Dieser Blick hat schon manchen Schachgegner nervös gemacht. »Schach ist geistige Folter«, hat Garri Kasparow gern gesagt, als er noch spielte. Heute kämpft er gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und nun auch um den Vorsitz des Weltschachverbands.
SZ-Magazin: Herr Kasparow, wann waren Sie zum letzten Mal zu Hause in Moskau?
Garri Kasparow: Ich glaube, am 22. Februar.
Sie haben auf Facebook geschrieben, Sie würden auf unabsehbare Zeit in New York bleiben. Was, befürchten Sie, könnte bei Ihrer Rückkehr nach Russland passieren?
Ich kenne kein genaues Szenario, ich glaube nicht, dass ich wirklich Gefahr laufe, verhaftet zu werden. Putins Leute wissen, dass sie das gar nicht nötig haben. Es würde schon genügen, mir meinen Pass abzunehmen. So etwas passiert vielen Oppositionspolitikern in Moskau. Du musst mit uns reden, heißt es dann, du musst erreichbar sein, du musst dich zu unserer Verfügung halten, du darfst nicht verreisen. Ohne Pass wäre mein ganzes Leben ruiniert. Ich lebe von Vorträgen über logisches Denken und Erfolgsstrategien. In den letzten acht Jahren waren es über hundert, nur drei davon habe ich in Russland gehalten, alle vor ausländischen Unternehmen. Nach Russland komme ich nur zurück, um das Regime zu bekämpfen und die Menschenrechte zu verteidigen.
Sie engagieren sich als außerparlamentarischer Oppositionspolitiker in Russland, seit Sie 2005 mit dem Schachspielen aufgehört haben. Seit acht Jahren haben Sie kaum eine Demonstration in Moskau oder St. Petersburg für mehr Demokratie und gegen Putin versäumt, haben verschiedene Parteienbündnisse gegen ihn geschlossen. Wie kommen Sie auf die Idee, dass man Ihnen ausgerechnet jetzt den Pass abnehmen will?
Kurz nach meiner Abreise im Februar hat jemand von einer Untersuchungskommission meine Mutter angerufen, diese Kommission ist das russische Pendant zum FBI. Meine Mutter sollte mir ausrichten, dass man mich zu einer Zeugenaussage einladen wolle. Die Kommission untersucht da alles Mögliche, auch Verbindungen von Oppositionspolitikern nach Georgien, aber ich möchte Sie nicht mit Details langweilen. Wegen dieser Vorladung habe ich beschlossen, lieber nicht zurückzukehren: Alexej Nawalny, der kürzlich bei der Bürgermeisterwahl in Moskau antrat und davor im Gefängnis saß, sagte mal: Man betritt das Gebäude als Zeuge und verlässt es als Verdächtiger.
Jetzt leben Sie in New York. Fühlen Sie sich dort zu Hause?
Sagen wir, es ist bequem, dort zu leben. Ich wohne mit meiner Frau Dasha und meiner kleinen Tochter in der Upper West Side. Aida ist gerade sieben geworden und in die Schule gekommen. Sie wächst zweisprachig auf und ist das einzige meiner drei Kinder, das Schach mag. Meine große Tochter aus meiner ersten Ehe lebt auch in New York, und meine Kasparow-Stiftung hat ein Büro dort. Meine Stiftung sponsert weltweit Schachunterricht an Schulen.
Kein Heimweh?
Doch, natürlich. Meine Mutter und meinen Sohn werde ich auf absehbare Zeit nicht in Moskau besuchen können. Meinen fünfzigsten Geburtstag konnte ich auch nicht in meiner Heimat feiern, das hat wehgetan. Meine Mutter ist gesund und kann reisen, aber sie ist 76 und New York weit weg. Meinen Geburtstag haben wir in Oslo gefeiert, wir treffen uns auch oft hier in Tallinn, die Stadt ist ein idealer Treffpunkt, nah bei Moskau und man spricht Russisch. Die Sprache vermisse ich in New York.
Ihren politischen Kampf gegen Putin haben Sie aufgegeben?
Nein. Ich mische mich auch weiterhin von New York aus ein. Aber ich möchte nicht mehr das Risiko eingehen, in Moskau eingesperrt zu werden. Das bin ich gern eingegangen, solange ich für mich allein war, aber ich kandidiere nächstes Jahr für das Amt als Prä-sident des FIDE-Weltschachverbands. Dafür muss ich in der ganzen Welt herumreisen und mich bei den verschiedenen Landesverbänden vorstellen. Da wäre es nicht fair von mir gegenüber denen, die meine Schach-Kandidatur finanzieren, jetzt zu hohe Risiken als Politiker einzugehen. Außerdem kann ich im Ausland viel mehr Schaden anrichten als in Moskau. Der gewonnene Prozess in Straßburg hilft allen Oppositionspolitikern mehr, als wenn ich in Moskau festsäße.
