Die Interpol-Zentrale in Lyon.
Es sei die Schuld von Interpol, sagt Onsi Abichou, dass er acht Monate in einem dreckigen, überfüllten Knast in Tunesien saß. Ohne Interpol hätte er das günstige Auto in Saarbrücken gekauft und wäre zurück nach Paris gefahren. Seine Frau hatte gerade das zweite Kind bekommen. Statt-dessen: Passkontrolle, »Bitte mitkommen«, JVA Saarbrücken, Häftlingsnummer 472/09/2. Zehn Monate, dann lieferte Deutschland ihn im August 2010 nach Tunesien aus. »Ich wusste nicht, wie mir geschah«, sagt Abichou. Die deutschen Beamten sagten, er werde wegen Drogenhandels von Interpol gesucht.
Eine Suche von Interpol gilt als so etwas wie der offizielle Verbrecherstempel: Der Top-Terrorist Carlos, der Schakal, war »Wanted by Interpol«, ebenso der untergetauchte KZ-Arzt Josef Mengele. Heute steht einer wie der ugandische Warlord Joseph Kony auf der Liste. Und eben: Onsi Abichou, 33, Gebrauchtwagenhändler, tunesisches Einwan-dererkind, geboren und aufgewachsen am Rande von Paris. Sein Verbrechen: Er hatte ein Auto verkauft. Mit dem Wagen transportierte der Käufer später wohl Drogen, er nannte Abichous Namen in einem Geständnis. Das hatte der tunesische Zoll dem Drogenfahrer allerdings unter Folter abgepresst.
Seine Briefe aus dem Knast verwahrt Onsi Abichou in einer fliederfarbenen Mappe. Darin liegen auch Fotos, die ihm seine Frau zurückschickte. Die beiden Kinder darauf, Lockenköpfe, fröhlich. Im Gefängnis warnten ihn die Häftlinge vor Zecken, er hatte sie am dritten Tag. Einen Zahn verlor Abichou, weil er lieber die Schmerzen ertrug, als zum Gefängnisarzt zu gehen. Im Saal für sechzig Mann schliefen 130, erzählt er.
Lebenslang hatte ihm der korrupte Richter gegeben. Er entkam der Strafe, weil das tunesische Volk seinen Herrscher aus dem Land gejagt hatte: Nach dem Sturz des Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali wurde Onsi Abichou im Mai 2011 freigesprochen.
Damit die Jagd nach Kriminellen nicht an den Grenzen eines Landes endet, gibt es Interpol – seit 1923. Allein im Jahr 2014 wurden 2336 Menschen verhaftet, die zur Auslieferung gesucht wurden. Kürzlich: ein slowakischer Vergewaltiger in Thailand, ein albanischer Mörder in Ecuador, ein botsuanischer Elfenbeinhändler in Sambia. Ruanda sucht mit Hilfe von Interpol seine Génocidaires, Italien seine Mafiosi, Deutschland sucht Said Bahaji, den Buchhalter der Hamburger Zelle, die die Anschläge des 11. September plante. Rund 37 000 Namen stehen auf der aktuellen Fahndungsliste.
Auch Tunesien nutzte eine solche Fahndung, um Onsi Abichou zu finden. Er ist nicht der einzige Unschuldige auf der Liste, denn Interpol wird zunehmend von korrupten und autoritären Staaten missbraucht. Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung zeigen, dass immer wieder der Deckmantel der Verfolgung angeblicher Straftäter benutzt wird, um politische Dissidenten weltweit aufzuspüren. Weil Interpols Kontrollmechanismen teilweise versagen, können erfolterte oder fingierte Haftbefehle global wirken – so werden auch deutsche Polizisten zu Hilfsbeamten von Despoten. Interpol helfe Diktatoren mittelbar bei Menschenrechtsverstößen, schreibt die angesehene Organisation Fair Trials, die sich weltweit für gerechte Verfahren einsetzt.
