Der Wald ist die Seele, der Weg um ihn herum gleicht einem Kreuzgang. Hinter den großen Fenstern zum Innenhof liegen Lesesäle, die Bücher lagern in Glastürmen an den Gebäudeecken. Eine Bibliothek als Kloster schwebte dem Architekten vor – mit Lesern als Schweigemönche. François Mitterrand gefiel die Idee. Die vom Architekten vorgesehenen großen Findlinge im Wald gefielen ihm nicht. Auch die Fußgängerbrücken über den Innenhof verbat er sich für die nach ihm benannte Nationalbibliothek. Zu laut und wie im Zoo erschien ihm das. Nichts sollte die Ruhe beim Lesen stören.
Der Wald ist Sperrgebiet. 12 000 Quadratmeter mitten in der Stadt, im Südosten von Paris. Der längst verstorbene Präsident dürfte wohl einmal darin gewandelt sein, aber niemand von den altgedienten Bibliothekaren kann sich erinnern, ob der krebskranke Mitterrand wenige Monate nach der feierlichen Eröffnung eigens noch einmal zurückkehrte. Der Wald fand Mitte der Neunzigerjahre noch nicht so viel Beachtung. Erst später wurde man auf ihn aufmerksam – als bekannt wurde, dass niemand ihn betreten durfte. Die ersten zwölf Jahre nach seiner Verpflanzung blieben Besucherinnen und Besucher ausgesperrt. Seit 2008 öffnet sich der Wald, aber nur für ein einziges Wochenende im Jahr. Man wolle die Bäume sich selbst überlassen, natürliche Bedingungen schaffen – ein Garten Eden in der Großstadt, mit Wildkräutern, wilden Tieren und ganz ohne Chemikalien, nach allen Regeln der Ökogärtnerei, naturnah, ohne Lärm und Dreck. Natürlich sind die Fenster zum Hof nicht zu öffnen. Die Natur soll vor den Menschen geschützt werden und die Bücher vor den Insekten. Das gelingt nur teilweise: Eine Terrasse gibt es auf einer der beiden schmalen Gebäudeseiten dann doch, von der die Leute aber auch Pizzakartons und mitunter tote Hauskatzen in den Wald werfen.
Gärtner betreten den Innenhof das ganze Jahr über, zweimal die Woche schaut einer nach dem Rechten und entfernt den Müll. Vergangenes Jahr ließ man Ziegen drei Monate im Wald wohnen, zog mit Elektrodraht Areale, in denen sie Unkraut fressen sollten. Die Ziegen ziehen diesen Sommer wieder ein. An die Läuse ging vor drei Jahren bereits ein Baum verloren, und dreißig Bäume waren es, die ein einziger Sturm entwurzelte. Im Innenhof können sich heftige Böen aufschaukeln. Jetzt sind Befestigungsseile zwischen einzelnen Bäumen gespannt. Seit Raubvogel-Folien auf den Scheiben kleben, gibt es weniger tote Vögel.
Traditionell an einem der ersten Juni-Wochenenden wird der Wald für die Öffentlichkeit zugänglich. Der amtierende Präsident muss dem eigens zustimmen. Ein Lift bringt die Menschen in die Natur. Fünf Bibliothekare führen Gruppen von bis zu zwanzig Leuten. Es sei denn, die Seine tritt nach langen Regenfällen über die Ufer, so wie vor drei Jahren, als der Vorplatz der Nationalbibliothek überschwemmt war und der Wald vollzulaufen drohte. Es sei denn, ein Feiertag fällt auf das erste Juni-Wochenende, so wie vor zwei Jahren. Vergangenes Jahr strömten die Menschen wieder in den Innenhof der Nationalbibliothek, um den eingeschlossenen Wald zu sehen. Man darf ihn selbst nicht betreten, einmal um ihn herum kann man laufen, schlendern, nicht mehr als dreißig Minuten, dann muss man den Innenhof mit dem Lift schon wieder verlassen. Draußen warten die nächsten Besucher. Viele Pariser wollen ihren Wald einmal aus der Nähe erleben.
