Die Geschichte von Pando beginnt vor 80000, vielleicht sogar vor einer Million Jahren, im Nirgendwo der Nordamerikanischen Platte. Ein Samen, pfefferkorngroß, keimt im feuchten Mineralboden, die Wurzeln sprießen, unaufhaltsam.
Die Geschichte von Paul Rogers beginnt vor 56 Jahren in Chicago, Illinois. Ein Junge, viel zu klein, als sein Vater stirbt, wächst auf dem rissigen Asphalt der Vorstadt heran, sieht mit zwölf erstmals die Berge, echte Natur, und will nur noch raus, unaufhaltsam.
Die Geschichte von Pando und Paul Rogers beginnt vor elf Jahren, im Fishlake National Forest, Utah. Rogers hat gerade doch noch Halt gefunden. Zwanzig Jahre war Paul Rogers, studierter Geograf, für den US Forest Service durch die Nationalforste der Vereinigten Staaten gezogen, von West nach Ost, Nord nach Süd, er und die anderen Freiluftarbeiter schliefen im Wohnmobil. Sie waren ein kleiner Trupp, aber Teil von etwas Großem. Sie untersuchten und zählten die Bäume, die dem ganzen Land, allen Bürgern gehörten und dienten. Doch mit der Zeit war bei Rogers die Sehnsucht nach den beiden Töchtern und nach seiner Frau Anne, die er immer wieder zurücklassen musste, größer geworden als die Sehnsucht nach dem Draußen und dem Weiter.
Anne hatte damals schon ihre Stelle in der Bibliothek von Logan, im Cache County, Utah. Die Familie lebte dort in einem Haus, das Rogers mit dem Geld, das er für das Nichtzuhausesein bekam, gekauft hatte, 397 North Ecke 400 West, Tibetflagge zur Straße, Hängematte zum Hof. Logan, 50 600 Einwohner, ist eine Universitätsstadt mitten im Mormonenland. Sie waren dort nicht die Einzigen, die anders waren. Und wenn die Töchter sich doch mit Mormonenjungs trafen, erfuhren die Mormoneneltern nichts davon. Paul Rogers also kam vor elf Jahren zurück in die Zivilisation, die in den Geschichtsbüchern Utahs im Jahr 1847 beginnt, als die ersten Christen, die sich auf das Buch Mormon beriefen, die Steppenlandschaft zwischen den schneebedeckten Bergen besiedelten, weil sie nirgendwo anders geduldet waren. Aber die Ute-Indianer waren da längst in Utah zu Hause. Und noch länger Pando.
Rogers begann in Logan an der Utah State University zu arbeiten, wo er zuvor mit einer letzten großen Exkursion promoviert hatte: Die Faktoren zur Beeinflussung von Aufsitzerpflanzen in den Pappelwäldern der Bear River Mountains in Idaho und Utah. Pappeln hatten es Rogers angetan. Genauer: die Amerikanische Zitterpappel. Dieser Baum aus der Familie der Weidengewächse kommt vor allem im Süden Alaskas und im Westen Kanadas vor, aber die Population zieht sich in den Landkarten als feiner Streifen auch durch die Vereinigten Staaten bis hinunter nach Mexiko. Zitterpappeln wachsen schnell, zwanzig bis 25 Meter hoch, die schlanken Stämme sind im Winter weiß wie Utahs mannshoher Schnee, die runden Blätter im Herbst leuchtend gelb wie die ewige Sonne.