Der Airbus 346 aus Teheran landet am 3. Juli 2014 in Frankfurt, 5.45 Uhr. Abdul Al-Mahouzi reckt sich über die Sitzlehne und schaut nach seinen drei Töchtern in der Reihe vor ihm. Sie sind wach geworden vom Aufsetzen der Maschine, nur der kleine Sohn Mehdi schläft noch zwischen ihm und seiner Frau. Seit Monaten ist der bahrainische Menschenrechtsaktivist mit seiner Familie auf der Flucht. In Deutschland hofft er, Schutz zu finden vor den Schergen des bahrainischen Königs. Doch an der Gangway des Flughafens Frankfurt warten Bundespolizisten auf ihn, legen ihn in Handschellen und Fußfesseln. Wenig später erklärt das bahrainische Innenministerium in einer Pressemitteilung, jetzt könne man den Totschläger Al-Mahouzi endlich seiner Strafe zuführen.
»Wenn man mich ausgeliefert hätte, wäre ich jetzt tot.« Als er diesen Satz sagt, sitzt Al-Mahouzi mit seiner Familie beim Essen. Plastikstühle, karger Raum, auf dem Tisch stehen Huhn, Safranreis und Salat. Einige Monate sind seit seiner Freilassung aus dem deutschen Gefängnis vergangen, die Familie hat sich in einer kleinen Wohnung in einem Ludwigshafener Flüchtlingsheim eingerichtet. Die Al-Mahouzis warten auf ihre Anerkennung als politisch Verfolgte.
Al-Mahouzi selbst isst noch nicht, will erst erzählen. Von seinem Heimatland Bahrain, das er so liebt, und von der Regierung, die er so hasst. Von der Kraft, die er spürte, als er im Februar 2011 in der Menge unter dem Lulu-Turm in der Hauptstadt Manama stand und die Reden der Oppositionsführer ankündigte. Den Lulu-Turm ließ die Regierung bald darauf zerstören. Es war der Beginn der brutalen Bekämpfung der Demokratiebewegung. Al-Mahouzi floh.
»Die deutschen Polizisten haben mich behandelt wie einen Kriminellen«, sagt Al-Mahouzi. Zwei Wochen saß er in der JVA Frankfurt. Dann stellte sich heraus, dass die Interpol-Fahndung jeder Grundlage entbehrte. Man machte ihn als Architekten für einen Brand verantwortlich, bei dem 13 Menschen gestorben waren. Ein bahrainisches Gericht sprach Al-Mahouzi in Abwesenheit bereits im März 2014 frei. Trotzdem ließ das Innenministerium ihn auf der Fahndungsliste von Interpol.
Juristisch ist die größte Polizeiorganisation der Welt ein Verein, eingetragen nach französischem Privatrecht – kein völkerrechtlicher Vertrag liegt ihr zugrunde, kein Parlament hat die Tätigkeit von Interpol je ratifiziert. Interpol ist angewiesen auf die Beiträge der Mitgliedsstaaten und Spenden privater Sponsoren. Polizeibehörden aus 190 Ländern haben mit Interpol ein Kooperationsabkommen geschlossen. In jedem der Länder gibt es eine nationale Interpol-Einheit, auch nationale Zentralbüros genannt; in Deutschland ist es das Bundeskriminalamt. Die Einheiten sind mit den anderen Zentralbüros und dem Generalsekretariat in Lyon über ein verschlüsseltes Kommunikationsnetz verbunden. Interpol selbst hat rund 700 Mitarbeiter.
Grün, blau, gelb, schwarz, lila und rot sind die Fahndungen, die über Interpol verschickt werden, je nachdem, ob ein Land nach Vermissten, Toten oder mutmaßlichen Kriminellen sucht. Interpol kann selbst niemanden festnehmen, nicht ermitteln. Aber Interpols Generalsekretariat in Lyon verteilt die Fahndungen eines Landes weiter an die Nationalbüros weltweit.
Mit den Rotecken, benannt nach den roten Fahnen auf den Fahndungen, suchen die Mitgliedsstaaten mutmaßliche Straftäter auf der Flucht im Ausland: Sie sollen festgenommen und ausgeliefert werden. Ob die anderen Länder dieser Bitte nachkommen, steht ihnen frei, die Rotecken sind nicht bindend.
Auch wenn man mit dem Leben davonkommt, sind die Folgen einer Roteckfahndung existenzbedrohend.
Ein bahrainisches Gericht sprach Abdul Al-Mahouzi frei - doch Bahrain ließ seinen Namen weiterhin auf der Interpol-Liste stehen.
Die Zahl der Roteckfahndungen ist zuletzt stark gestiegen. Im Jahr 2002 wurden 1212 neue Rotecken ausgestellt, 2014 waren es rund 10 718 zusätzliche. Das zeigt die wachsende Bedeutung internationaler Strafverfolgung, vielleicht auch, dass Interpol die Welt sicherer macht. Doch für wen?
