Das vergessene Volk

250000 Nuba starben, als ihr Volk zwischen die Fronten des Bürgerkriegs im Sudan geriet. Die Überlebenden müssen selbst den Frieden fürchten.

Die Nuba-Krieger rüsten sich für den Kampf: Yusuf bläst auf einer leeren Cola-Flasche, Mohammed trägt ein Stück Pappe als Schutzschild, Eunice hat sich eine Plastiktüte als Schwänzchen an das zerfledderte Hinterteil seiner Jeans gebunden. Frauenfüße stampfen im Takt, Staub wirbelt auf zwischen den Savanne-Büschen, unter roten und gelben T-Shirts hüpfen die Brüste der jungen Mädchen auf und ab. Verzückung legt sich ein paar Tanzschritte lang über die 95 Schüler des Lehrertrainings-College George Kori Anjolo im palmenbestandenen Tal von Kurchi. Die Mädchen feuern ihre Kommilitonen an, die mit Holzstäben umeinander herumtänzeln, ringend den Gegner zu Boden werfen, plötzlich auch
in Lumpen zu strahlenden, kräftigen Nuba werden.

»Menschen wie von einem anderen Stern, eine Landschaft von unvergleichlicher Schönheit«, beschrieb Leni Riefenstahl die Welt der Nuba. Der Ringkampf ist immer noch der Nationalsport der Nuba, den die Fotografin mit ihren Fotos weltweit bekannt machte. Nackt lässt sich heute allerdings kein Ringkämpfer mehr sehen.
Die Idylle, die Riefenstahls Fotos beschrieben, ist längst dahin. Ein von der Welt fast unbemerkter Krieg hat das Volk der zwei Millionen Nuba beinahe vernichtet.
»Kommen Sie«, hatte Abdalaziz Alhilu, der Gouverneur der Nuba-Berge und Rebellenchef, gebeten. »Wie brauchen die Öffentlichkeit.« Abdalaziz ist ein gemütlicher, etwas rundlicher Mann, dem nicht anzusehen ist, dass er im Krieg als einer der besten Soldaten der Rebellen gegen die Zentralregierung in Khartoum galt.

Erst ein paar Wochen alt ist der Frieden im Sudan, der den fünfzig Jahre dauernden, nur kurz unterbrochenen Bürgerkrieg beenden soll. Die Nuba befürchten, die großen Verlierer des Friedens zu werden. Schon zu Kriegszeiten hat die Weltöffentlichkeit ihr Leiden vergessen. »Wir haben zwanzig Jahre Darfur hinter uns«, sagt Abdalaziz Alhilu in Anspielung auf den zuletzt in die Schlagzeilen geratenen Kriegsschauplatz im Westen des Sudan – »mit einem Unterschied: Um uns hat sich keiner gekümmert.«

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Das stolze Volk der Nuba ist zwischen die Frontlinien geraten in einem der längsten und blutigsten Konflikte Afrikas, der bisher zwei Millionen Menschenleben gefordert und fünf Millionen zu Flüchtlingen gemacht hat. Allein bei den Nuba hat nach Angaben der Rebellenbewegung Sudan People’s Liberation Movement (SPLM), die den Süden des Sudan kontrolliert, der Krieg 250000 Todesopfer gekostet.
An den strohgedeckten Kralhütten der Nuba vorbei verläuft die Front im Sudan, zwischen Muslimen und Christen, Arabern und Afrikanern, zwischen Nord und Süd. Die Heimat der Nuba, eine fruchtbare Berginsel, groß wie Österreich, ragt aus der Savanne des Nordsudan heraus. Eine schwarze Insel im arabischen Norden.