Was Paul Rogers an der Zitterpappel, auch Espe genannt, Aspen im Englischen, beeindruckte, war ihre Fähigkeit zu überleben. »Egal, was passiert«, sagt Rogers, »ob ein Waldbrand über sie hinwegfegt, eine Krankheit den Baum befällt oder jemand eine Axt in den Stamm schlägt, die Espe wird sich sofort denken: Okay, es ist Zeit, neue Babys zu bekommen!« Die Zitterpappel vermehrt sich überwiegend vegetativ: Aus einem einzigen Samen wachsen mit der Zeit viele Schößlinge, die bis zu vierzig Meter voneinander entfernt aus dem Boden kommen können, aber deren Wurzeln miteinander verbunden sind, sogenannte Genets, Klonkolonien. Was aussieht wie ein Wald, ist ein einziger Baum. Wobei, da wird es philosophisch, sagt Rogers. Was ist ein Individuum? Es sind jedenfalls genetisch identische Bäume. Die Klongeschwister eines solchen Kollektivs, die Ramets, werden jeweils höchstens 120 Jahre alt, aber es wachsen ständig neue nach. Ein Feuer kann für eine Zitterpappel deshalb ein Segen sein, denn es vernichtet ihre Konkurrenz um Licht und Wasser, in Utah sind das Nadelbäume. Die Bäume sterben in den Flammen. Aber egal, wie viele Stämme über der Erde verbrennen, das unterirdische Wurzelsystem, Herz, Hirn und Motor der Espe, überlebt. Doch keine war so gut im Überleben wie Pando.
Im Jahr 1968 wanderte der Botaniker Burton Barnes aus Ann Arbor, Michigan, durch den Fishlake National Forest und erkannte keine zwei Kilometer vom namensgebenden See, dem Fish Lake, entfernt, auf etwa 2700 Metern Höhe, dass sich unzählige Espen unter- und oberhalb des State Highway 25, einer schmalen Straße, die durch das hügelige Terrain führt, in der Farbe ihrer Blätter exakt glichen. Klongeschwister blühen nahezu gleichzeitig und verlieren auch synchron ihre Blätter. So entstehen in den Wäldern Utahs im Herbst farbige Landschaften in allen Rot- und Gelbtönen: Die Grenzen zwischen den Klonkolonien werden sichtbar. Barnes war überzeugt, dass er eine besonders große Kolonie entdeckt hatte. Er kam immer wieder zurück an diesen für ihn magischen Ort, an dem die Espen bei Wind ein Geräusch erzeugen, das wie ein Wasserfall klingt. Barnes schätzte, dass hier Zehntausende Espen miteinander verbunden waren. Fast dreißig Jahre später, 1992, wurde Barnes’ Augenmaß weitgehend bestätigt: Michael Grant, Professor für Ökologie und Evolutionsbiologie an der University of Colorado in Boulder, untersuchte die Jahresringe einzelner Zitterpappeln vor Ort. Grant war es auch, der die Kolonie »Pando« nannte, Lateinisch für »Ich breite mich aus«.
Aber erst nach der Jahrtausendwende waren die wissenschaftlichen Möglichkeiten weit genug fortgeschritten, um die beeindruckende Ausbreitung von Pando genau zu bestimmen. Die Genetikerin Karen E. Mock von Paul Rogers’ Universität in Logan nahm DNS-Proben: Pando ist männlich, besteht aus 47 000 Stämmen auf einer Fläche von 43 Hektar und wiegt, die Wurzeln mitgerechnet, sechs Millionen Kilogramm. Damit gilt Pando als schwerster Organismus unseres Planeten.