Auch immer mehr Touristen legen ihre Reise eigens auf diesen besonderen Tag. Dabei ist gar nicht sonderlich spektakulär, was sie sehen: etwa 200 Kiefern, mittendrin steht das Gerätehäuschen des Gärtners. Daneben eine Wasserpumpe. Die Feuchtigkeit wird rund um die Uhr gemessen, bewässert wird der Wald nur nachts. Fünf, sechs grüne Eimer stehen herum, mit Insektenlarven zur biologischen Bekämpfung der Blattläuse. Die Menschen reden dennoch leise beim Spaziergang um den Wald und hören gebannt die nüchternen Zahlen, mit denen die Bibliothekare um sich werfen: Allein sieben Millionen Euro haben die Bäume gekostet. Wer bis zu einem Jahr auf diesen Augenblick warten musste, wird ihn dennoch mit großer Wahrscheinlichkeit als magisch empfinden.
150 Kiefern wurden auf 1,2 Hektar in den Sockel eingelassen. Der Wald sollte eine Miniatur-Kopie des Forêt de Fontainebleau sein, wo François Mitterrand gern spazieren ging. In Fontainebleau waren die Bäume allerdings zu tief verwurzelt, um sie auszugraben. Weil sie schon was hermachen sollten zur Eröffnung, ließ man 18 bis 22 Meter große, genau vierzig Jahre alte Bäume in der Normandie ausgraben und zur Zwischenlagerung in eine Baumschule bringen, damit sie weiter wachsen konnten. 1994, zwei Jahre später, transportierten fünfzig Lastwagen die Bäume mit einem Wurzelwerk von drei Metern Durchmesser in die Hauptstadt. Kräne hoben sie in den Innenhof. Dreißig Meter hoch sind nun die höchsten Bäume, bis heute werden ihre Wurzeln mit Nährstoffen gespritzt. Zweimal wurden kleinere Kiefern, Birken, Weißbuchen und Steineichen nachgepflanzt. Der Wald ist ein fast größenwahnsinniges Projekt. Den damals noch jungen Architekten Dominique Perrault hat es berühmt gemacht. Den Wald ebenso.
Die Kirschbäume zwischendrin waren nicht vorgesehen. Vögel bringen immer wieder Samen und Kerne in den Hof. In einem Winter kampierten 30 000 Stare in den Bäumen, Raubvögel sollten Abhilfe schaffen, schnell wurden zwei Nester für Falken in den Baumkronen gebaut, aber die sind nie gekommen. Die Sperber wollten nicht bleiben. Seitdem bringt im Sommer alle paar Wochen ein Falkner ein Bussardpaar vorbei, das Tauben und Spatzen verscheucht. Spuren von Vogelkot an den Glasscheiben zeigen, wie vergeblich der Kampf ist. Auch das Herausrupfen vom vielen Unkraut ist nur mit Mönchsgeduld zu bewältigen. Alle paar Jahre wieder kommen Botaniker und Biologen zur Bestandsaufnahme, zählen und klassifizieren die ansässigen Arten von Käfern (22), Schmetterlingen (7, ohne Nachtfalter, die sind schwieriger zu zählen), Schnecken (13), Spinnen (48), Vögeln (19) und Pflanzenarten (75) wie Farne, Heidekraut, Waldanemonen, Erdbeerfingerkraut, und Schneeglöckchen, darunter leider auch unerwünschte wie die Zehnmännige Kermesbeere, der gemeine Efeu und die falsche Akazie.
Der Wald ist übrigens ansteckend. In unmittelbarer Nachbarschaft der Nationalbibliothek sind sicherlich schon zwanzig Wohnhäuser mit Bäumen auf der Terrasse oder dem Dach entstanden.