Beispiel Russland: Mittels Interpol – und mit fingierten Vorwürfen – geht die Regierung seit Langem gegen Banker und Manager aus dem Umkreis von Wladimir Putins Widersacher Michail Chordorkowski vor, viele davon mit Flüchtlingsstatus. Auch Demokratie- und Umweltaktivisten lässt Russland über Interpol ausschreiben.
Beispiel Türkei: Viele Kurden, die in Deutschland als politische Flüchtlinge anerkannt sind, wurden von der Türkei auf die Interpol-Liste gesetzt. Auch die Exil-Autorin Pinar Selek, in der Türkei in einem politisch motivierten Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt, wurde über Interpol ausgeschrieben.
Beispiel Ägypten: Die Regierung ließ 2012 mehrere Mitarbeiter ausländischer NGOs per Interpol suchen. Das Militärregime, das nun an der Macht ist, nutzt Interpol, um frühere Abgeordnete der Muslimbrüder-Partei ausfindig zu machen – bei Auslieferung drohen ihnen lange Haftstrafen.
Beispiel Iran: Am 11. Mai 2006 wurde der iranische Aktivist Rasoul Mazrae in Syrien festgenommen. Er war dort als politischer Flüchtling anerkannt, trotzdem hatte Interpol eine Roteckfahndung mit seinen Daten veröffentlicht. Die Assad-Regierung lieferte ihn vier Tage später an den Iran aus. Zwei Jahre war Mazrae im Gefängnis. Einem UN-Sondergesandten berichtete seine Familie, dass er bis zur Bewusstlosigkeit gefoltert wurde, seine Zähne verlor. Dann wurde Rasoul Mazrae zum Tode verurteilt. Ob das Urteil vollstreckt wurde, ist nicht bekannt.
Auch wenn man mit dem Leben davonkommt, sind die Folgen einer Roteckfahndung existenzbedrohend. Haft, beschränkte Reisefreiheit, Rufschädigung, Jobverlust, erschwerte Asyl- und Visumsverfahren. »Auch wenn Interpol eine politische Verfolgung erkennt und die Fahndung aus ihren Datenbanken löscht, werden die Daten wahrscheinlich in vielen Polizeicomputern weltweit bestehen bleiben«, sagt Alex Tinsley von Fair Trials.
In der Verfassung, die Interpol sich selbst gegeben hat, heißt es, Interpol dürfe in Fällen politischer Verfolgung nicht tätig werden: Die Zusammenarbeit soll im »Geist der universellen Menschenrechte stattfinden«. Ein Zusammenschluss investigativer Reporter – das International Consortium for Investigative Journalism – hat 2011 die öffentliche »Wanted«-Liste von Interpol untersucht. 28 Prozent der Rotecken stammten demnach aus Ländern, die nach dem Freedom House Index keinerlei Bürgerrechte zulassen; die Hälfte kam aus Ländern, die Transparency International als »höchst korrupt« einstuft.
Bereits 2000 warnte der heutige US-Vizepräsident Joe Biden vor der »Manipulation« von Interpol. Die OSZE hat sich mehrmals kritisch zu Interpol geäußert und gefordert, die Kontrollmechanismen zu verbessern. Dazu sagt Ronald Noble: »Interpol schaut sich jeden Fall ganz genau an. Man tut sich leicht, von politischem Missbrauch zu reden, wenn man nicht alle Informationen hat.«
Auf der jährlichen Generalversammlung von Interpol Anfang November 2014 spricht Noble zu rund 1000 Delegierten der Mitgliedsstaaten. Zu der Zeit ist Noble noch Generalsekretär, 14 Jahre stand er an der Spitze. »Wir tun alles dafür, eure Länder, eure Bürger und eure Unternehmen sicherer zu machen«, sagt er. Er redet von der »Interpol-Familie«, der Bruderschaft der Polizeibehörden, von »Liebe« und »Stolz«. Er sagt: »Ihr sollt wissen, dass ich es liebe, der Generalsekretär von jedem, aber wirklich jedem Land zu sein.«
Noble, US-Amerikaner, schwarzer Schnurrbart, gewinnendes Lächeln, war zuvor Staatssekretär im US-Finanzministerium. Durch ihn ist Interpol eine effektive Organisation geworden. Er holt den Mann auf die Bühne, der ihm wenige Tage darauf ins Amt folgt: Jürgen Stock, da Noch-Vize des deutschen Bundeskriminalamts. Er wirkt blass und schmal neben Noble, die Wahl gewinnt er mit hundert Prozent der Stimmen.