Paul Rogers ist da bis heute vorsichtig. Leider gibt es immer noch keine technische Lösung, unter die Erde zu schauen, um Pandos zweifelsfrei gigantisches Wurzelsystem zu erfassen, das etwa einen halben Meter tief verläuft. Man hat mal versucht, radioaktive Isotope durch die verästelten Wurzeln zu senden, aber die Radioisotope überwanden, wenn überhaupt, bloß kurze Entfernungen zwischen zwei Bäumen. Wie die Espen im Detail miteinander verbunden sind, wo genau ihre Wurzeln verlaufen, dick und dünn, kurz und lang, und ob Pando wirklich auch unter dem State Highway 25, der irgendwann vor Burton Barnes’ Entdeckung durch die Kolonie gegraben und gegossen wurde, noch zusammenhält, oder ob sich zwei getrennte, aber genetisch identische Kolonien gebildet haben, lässt sich nicht bestimmen. Pandos Gewicht ist eine Hochrechnung. »Beim Gewicht sind sich alle wenigstens recht einig«, sagt Paul Rogers, »ein richtiger WAG dagegen ist das Alter.« WAG steht für »Wild Ass Guess«, für eine ziemlich wilde Vermutung. Denn aller Genetik zum Trotz: Ob Pando nun seit einer Million Jahren auf der Welt ist, worauf die kühnsten Forscher beharren, oder seit 80 000 Jahren, wie als Kompromiss meistens konstatiert wird, oder doch erst seit der vorigen Eiszeit, also seit 12 000 Jahren – man weiß es einfach nicht. Ungeachtet dieser Ungenauigkeiten wird Pando regelmäßig sowohl in ernst zu nehmenden als auch in sensationsgierigen Publikationen nicht nur zum schwersten, sondern auch zum ältesten Organismus der Welt gekürt. Paul Rogers sagt: »Es ist sehr wahrscheinlich, dass kein Lebewesen, das wir kennen, älter oder schwerer ist als Pando. Aber es ist auch sehr wahrscheinlich, dass es ein Lebewesen gibt, das noch älter oder schwerer ist, und wir es einfach noch nicht kennen.«
Bekannt ist eine Seegraskolonie im Mittelmeer, die – ähnlich vage – auf 12 000 bis 200 000 Jahre geschätzt wird. Es gibt eine Kolonie von Silberbaumgewächsen in Tasmanien, die eventuell 40 000 Jahre alt ist. In Schweden steht eine 9550 Jahre alte gemeine Fichte, namens Old Tjikko, ein einzelner Baum, kein Klon. Und in Oregon wächst ein Pilz, der ein noch größerer Organismus ist als Pando. Sagen jedenfalls die Pilzexperten in Oregon. Es kommt darauf an, was man als lebende Masse zählt. Paul Rogers interessiert das alles nicht. Er ist nicht wegen der Rekorde zum größten Pando-Fan geworden, zum Paten dieser wundersamen Kreatur.
Bevor sein alter Arbeitgeber, der National Forest Service, ihn vor elf Jahren in den Fishlake National Forest einlud, hatte Rogers sich nicht mit Pando beschäftigt. Der United States Postal Service hatte die Klonkolonie 2006 als eines der vierzig »Wunder von Amerika« auf eine Briefmarke gedruckt. Es gab die eine oder andere Veröffentlichung. Aber es existierten viele Espen, unzählige Kolonien, man konnte nicht alle studieren, selbst Rogers nicht. Er hatte gerade das schon damals durchgesessene orangefarbene Cordsofa in sein kleines, sogleich von Büchern okkupiertes Büro im Fertigbau der Fakultät für Biologie auf dem Campus oberhalb von Logan gestellt. Dorthin gehörte er jetzt. Aber natürlich nahm er die Einladung an. Die Espe beweist es: Man kann verwurzelt sein und sich trotzdem vom Mutterbaum fortbewegen. Rogers hatte nichts dagegen, wieder rauszukommen, es war ja auch keine weite Reise. Er fuhr in seinem staubigen Toyota Prius die Interstate 15 Richtung Süden, vier Stunden, an Salt Lake City und den Tempeln vorbei, durch die dürren Täler, in die saftigen Berge. Rogers hatte keine Ahnung, dass er diese Strecke eines Tages auswendig kennen würde. Mit einem der Ranger stapfte er schließlich durch Pando, und drei Dinge fielen ihm sofort auf.
Erstens die Augen. In ihrem rasanten Wachstum, immer dem Licht, immer der Energie entgegen, lassen Espen ihre Äste absterben, die keine Sonne mehr abbekommen. Die abgefallenen Äste hinterlassen am Stamm Spuren, die wie menschliche Augen aussehen. Die Indianer, heißt es, glaubten: Das sind die Augen der Mutter Natur. Sie bewacht, dass wir ihre Kinder gut behandeln. Aber so beobachtet wie im dichten Weiß und Grün von Pando hatte sich Paul Rogers nie zuvor gefühlt, es war schön und merkwürdig zugleich.