Die Ringkämpfer im palmenbestandenen Tal von Kurchi haben alle eine traumatische Kindheit erlebt. Der 23-jährige Yusuf Kader erzählt: »Regierungsmilizen ermordeten meine Mama. Sie haben unsere Hütten abgebrannt, wir mussten uns in den Wäldern von Insekten ernähren.« Nach zwei Jahrzehnten Bildungsvakuum und Terror durch die eigene Regierung sollen die Jugendlichen in Kurchi nun mit Hilfe von Dozenten aus dem Nachbarland Kenia zu Lehrern ausgebildet werden. Dabei können sie bisher kaum lesen und schreiben: »Es gab keine Schule«, erzählt Nadji Tahir, 24. »Meine Mutter starb, als ich sieben war, mein Vater ging als Soldat weg. Ich und meine zwei Brüder mussten Ratten jagen und Grashüpfer essen.« Sein Klassenkamerad Eunice Gabriel, 29, schildert: »Wir waren Vertriebene im eigenen Land. Unser Nachbar wurde erschossen, dabei hatte er niemandem etwas getan. Ich war 14 und ging zu den Kindersoldaten im Busch.«

Die geografische Lage machte es besonders einfach, die Nuba-Berge abzuschotten: Als nach Einführung des islamischen Scharia-Rechts im Sudan 1983 die meist christlichen Rebellen des Südens wieder zu den Waffen griffen und sich die Nuba ihnen anschlossen, riegelte die Regierung von Khartoum die gesamte Nuba-Region von der Außenwelt ab wie Berlin zur Zeit des Kalten Krieges.
Der Südsudan darf nach dem Friedensvertrag hoffen, in wenigen Jahren eine weit gehende Unabhängigkeit vom Norden erreichen zu können. Die Nuba müssen laut Friedensvertrag im Nordsudan bleiben, obwohl sie sich dem Süden zugehörig fühlen – und mit ihm gegen die Vorherrschaft der arabischen Zentralregierung gekämpft haben. Seit der Sudan 1956 die Unabhängigkeit von den Engländern erreichte, gehören die Nuba zum Norden des Sudan, eine Aufteilung, die das Khartoum-Regime bei der anstehenden politischen Neuordnung des Landes nicht angetastet sehen wollte. »Für uns war bei den Friedensverhandlungen wohl nicht mehr rauszuholen«, meint Siddig Man-sour, eine Art Kultusminister der
Rebellen.

Ruinen sind im Land der Nuba kaum zu entdecken. Im Busch hinterlassen Bomben keine Spuren. Vom Militärhubschrauber der Friedenswächter, der »Joint Military Commission« (JMC) sehen die Nuba-Berge fast unbewohnt aus. Keine Straßen, keine Stromleitungen, kaum Läden, kaum Autos, nur ein paar verstreute Ansiedlungen. Die weitläufige Savanne hat nach den schweren Regen des Sommers wieder ihr stoisches Gelb angenommen, nur die lila Blüten der Wüstenblume blitzen als Farbtupfer hervor. Aus Hügelkuppeln bis zum Horizont wuchten sich bis zu 1400 Meter hohe Granatgipfel empor, die Erkennungszeichen des Nuba-Landes. Braune Hütten ducken sich wie Riesenchampignons zwischen hinkelsteingroße Steinbrocken.
Die Nuba sind heute Muslime, Christen oder Animisten, Anhänger des traditionellen Naturglaubens, doch alle eint eine reiche, traditionelle Kultur: Sie verehren ihren Gott Elo, frönen ihren Ringkämpfen, wenn die Hirse eingefahren ist und wenn im Mai der sechsmonatige Regen kommt, der das ganze Land grün und fruchtbar macht. Wehwehchen heilen sie beim murage, dem Kräuterdoktor.