Das Hauptquartier von Interpol ist eine moderne Burg aus Beton, Glas und Stahl, über den Ufern der Rhône gelegen. In der Einhangshalle ist das Interpol-Logo als Mosaik eingelassen, so wie es die CIA mit ihrem Logo in Langley, Virginia, macht.
Der 11. September 2001 war für Interpol eine Demütigung: Niemand rief an. Niemand glaubte, Interpol zu brauchen, nachdem in New York die Zwillingstürme eingestürzt waren. 2001 gab es noch keine gemeinsame Datenbank für gestohlene oder gefälschte Passdokumente. Es gab nicht einmal Computer in Lyon, als Ronald Noble 2000 die Organisation übernahm. Fahndungsgesuche wurden bei Interpol übersetzt und per Post zwischen den Mitgliedsstaaten verschickt. Das dauerte bis zu neun Monate.
Heute bearbeitet Interpol die Rotecken binnen weniger Stunden und verteilt sie dann in Sekundenschnelle über das gesicherte Netz an die Mitgliedsstaaten weltweit. Muss es schneller gehen, können die Länder mit einer »Diffusion« arbeiten, mit der sie die Daten von Flüchtigen direkt ins Interpol-Netz stellen. Bald soll es ein elektronisches Auslieferungsverfahren geben, das sei schnell und effizient, erklärt Interpol. Vor Kurzem startete ein Projekt, mit dem Hotels und Fluggesellschaften die Pässe ihrer Gäste direkt mit einer Datenbank von Interpol vergleichen können.
Der Etat von Interpol beträgt 78 Millionen Euro, das ist etwas mehr als die Hälfte des Jahreshaushalts, den Berlin für seine Polizei vorsieht. Etwa 4,4 Millionen Euro für Interpol kommen jährlich aus Deutschland. Laut dem Geschäftsbericht summieren sich die Spenden von Firmen und Stiftungen mit »ähnlichen Zielen und Interessen wie Interpol« auf 26 Prozent des Etats. Unter den Geldgebern sind der Tabakkonzern Philip Morris, die Fifa, die Pharma-Gruppe Sanofi.
Wie kann es sein, dass Interpol Männer wie Abichou und Al-Mahouzi verfolgt? Über einzelne Fahndungen möchte der neue Interpol-Chef Jürgen Stock nicht sprechen. Stattdessen betont er: »Die Beantragung einer Roteckfahndung eines Mitgliedstaates durchläuft beim Generalsekretariat einen mehrstufigen Überprüfungsprozess.« Nur weniger als ein Prozent der Roteck-Anfragen der Mitgliedsstaaten halte der Prüfung nicht stand – Missbrauch sei also die Ausnahme. »Zu den Fahndungen gibt es keine Alternative«, sagt Stock.
Vier Etagen unter seinem Büro sitzt die Einheit im Generalsekretariat, die für die Prüfung verantwortlich ist. Dorthin schicken nationale Interpol-Büros die Anfragen per Formblatt. Interpol prüft sie nach der »Standard Operating Procedure«: Das Formular muss in einer der vier Interpol-Sprachen ausgefüllt sein – Englisch, Spanisch, Französisch, Arabisch. Die Daten des Gesuchten müssen darauf stehen; die Angabe, warum er gesucht wird; und ein Abriss des Falles. Haftbefehle liegen dem Generalsekretariat nur in Zusammenfassung vor. Spionage und Landesverrat verfolgt Interpol nicht. Bei Kriegsverbrechen und Genozid wird genauer hingeschaut, ob die Verfolgung politisch motiviert sein könnte. Ebenso im Falle hochrangiger Politiker. Die Prüfung der Anträge werde durch eine Recherche in Presseveröffentlichungen und Berichten von NGOs ergänzt, sagt Stock. Auf ihre Rechtmäßigkeit werden die Fahndungen nicht überprüft.