Zweitens die Aura. Selbst Paul Rogers, dem Superlative suspekt und Fakten eine Befriedigung sind, kam nicht umhin, gerührt zu sein inmitten dieser Zitterpappeln. Was hatten diese Augen schon alles gesehen? Die Bäume, neben denen er stand, mochten schon gestanden haben, als Utah 1896 als 45. Staat ein voll berechtigtes Mitglied der USA geworden war. Und die Vorfahren und Vorvorfahren und Vorvorvorfahren dieser Bäume, neben denen er stand, baugleich, nur aus einer anderen Zeit, hatten wohl schon gestanden, als vor ungefähr 15 000 Jahren die ersten Menschen nach Amerika kamen. Paul Rogers wurde ein wenig schwindlig. »Es war«, sagt er, »als beträte ich eine Stadt mit einer sagenhaften Geschichte.«
Drittens das Problem. Die Pappeln waren schön und groß gewachsen, eigensinnig und kämpferisch, wie sie sind. Manche hatten sich ein bisschen zur Seite geneigt. Manche waren ineinander verschlungen. Manche von Insekten befallen. Andere waren bereits tot, ausgehöhlt, schwarz, standen aber noch, das ist so üblich. Den Espen ging es gut. Pando aber ging es schlecht. Das Problem waren nicht die Bäume, die Paul Rogers sah. Das Problem waren die Bäume, die er nicht sah. Es gab keine jungen Pappeln in Pando. Keinen einzigen kleinen Stamm. Rogers suchte wirklich überall auf dem steinigen Hang, auf dem Pando steht. »In dieser Stadt«, erinnert er sich, »lebten ausschließlich Rentner. Stellen Sie sich eine Stadt vor, in der nur 85-Jährige wohnen. Wie lange wird es diese Stadt noch geben?«
Deswegen hatten sie ihn geholt. Es war nicht mehr zu leugnen: Pando ging kaputt. Nicht sofort. Aber verglichen zu seiner bisherigen Lebenszeit sehr bald. Rogers vermutete bei seinem ersten Besuch, dass seit zwei oder drei Jahrzehnten keine neuen Stämme gewachsen waren. Warum machte Pando nicht weiter?
Es kursierten damals viele Vermutungen. War die Klonkolonie von einer hartnäckigen Krankheit befallen? War es ein Pilz? Die Insekten? Litt Pando, da von Jahr zu Jahr weniger Schnee fiel, unter der zunehmenden Dürre, war also auch Pando ein Opfer des Klimawandels? Was war mit den Kühen, die im Herbst unweit des angrenzenden Campingplatzes weideten? Kühe mögen die jungen Sprossen der Zitterpappel nicht sonderlich, aber wenn alles abgegrast ist, nagen sie auch an den winzigen Bäumen, die reich an Proteinen sind, das hatte man schon beobachtet. Oder die Maultierhirsche? Maultierhirsche sind wie Elche ganz verrückt nach kleinen Zitterpappeln, den Knospen und Blättern. Die Elche, obwohl sonst überall in der Umgebung unterwegs, waren aus irgendwelchen Gründen nie hinauf zu Pando gekommen. Maultierhirsche aber sah man hier viele, wenn der Schnee verschwunden war.
Aber, nein, die Tiere können es nicht sein, sagten die Ranger des Fishlake National Forest, nicht die Kühe und nicht die Hirsche, und die Farmer und Wildschützer stimmten ihnen zu, denn bereits 1992 war ein Teil von Pando eingezäunt worden, und auch innerhalb dieser Schutzzone gab es keinen Espennachwuchs. Ebenfalls 1992 war ein Abschnitt von Pando komplett gerodet worden. Man hatte sehen wollen, ob das Entfernen der alten Bäume das Wachstum neuer Bäume anregen würde. Auch dort: nichts. Es müsse also Altersschwäche sein, sagte ein Biologe, Pandos Zeit sei abgelaufen. Aber das kann doch kein Zufall sein, fand Paul Rogers. Wieso jetzt?