Der Terror gegen das eigene Volk war denn auch nur vordergründig ein Religionskrieg. »Der Sudan-Konflikt hat rassistische Gründe«, erklärt Abdalaziz Alhilu, selbst ein Muslim: »Es geht um Araber gegen Schwarze, Sklavenhändler gegen Sklaven.« Er stellt seinen Mitarbeiter mit den klangvollen Namen Musa El Bagi vor, was so viel heißt wie »Sklave des Ewigen«. Ein Lehrer hat den Jungen so getauft, als er acht war, seinen Mutternamen musste er ablegen. »Am liebsten wäre den Arabern in Khartoum, wir Nuba würden einfach von der Landkarte verschwinden«, sagt Gouverneur Abdalaziz.
»Das Volk der Nuba könnte sich eigentlich selbst versorgen, ihr Land könnte sogar
der Brotkorb des Sudan werden«, meint Jake Hamm, ein kanadischer Experte der JMC-Friedenswächter. Aber sechzig Prozent des fruchtbaren und für Großfarmen ge-
eigneten Landes wurden von den Arabern faktisch enteignet. »Die Landfrage«, sagt
Jake Hamm, »ist die Kernfrage des Konflikts und wird über Krieg und Frieden bei den Nuba entscheiden.«

Die Nachkommen von Hirten aus dem ägyptischen Nubien waren Jahrhunderte lang auf der Flucht vor Sklavenhändlern gen Süden gewandert, bis sie sich schließlich in die nach ihnen benannten Nuba-Berge zurückzogen, wo sie heute auf schwer zugänglichen Terrassenfeldern Hirse, Sesam und Erdnüsse anbauen. Mancherorts liegt auch Gold – das sie wegen des Krieges nicht schürfen konnten. Beim Städtchen Kadugli sprudeln zwei Ölquellen. 70000 Barrel werden täglich nach Khartoum gepumpt.

Markttag im Dorf Kauda. Frauen in giftgrünen, gelben und orangefarbenen Chiffongewändern verkaufen unter hohen Eukalyptusbäumen ein eher kärgliches
und bizarres Sammelsurium von Guaven, Myrrhe, Gummilatschen, Brausepulver, Hirsebrot, Hirsekuchen und Marissa, selbst gebrautes Hirsebier. Um vier Uhr nachmittags sind nicht wenige Marktbesucher schon deutlich angeheitert, davon hält die in weiße, muslimische Kaftane gehüllten Männer mit ihren gerafften Turbanen offensichtlich auch ihre Religion nicht ab. Mit dem Waffenstillstand von 2002 kamen auch die Märkte zurück. Zaghafte Vorboten einer Normalisierung, von der noch keiner weiß, ob sie anhalten wird.
Der Brigadegeneral Jan Erik Wilhelmsen, Chef der Joint Military Commission, jener kleinen internationalen Elitetruppe, die den Waffenstillstand im Nuba-Land überwacht, zieht zufrieden ein Zwischenresümee: Für den Norweger ist der Nuba-Einsatz denn auch »der beste, den ich je hatte«, und Wilhelmsen hat schon viele Minenfelder bestellt, vom Libanon bis zum Balkan. Tat-sächlich kann sich seine Bilanz sehen lassen: »Keine bewaffneten Übergriffe seit zwei Jahren, kein Bruch des Waffenstillstands, 2100 Minen geräumt, darunter hundert Kilometer lebenswichtiger Überlandkorridor für Laster gen Norden, 130 Konflikte in der Bevölkerung friedlich beigelegt.«

»Joint Patrols« heißt sein Erfolgsgeheimnis: gemeinsame, unbewaffnete Streifengänge der ehemaligen Kriegsgegner. Doch was passiert, wenn Wilhelmsens 200-köpfige Truppe sich wieder auflöst und die Nuba ihrem Schicksal überlässt?
Ein Friedensschluss, der den Nuba auch weiterhin nicht ermöglicht, ihr enteignetes Land zu bestellen, dürfte kaum von Dauer sein. Krieg ist einfacher als Frieden. Das sagen viele im Sudan.
»Kommen Sie mit, Sie müssen unbedingt unsere Radiostation sehen«, hat Siddig Mansour gebeten. Mansour hat wie viele Rebellen in der Hauptstadt Khartoum studiert – wer sich dort der Islamisierung nicht widersetzt und sich assimiliert, wird geduldet. Am Ende eines Trampelpfads stößt Mansour eine Tür auf, im Dämmerlicht einer Tukul-Hütte steht er da: ein nagelneu aussehender Radiotransmitter, staubgeschützt durch ein Küchenwachstuch. »Super-Radio«, sagt Saddig, aber »leider defekt«. Ein knappes halbes Jahr schickte das Freie Radio Nuba, unterstützt von einer norwegischen Hilfsorganisation, die Kunde vom Waffenstillstand und dem nahenden Frieden durch den Äther, krächzte noch mal, dann war Schluss. »Wir wissen nicht, was defekt ist. Aber wir brauchen unbedingt wieder ein Radio«, sagt Saddig. Für die Kommunikation im unwegsamen Nuba-Land, für die politische Mobilisierung der Nuba vor den versprochenen Wahlen in drei Jahren.