Allein die Zahlen machen stutzig: Zwanzig Angestellte arbeiten in der Einheit – bei zwischen 800 und 900 Anfragen für Roteckfahndungen im Monat, etwa dreißig am Tag. 15 000 Rotecken und Diffusions liefen jährlich über das Interpol-Netz, sagt Stock, und alle schaue sich das Generalsekretariat an. Er sagt auch, dass die Prüfung normalerweise binnen weniger Stunden geschehe.
Alles, was ein korrupter Polizist können muss, um eine Fahndung zu erwirken, ist das korrekte Ausfüllen des Formblatts.
Welche Fälle zu dem einen Prozent gehören, die der Prüfung von Interpol nicht standhalten, lässt sich nur vermuten. Die Organisation hat zu sehr wenigen Missbrauchsversuchen Stellung genommen. So weigerte sich Interpol 2009, Manuel Zelaya auszuschreiben, den gestürzten Präsidenten von Honduras. Interpol sperrte sich ebenso, als Serbien 2009 13 angebliche bosnische Kriegsverbrecher auf die Liste setzen wollte.
William Bourdon, französischer Rechtsanwalt und Menschenrechtler, betreut rund zwanzig Mandanten pro Jahr, die sich zu Unrecht verfolgt sehen. Bourdon sagt, bei den meisten Missbrauchsfällen seien die Vorwürfe eben nicht offensichtlich politisch. »Die Staaten kleiden ihre korrupten, rechtstaatswidrigen Gesuche in ein perfektes rechtsstaatliches Gewand«, sagt er. Totschlag steht dann da, wie bei Abdul Al-Mahouzi. Oder Drogenhandel, wie bei Onsi Abichou. Alles, was ein korrupter Polizist können muss, um eine Fahndung zu erwirken, ist das korrekte Ausfüllen des Formblatts. Wie Interpol diese Fälle herausfiltern soll, ist unklar.
»Es ist unmöglich.« Stanley Morris sitzt in seinem Wohnzimmer, drei Kilometer von der Interpol-Burg entfernt. Morris, 72, US-Amerikaner, Antikorruptionsexperte, war dreißig Jahre lang Strafverfolger, als Leiter der Marshalls, er hat im Weißen Haus und im US-Finanzministerium in leitenden Positionen gearbeitet, bevor er 2000 zu Interpol als Nobles Stabschef kam. Bis zu seiner Pensionierung 2006 war er verantwortlich für die Digitalisierung des Kommunikationssystems von Interpol, über das auch die Roteckfahndungen laufen. Morris wohnt immer noch in Lyon – und Interpol, sagt er, sei ihm immer noch wichtig. Er könne aber »nicht alles gutheißen, was die Behörden im Kampf gegen Kriminalität tun«. Letztlich sei das, was er aufgebaut habe, im Grunde nur eine Art »Facebook zum Austausch von Hinweisen«. Über die Motive einer Fahndung könne Interpol keine Aussage treffen. »Interpol verleiht den Gesuchen korrupter Länder trotzdem einen Anstrich von Seriosität.«
Als Jürgen Stock das Amt übernahm, stand der russische Oligarch Andrej Drobinin zwölf Jahre auf der Fahndungsliste von Interpol. Mit der Finanzierung der Oppositionspartei »Jabloko« war er Wladimir Putin in die Quere gekommen. In Russland wurde er wegen »Hooliganismus« gesucht: Bei einer Razzia in seiner Bank soll er einen Gerichtsvollzieher angegriffen haben.
Drobinin floh im August 2002 im Privatjet von Moskau nach Berlin. Die russischen Behörden schrieben ihn über Interpol aus. E-Mails aus dem nationalen Zentralbüro von Interpol in Moskau belegen, dass die russischen Behörden immer wieder auf die Verbindungsbeamten des BKA an der deutschen Botschaft einwirkten, Drobinin festzunehmen. 2003 war es so weit, vierzig Tage saß Drobinin in Berlin-Moabit ein, doch Russland schickte nie die notwendigen Dokumente für eine Auslieferung.
Nun ist Drobinin frei, aber gefangen in Deutschland. Bei jedem Grenzübertritt hätte er Angst, denn dass Deutschland ihn nicht ausliefert, heißt nicht, dass andere Staaten es auch nicht tun. Also reist er nicht. »Ein großes Gefängnis ist besser als ein kleines Gefängnis«, sagt Andrej Drobinin. »Aber es bleibt ein Gefängnis.« Er lacht, aber seine Sekretärin sagt, nachts schlafe er nicht mehr.