In Straßburg haben Sie im Oktober beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage über 10 000 Euro Schadensersatz vom russischen Staat gewonnen. Worum ging es da genau?
Um einen Vorfall am 14. April 2007, da wurde ich in Moskau bei einer Demonstration verhaftet und von einem Gericht zu einer Geldstrafe in Höhe von tausend Rubel verurteilt. Die Leute haben gelacht, ich solle mich doch nicht aufregen, 30 Dollar, was für ein Witz! Aber mir ging es nicht um 30 Dollar, mir ging es ums Prinzip: Wir wollten friedlich demonstrieren, das wurde uns grundlos verboten, wir wurden illegal festgenommen, unsere Zeugen wurden nicht zugelassen, der Richter hörte nur einen Polizeibeamten, der log wie gedruckt und wusste nicht mal, wo man uns festgenommen hatte. Aber der Richter in Moskau meinte: Einem Mann in Uniform muss man glauben.
Denken Sie allen Ernstes, das Urteil aus Straßburg würde Putin schmerzen?
10 000 Euro tun niemandem weh, ich habe sie gleich an einen Fonds für Justizopfer gespendet. Aber das Gericht in Straßburg hat mehrere Rechtsverstöße der russischen Justiz festgestellt: Verbot einer legalen Demonstration, illegale Festnahme, ein Richter, der sich wie ein Ankläger verhält. Der russische Staat wurde angehalten, seine Rechtsprechung zu ändern, das ist ein symbolischer Sieg, auch wenn Putin sich einen Dreck um Reaktionen aus dem Ausland schert. Er ist noch arroganter geworden. Ich hoffe dennoch, dass dieses Urteil den vielen Häftlingen in russischen Gefängnissen irgendwann helfen wird.
Wie oft wurden Sie selbst schon verhaftet?
Ins Gefängnis gesteckt wurde ich nur ein einziges Mal, festgenommen und auf der Polizei festgehalten unzählige Male, bei nahezu jeder Demonstration, zuletzt bei den Protesten nach der Verurteilung von Pussy Riot im August 2012.
Wurden Sie je geschlagen?
Nichts Wildes, man hat mir nichts gebrochen und auch keinen Zahn ausgeschlagen wie einer Mitarbeiterin aus meinem Stab. Ich bin bei der letzten Verhaftung rumgestoßen worden, davon habe ich immer noch Schmerzen im Ellenbogen, beim Schreiben oder wenn ich meine Tasche im Flieger in die Ablage heben will. Da muss ich heute vorsichtiger sein.
Dasha Kasparowa reist noch regelmäßig nach Russland, ihr Mann Garri nicht mehr.
Wie sieht ein russisches Gefängnis aus?
Es ist mir peinlich, über meine fünf lächerlichen Tage im Gefängnis zu reden, andere werden heute gleich für fünf Jahre in Sibirien weggesperrt. Chodorkowski sitzt schon zehn Jahre, und solange Putin an der Macht ist, wird er wohl auch nicht rauskommen.
Durften Sie mit Ihrem Anwalt sprechen?
Nein, mit niemandem. Am ersten Tag hat man nicht einmal die Essenspakete meiner Mutter weitergegeben. Irgendwann am dritten Tag sprach ich mit den Gefängniswärtern, das konnte man noch im Jahr 2007. Heute wäre das undenkbar. Am letzten Tag ließen sich die Wärter sogar mit mir fotografieren, auch das sähe heute anders aus.
Wann haben Sie Ihre Leibwächter engagiert?