Es wurde eine Arbeitsgruppe zusammengestellt. Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fachrichtungen, von diversen Universitäten, dazu Umweltschützer, Politiker, Forstarbeiter aus der Gegend. Paul Rogers gefiel das. Er mag es, wenn sich Leute zusammentun. Sie waren wie die Klonkolonie: Jedes Mitglied der Arbeitsgruppe hatte Stärken und Interessen und Eigenheiten. Aber zusammengehalten wurden sie von diesem einen Ziel: Pando zu retten. Doch die Gemeinsamkeiten waren nicht stark genug. Es fehlte an Geld und Zeit und Ernsthaftigkeit. Bald bestand die Arbeitsgruppe nur noch aus einer Person – Paul Rogers. Er wollte nicht lockerlassen. Er fand: Pando, dieses einzigartige Ökosystem, Heimat für so viele Tiere, muss im Namen aller Zitterpappeln erforscht werden. Der Zitterpappel, die auf keinem Werbefoto für den Skitourismus hier fehlen darf, ging es in ganz Utah immer schlechter. Wenn Pando keine Kraft mehr hatte, wie sollten dann die anderen durchhalten?
Eines Tages sah Paul Rogers, wie ein junger Hirsch unter dem Zaun hindurchkroch, der seit 1992 einen Teil von Pando schützen sollte. Niemand hatte auf Rogers hören wollen, als er in diesem Bereich schon vorher Hirschkot gefunden hatte. Sein Verdacht war nun bestätigt: Der Zaun war zu niedrig, zu löchrig. »Kleine Espen sind für die Hirsche ein fantastischer Snack«, sagt Rogers. »Natürlich hatten sie versucht, den Snackautomaten, den man vor ihrer Nase gebaut hatte, zu knacken!« Rogers entwarf einen Plan: Er wollte einen neuen Bereich einzäunen lassen, diesmal richtig, sieben Hektar unterhalb der Straße, auf denen man in Ruhe herausfinden könnte, was Pando zu schaffen machte. Aber wer sollte das bezahlen? Mindestens 60 000 Dollar. Rogers gründete die »Western Aspen Alliance«, einen Zusammenschluss verschiedener Gruppen, deren Direktor er wurde. 2014 wurde die Espe außerdem dank der Initiative einer Schulklasse, die Rogers durch Pando geführt hatte, zum Staatsbaum von Utah ernannt. Endlich ließ die Forstbehörde den Zaun errichten.
Ein sonniger Wintermorgen. Vor dem Blau des Himmels leuchten die Espen noch weißer als sonst. Paul Rogers hat Pando noch nie zu dieser Jahreszeit besucht. Normalerweise liegt zu viel Schnee. Der liegt auch jetzt. Aber die Straße ist freigeräumt worden. Auf dem Fish Lake treffen sich die Eisfischer. Während der Fahrt zu Pando ist Rogers freundlich wie immer, aber er kann die Schwermut, die er dieser Tage verspürt, kaum verstecken. Er klammerte sich an den vergilbten Thermobecher, den er immer mit sich trägt, aus Prinzip und um ein Vorbild zu sein, Rogers erträgt es nicht, dass Menschen ihren Kaffee aus Wegwerfbechern trinken. Er erträgt es auch nicht, wie viel Fleisch die Leute mittlerweile essen, jeden Tag. Rogers isst nur noch am Wochenende Burger. Er hat abgenommen. Seine Haare sind lang, der Bart ist gewachsen. Es ist, als hätte Rogers, früher rund und rosig, auch um sich selbst einen unsichtbaren Zaun gebaut, in dessen Schutz er alles wachsen lässt und gesund hält.
Beide Töchter sind aus dem Haus, sie studieren. Die Große meldet sich per Skype aus Ecuador, aber das Bild hängt oft. Die ehemaligen Gastschülerinnen aus Finnland und Deutschland rufen auch mal an. Paul und Anne Rogers wollen bald wieder zu ihnen fliegen. Wenn es nicht so teuer wäre. Ja, Anne und er fühlen sich manchmal allein, sagt Rogers. Dienstags gehen sie mit Freunden zum Curling in die Eishalle. Aber das kann ja nicht alles sein. Ganz in der Früh hat Anne ihm eine wütende SMS geschickt, in Großbuchstaben, weil Rogers am Tag zuvor den kleinen Couchtisch, der seit Jahren im Hof verrottet war, zerlegt hatte. Anne will nie was wegschmeißen. Aber Rogers hat das Bedürfnis, endlich aufzuräumen.