Drobinin ergeht es ähnlich wie Dolkun Isa, Vorsitzender des Weltkongresses der Uiguren, einer unterdrückten Volksgruppe in China. Oder wie Haydar Isik, kurdischer Schriftsteller und pensionierter Realschullehrer nahe München. Beide sind deutsche Staatsbürger, beide werden seit Jahren mit Rotecken wegen der Unterstützung terroristischer Gruppen von China beziehungsweise der Türkei gesucht. Wenn Dolkun Isa ins Ausland reisen will, prüft das Auswärtige Amt für ihn die Gefahr einer Festnahme. Haydar Isik lebt seit knapp vierzig Jahren in Deutschland – und hat das Land seit 2007 nicht verlassen.
Andrej Drobinin hat sich den Status des politischen Flüchtlings erkämpft. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 15. Januar 2014 lautet: »Die Kammer ist davon überzeugt, dass die unverhältnismäßige strafrechtliche Verfolgung des Klägers einen politischen Hintergrund hat.« Die Vorwürfe gegen Drobinin seien konstruiert. Doch auf denselben Vorwürfen basiert der Eintrag bei Interpol. Und der besteht weiter, trotz des Urteils.
Drobinin hat nun wieder Anwälte engagiert, die sich mit Interpol streiten. Genauer: mit der Interpol-Datenschutzkommission. Sie prüft Beschwerden und spricht Empfehlungen aus, ob eine Fahndung aufrechterhalten werden soll. Die Kommission besteht aus fünf Personen, die sich dreimal pro Jahr treffen. In einer Rede vor der Interpol-Generalversammlung 2012 sagte der frühere Vorsitzende der Kommission, Billy Hawkes, er sei froh, dass die Mitgliedsstaaten in Zweifelsfällen inzwischen eher bereit seien, ein »Minimum an Informationen« herauszugeben, etwa »Kopien der nationalen Haftbefehle«.
24 Monate hat Dolkun Isa, der uigurische Aktivist, auf eine Antwort der Datenschutzkommission gewartet. Ob ein Eintrag gegen ihn vorliege, könne ihm nicht beantwortet werden, hieß es. Andrej Drobinin wartet seit Monaten auf eine weitere Nachricht. »Wir bearbeiten Ihren Fall«, war bisher die letzte Mitteilung. »Wenn wir das Verfahren verlieren, wissen wir nicht einmal, wo wir in die nächste Instanz gehen sollen«, sagt sein Anwalt Boris Bröckers. Interpol untersteht keiner Gerichtsbarkeit, lediglich dem Verdikt seiner Mitglieder: der Polizeien.
Das Instrument der Roteckfahndung habe keine Lücken, sondern Grenzen, sagt Jürgen Stock. Aber Personen, die per Rotecke gesucht werden, könnten sich natürlich auch im Verfolgerstaat strafrechtlich gegen die Vorwürfe wehren. In den Ländern also, vor deren korrupter Justiz sie geflohen sind? In den Staaten, die Interpol missbrauchen? Interpol, sagt Stock, sei ein reiner »Informationsbroker«.
»Schweig nicht« hatte Huseyn Abdullayev gesungen, und sein kritisches Lied auf Youtube hochgeladen. Einen Tag später entdeckte der aserbaidschanische Musiker und Oppositionelle sein Gesicht auf der Fahndungsliste von Interpol. Der Herrscher Ilham Aliyev ließ ihn plötzlich wegen Steuerhinterziehung suchen. Abdullayev war da gerade in Deutschland, er bekam politisches Asyl. Aus seinem Frankfurter Exil schrieb Abdullayev mehrere Briefe an die Datenschutzkommission. Mit Erfolg: Die Mitteilung über die Löschung seines Eintrags erhielt er nach zwanzig Monaten im November 2014, ohne Begründung.
Dann kamen die Bulldozer. An einem Samstagnachmittag ließ der Präsident Aliyev die Bürogebäude von Huseyn Abdullayev in der Hauptstadt Baku niederreißen.
Zwei Jahre zuvor war Aliyevs Frau von Ronald Noble geehrt worden: als »international anerkannte Wohltäterin« und strategische Partnerin von Interpol. Sie bekam feierlich eine Interpol-Medaille überreicht: »For a Safer World« steht darauf.
(Fotos: afp; Stefanie Füssenich; Manuela Bust; Ramon Haindl (2); Lukas Kromm)