Kurz nachdem ich im Jahr 2005 mein anderes Leben in der Politik begonnen habe. Zuerst dachte ich, der Fahrer meines Autos müsste genügen, um etwas aufzupassen. Aber dann kam es zu einem Vorfall bei einer meiner letzten Schachveranstaltungen: Ein Mann mit einem Schachbrett kam auf mich zu, erst dachte ich, er wolle es signieren lassen, aber dann bekam ich ein mulmiges Gefühl. Der Geruch kam mir komisch vor, das Brett war brandneu, und wer kauft sich schon ein neues Brett, um es sich signieren zu lassen? Man bringt sein altes mit, und zwar ohne Figuren, aber der Mann trug seine in einer Schachtel auf dem Brett, und das schlug er mir auf den Kopf. Nachher hieß es offiziell, es sei eine spontane Attacke eines Schachfans gewesen, der von meinen Politikplänen enttäuscht war. Der Mann war jung, sie hofften wohl, ich würde zurückschlagen, deswegen waren dort auch zwei Videokameras aufgestellt. Der Vorfall war nur eine Warnung für mich. Gleich am nächsten Tag engagierte ich professionelle Bodyguards. Die wurden öfter mit mir verhaftet und verbrachten im November 2007 auch die fünf Tage im Gefängnis, getrennt von mir, in einer Gemeinschaftszelle. Aber 2007 war noch alles als Warnung gedacht, sie meinten es noch nicht ernst. Wir wurden nur schikaniert.
Hat man Sie als Gegner nicht ernst genug genommen?
Doch, aber damals wollte man noch den Schein der Demokratie wahren. Medwedew löste Putin als Präsident ab. Jetzt wird Putin bis zum Ende seines Lebens an der Macht bleiben. Er schreckt nicht einmal davor zurück, Ausländer in der Arktis festnehmen zu lassen. Es ist ihm völlig gleichgültig, was man von ihm denkt. Dabei wurden früher schon die gleichen Rechte verletzt wie heute. In der Qualität gibt es keinen Unterschied. Geändert hat sich eigentlich nur das Ausmaß der Schikanen und der Strafen: fünf Jahre Gefängnis statt fünf Tage.
Stimmt es, dass Sie zuletzt in Moskau keine Restaurants mehr besucht haben, aus Angst, man könnte Ihnen etwas ins Essen mischen?
Sagen wir mal so: Ich mache mir grundsätzlich nicht viel aus Restaurantbesuchen. In Moskau habe ich schon immer lieber zu Hause gegessen. Oder an Orten, die ich gut kenne.
Und ins Flugzeug haben Sie immer Ihr eigenes Essen mitgebracht?
Eine Zeit lang. Auf kurzen Strecken bis drei Stunden esse ich ohnehin nichts.
Hatten Sie Angst, so wie Alexander Litwinenko mit Polonium vergiftet zu werden?
Ich möchte nicht mit Angst vor irgendetwas leben. Aber wenn es geht, dann reduziere ich gern die Möglichkeit, wovon auch immer. Man kann Risiken minimieren, auch ohne seinen Lebensstil dramatisch zu verändern. Das habe ich gemacht. Auf null kann man sie ohnehin nicht reduzieren. Mittlerweile bin ich wieder etwas entspannter. Wenn ich heute auf das Bordmenü verzichte, dann eher, weil es dick macht.
Wie oft waren Sie in den vergangenen sieben Monaten überhaupt in New York?
Nicht oft. Wegen der FIDE-Wahl bin ich den Sommer über durch Afrika gereist und bis zur Abstimmung im August 2014 werde ich vor allem im Flugzeug leben. Ich laufe schon auf Autopilot durch die Sicherheitskontrollen.
Womöglich wird Putin gefallen, dass Sie Schachpräsident werden wollen.
Ich habe nicht den geringsten Schimmer, aber er wird es mich wissen lassen. Einerseits dürfte er froh sein, dass ich nun aus dem Land bin und ihn nicht weiter vor der Haustür belästigen kann. Andererseits dürfte er es bedauern, falls ich in Kürze einen
der weltweit größten Sportverbände leite. Wenn er und seine Leute meine Kandidatur bekämpfen wollen, dann müssen sie im Ausland ohne Polizei auskommen. Ich werde ihre Möglichkeiten, mit Geld um sich zu werfen, sicher nicht unterschätzen. Aber ich hoffe doch, dass ich Mitstreiter finden werde, die verhindern wollen, dass der KGB jetzt auch noch einen großen Sportverband kontrolliert. Ich bin zuversichtlich. Die Wahl findet nächstes Jahr in Oslo statt, nicht wieder in Sibirien.
Der derzeitige Schachpräsident Kirsan Iljumschinow ist bekannt dafür, auf Versammlungen freizügig Kaviar und Wodka servieren zu lassen.
Ich vertraue den Delegierten. Ich habe im Sommer junge Verbandschefs aus Kenia, Ruanda oder Malawi kennengelernt, die sich sicherlich nicht durch Gratis-Kaviar bestechen lassen werden. Sie wollen etwas verändern. Und mit einem Schach-Präsidenten, der sich seiner Freundschaft mit Gaddafi gerühmt hat, findet man keine Sponsoren. Dabei würden viele Konzerne gern die 5000 Dollar spenden, die Schach-Unterricht für 200 Kinder in Südafrika kostet.