Dann, bei Pando angekommen, passiert etwas mit Rogers. Er setzt seinen Trekkingrucksack auf. Er klettert über den mit Stacheldraht versehenen Zaun, der seine Idee war. Er schnallt sich die Schneeschuhe an. Er stampft über den betonharten Schnee zu den Bäumen, und auf einmal jubelt er wie ein kleiner Junge. »Das gibt’s doch nicht«, ruft er, »es sind noch mehr!« Überall recken sie ihre kleinen grünen Hälse aus dem Schnee: die neuen Espen. »Dieser Baum macht mich jedes Mal glücklich«, ruft Rogers, »aber so sehr noch nie! Es funktioniert, verdammt noch mal!«
In den vergangenen drei Jahren hat Rogers mit der Hilfe eines Biologen aus der Gegend drei Testzonen innerhalb des neuen Zauns installiert. In der ersten haben sie gar nichts gemacht. In der zweiten Zone haben sie alle anderen Pflanzen, Moose, Farne, Sträucher, Nadelbäume entfernt. Vielleicht hatte Pando mit denen zu kämpfen. In der dritten Zone hat die örtliche Feuerwehr einen Brand gelegt. Vielleicht brauchte Pando Unterstützung dabei, alte, kranke Bäume loszuwerden, um neue hervorzubringen. Im vergangenen Jahr hat Rogers die Testergebnisse veröffentlicht: Überall im eingezäunten Bereich wachsen neue Espen. Die Unterschiede zwischen den drei Testzonen sind verschwindend gering. Das bedeutet: Nicht das Feuer, nicht das Entfernen der anderen Gewächse haben Pando geholfen. Sondern allein der Zaun. Ohne Maultierhirsche – und die trägen Kühe – wächst Pando wieder. Der Grund dafür, dass seit mehr als dreißig Jahren keine neuen Espen entstanden sind, war, dass sie sofort weggefressen wurden, sobald sie aus dem Boden kamen.
Später sitzt Rogers auf einem breiten Baumstumpf und isst sein Studentenfutter. »Das Ergebnis meiner Studie lautet nicht: Der Hirsch ist schuld«, sagt er. »Schuld ist der Mensch. Wir haben das Weidevieh hierher gebracht. Wir haben alle natürlichen Feinde der Hirsche ausgerottet, vor allem die Wölfe. Und wir haben die Hirsche sogar jahrelang in der Region gehalten, mit Fütterungen und Absperrungen. Weil es für den Staat lukrativ ist, Jagdlizenzen zu verkaufen. Wo viele Hirsche sind, wird viel gejagt. Aber so viele Hirsche, wie neu dazugekommen sind, können gar nicht erschossen werden. Außerdem gilt rund um Pando wegen der Anwohner Jagdverbot.« Rogers hat seine Studie dann in Los Angeles vorgestellt, bei einer Tagung der Organisation »Pando Populus«. Einige Start-up-Leute, ein paar Spinner und Millionäre haben sich unter diesem Namen zusammengetan, um für eine ökologischere Welt einzutreten. »Wir sind alle miteinander verbunden«, sagen sie. Pando ist ihr Symbol geworden.