Sitz des toten Rebellensenders war Luere, die heimliche Hauptstadt der Rebellen, dort befindet sich auch das einzige chirugisch ausgestattete Krankenhauses für ein Einzugsgebiet von 300000 Menschen, gestiftet von der Hilfsorganisation Cap Anamur. Nur die Deutschen wagten es, gegen den Willen des Regimes in Khartoum 1997 ein Hospital bei den Nuba zu eröffnen, harrten auch während der schlimmsten Bombardierungen aus: »Im Laufe des Einsatzes haben wir unsere Steinhäuser mit Wellblechdächern allerdings gegen landestypische Lehmhütten getauscht«, sagt Rupert Neudeck, der Gründer von Cap Anamur. »Die Strohdächer boten eine bessere Tarnung gegen Bomben.«

Luere mit seinen vielleicht 10000 Einwohnern besteht aus einer Ansammlung vereinzelter Hütten an Hängen um einen Fluss. Vor den Krankenhaus-Hütten stehen drei Holzbänke unter einer Zeltplane als Schattendach: das Wartezimmer. Vier Männer in weißen Kaftanen wollen den Arzt sehen, mehrere Frauen in bunten Gewändern schnattern neben ihnen: Die Nuba sind bekannt für den toleranten Umgang der Geschlechter miteinander, Frauen genießen die gleichen Rechte wie Männer.
Die Patienten sind aus Kau zum Busch-Lazarett nach Luere gekommen, mehrere Tage Fußmarsch entfernt. Sie wirken dünn und müde, gar nicht wie die großen, starken Krieger, die Leni Riefenstahl in Kau porträtierte. »Ja, wir kannten sie, sie ist ein gute Freundin«, erinnern sich die Männer an die deutsche Fotografin, »damals waren wir natürlich noch Kinder.«
Riefenstahls Fotos seien »einfach fantastisch«, meint auch Mansour. Nein, die Nackheit darauf sei den Nuba nicht peinlich, aber auch nicht erhaltenswert: »Die Zeiten sind einfach vorbei.«

Dr. Fred Kabike streift die Gummihandschuhe ab: zwei Leistenbrüche, mehrere Abszesse, ein Soldat, der sich selbst ins Bein geschossen hat, ein Kaiserschnitt, mehrere Patienten mit Malaria, einige mit Würmern, hundert insgesamt – ein normales Tagespensum in Friedenszeiten. Seit dem Waffenstillstand musste der junge Arzt aus dem Kongo keine Kriegsverletzungen mehr behandeln, bis auf die Minenopfer mit fürchterlichen Wunden. Siebzig Prozent der Operationen nimmt der einzige Doktor des Cap Anamur Hospitals bei örtlicher Betäubung vor – es geht nicht anders ohne Anästhesisten. Medikamente bewahrt er in einem mit Kerosin betriebenen Kühlschrank auf, das Licht überm OP-Tisch kommt von Solarzellen: »Wir arbeiten mit einfachsten Mitteln«, sagt Kabike, »aber wenn wir die Leute nach Khartoum schicken würden, könnten wir sie gleich auf den Friedhof bringen.«
Frieden sieht anders aus.