Kandidieren Sie nicht doch vielleicht als Schachpräsident, weil Sie es langsam leid sind, Putin zu bekriegen?
Nein, ich werde weiterhin gegen Ungerechtigkeit kämpfen. Inzwischen haben viele Leute doch gemerkt, dass Putin nicht nur ein russisches Problem ist. Jeder Diktator vergiftet auch angrenzende Länder. Aber Putin ist weit schlimmer als Lukaschenko in Weißrussland: Putin ist überall, er kontrolliert mehr Geld als irgendwer in der Menschheitsgeschichte und er zögert auch nicht, sich Gefallen von Geschäftsleuten und Politikern zu erkaufen. Er unterstützt die grausamsten Regime der Welt. Ohne ihn hätte Assad nicht Zehntausende seiner Landsleute umbringen können. Putin ist ein Problem, und das Problem wächst, denn alle Diktatoren wollen immer mehr Macht. Putin wird zunehmend arroganter, weil er niemanden sieht, der ihn stoppen kann.
Was ist Putin denn nun: ein Diktator oder ein Gangster?
Jeder Diktator ist ein Gangster. Er ist der reichste Mensch der Welt. Schauen Sie nur auf die Geldbeträge, die er kontrolliert: Das russische Staatsbudget beläuft sich auf 400 Milliarden Dollar, hinzu kommt das Geld der Oligarchen, die können nicht Nein sagen, wenn Putin Geld für Sotschi oder irgendeinen anderen Zweck einfordert, also sprechen wir von einer Billion Dollar, die er direkt oder indirekt kontrolliert.
Sie haben einmal gesagt, es gebe nur einen Rat, den Sie allen Ihren drei Kindern gemeinsam geben könnten: Konzentriert euch auf eine Sache. Auf was konzentrieren Sie sich derzeit?
Danke, dass Sie mich daran erinnern. Bis ins Jahr 2005 kannte ich wirklich nur ein Ziel, und das hieß gewinnen. Dem Sieg auf dem Schachbrett habe ich alles andere in meinem Leben untergeordnet. Von 2005 an ging es nicht mehr ums Gewinnen. Ich wusste, dass ich nie russischer Präsident werden könnte. Es ging mir nicht darum, Wahlen zu gewinnen, sondern überhaupt freie Wahlen in Russland zu haben. Ich bewegte mich also auf einem Terrain, auf dem das Resultat gar nicht in Reichweite lag. Es war eine Investition, die sich möglicherweise niemals auszahlen wird, ein moralischer Imperativ.
Sie meinen, Sie haben dabei erst gelernt zu verlieren?
Ich würde es nicht verlieren nennen, denn das würde ja voraussetzen, dass man gewinnen wollte. Ich will etwas Gutes für mein Land tun und ich wünschte, es würde sich bald etwas verändern. Jedenfalls habe ich nebenbei auch Bücher geschrieben und angefangen, mich dafür einzusetzen, dass Schach auf der ganzen Welt zum Schulfach wird. Vielleicht habe ich mich dabei etwas verzettelt. Aber jetzt bin ich wieder fokussiert: Ich möchte am 12. August 2014 FIDE-Präsident werden, und ich habe mein Leben auf dieses Ziel hin ausgerichtet. Darum kämpfe ich, und ich weiß, wie das Kämpfen geht, ich kenne die Regeln. Und ich habe einen Plan für die Zeit danach.
Ist das Leben ohne Kampf zu langweilig?
Der Kampf gehört dazu, wenn man etwas verändern will. Das Alte wehrt das Neue ab, man muss kämpfen, um es durchzusetzen. Aber ja, kämpfen gehört zu meinem Charakter.
Garri Kasparow wurde der jüngste Weltmeister in der Schachgeschichte, als er 1985 mit 22 Jahren das legendäre Match gegen Anatoli Karpow gewann. Bis ins Jahr 2000 blieb er Weltmeister und bis zu seinem Rückzug vom Schach im März 2005 die Nummer eins der Weltrangliste. Er gründete die außerparlamentarische Oppositionsbewegung »Solidarnost« und das Bündnis »Das andere Russland«, das mit der Begründung, es sei keine Partei, nicht zu den russischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2007/2008 zugelassen wurde. (Foto: Eastblockworld.com)
Wir danken dem »Swissôtel« in Talinn.
Fotos: Osma Harvilathi