Rogers fühlte sich etwas fremd in Los Angeles, aber er hofft, dass die einflussreichen und etwas entrückten Pando-Jünger genug Geld sammeln, damit hier endlich eine Informationstafel errichtet werden kann. Wer von Pando nichts weiß, findet Pando bisher nicht. Die Leute von Pando Populus wollen beantragen, dass die Bundesregierung Pando zu einem Nationalmonument ernennt. Aber seit Trump an der Macht ist, glaubt Rogers nicht mehr daran. Die Mittel für den Umweltschutz wurden drastisch gekürzt. Rogers sagt: »Es ist eine Schande, dass wir für so ein Wunder nichts ausgeben wollen. Pando ist ein Wunder, denn wir verstehen ja immer noch nicht, wie genau er funktioniert.« Hat Pando einen Bürgermeister, ein Zentrum, einen ältesten Baum, der alle Prozesse steuert, der mit den Botenstoffen, die durch die Wurzeln fließen, bestimmt, wohin die Energie fließt, die per Photosynthese von allen Individuen erwirtschaftet wird? Oder ist Pando basisdemokratisch organisiert? Wie denkt Pando? Was ist Pando? Eine gigantische Festplatte? Eine Art Schwarmintelligenz? Etwas viel Größeres? Rogers muss oft an die Borg denken aus seiner Lieblingsfernsehserie Star Trek, eine Spezies, die wie ein Insektenvolk organisiert ist; die allwissende Königin an der Spitze gibt alle Entscheidungen vor, die Untertanen folgen blind. Die Borg passen sich permanent an veränderte Umweltbedingungen an und haben nur ein Ziel: größer werden. »Andererseits«, sagt Rogers und kaut nachdenklich auf den Nüssen herum, »scheint mir Pando nichts Böses zu wollen.«
Je weiter sich Paul Rogers am Ende des Tages im Beifahrersitz von Pando entfernt, desto schlechter wird seine Laune wieder. Im Radio reden sie über die ungewisse Zukunft von Obamacare. Hartnäckig versuchen Trumps Republikaner, die halbstaatliche Gesundheitsversorgung abzuschaffen, die unter Barack Obama eingeführt wurde. Deutlich weniger US-Bürger wären dann krankenversichert. »Ich fasse es nicht«, murmelt Rogers, »dass eine simple Krankenversicherung in meinem Land schon als Sozialismus gilt. Dann ist Pando auch Sozialist. Er zeigt doch, wie wunderbar das ist: Jeder gibt etwas und bekommt dafür von der Gemeinschaft einen Schutz garantiert!« Rogers schaut auf die gesichtslosen Einkaufszentren, die sich vor Salt Lake City ausbreiten: »Der einzige gemeinsame Nenner in diesem Land scheint der Konsum zu sein. Deswegen haben wir jetzt einen gefährlichen Multimilliardär zum Präsidenten! Alles dreht sich nur darum, möglichst viel Geld zu machen.«
Rogers bekommt von der Universität, an der er tätig ist, keinen Lohn, das ist längst an vielen Universitäten so üblich. Rogers muss sein Gehalt und das Geld für die Forschung durch Fundraising und Sponsoring einholen, er soll verwertbare Projekte vorschlagen und bewerben. Bekäme Rogers nicht von seiner Espenschutzorganisation monatlich eine feste Summe, könnte er sich nicht weiter um Pando kümmern.
»Was soll mit Pando nun geschehen?«, fragt Rogers kurz vor Logan und gibt die Antwort selbst: »Der Zaun muss noch ein Jahr bleiben, bis die neuen Bäume hoch genug sind, damit die Hirsche nicht an die Blätter kommen. Eigentlich müssten wir ganz Pando einzäunen, aber das ist nicht nur zu teuer, es wäre auch ein weiterer Eingriff in die Natur. Zu viele Hirsche sind nicht natürlich. Aber gar keine Hirsche auch nicht!« Die einzige Lösung wäre, die Hirschpopulation unter Kontrolle zu bekommen und die Kühe woanders grasen zu lassen. Aber das ist eine politische Frage. Das dauert Jahre, mindestens.
»Was mich so deprimiert«, sagt Rogers, »ist, dass Pando schon so viel überstanden hat. Dann kommt dieses kurze Zeitfenster, in dem wir Menschen mit ihm auf der Welt sind – und plötzlich geht es Pando schlecht. Wir sind die schlimmste Katastrophe, die er erlebt hat.« Kürzlich kam einer der Ranger aus dem Fishlake National Forest zu Rogers. Er wolle noch mehr helfen, sagte der Mann. Ihm sei klargeworden, was für eine Schande es wäre, wenn Pando ausgerechnet jetzt sterben würde. Der Mann sagte, und das gefiel Rogers: »Nicht, solange ich Dienst habe!«
Fotos: Patrick Bauer, Diane Cook, Len Jenshe, National Geographic: Creative