualität, die in Shops einkaufen, in denen man schon nach einer Woche sämtliche Laufstegkopien bekommt. Warum wollen die denn ausgerechnet Teile, die millionenmal kopiert wurden?

Seine Mode und er gelten als besonders visionär: Der Belgier Raf Simons ist seit 2005 Kreativdirektor der Jil Sander AG. Daneben entwirft der gelernte Industriedesigner für seine eigenen Labels Raf Simons und die etwas günstigere, jüngere Linie RAF by Raf Simons. Der Designer lebt und arbeitet in Mailand, Paris und Antwerpen. Simons’ minimalistische Mode ist geprägt durch innovative Formen und Schnitte, futuristische Einflüsse und eine außergewöhnliche Materialauswahl.

Foto: Willy van der Perre