Späte Aussprache: Helmut Schmidt und Hanns-Eberhard Schleyer in Schmidts Hamburger Büro.
Hanns-Eberhard Schleyer: Guten Tag, Herr Bundeskanzler.
Helmut Schmidt: Schmidt, nicht Bundeskanzler. Nennen Sie mich Schmidt. Guten Tag.
SZ-Magazin: Herr Schmidt, Herr Schleyer, welches Bild fällt Ihnen beiden als erstes ein, wenn Sie an den Herbst 1977 denken?
Schleyer: Der Abend des 5. Septembers 1977, als mein Vater entführt wurde. Ich saß in der Staatsbibliothek in Stuttgart und ein Freund kam herein und sagte: Du, es ist was Schreckliches passiert, schau dir die Nachrichten an. Mein erstes Bild ist die Tagesschau von damals und auch die Erklärung, die Sie, Herr Schmidt, im deutschen Fernsehen abgegeben haben. Das war so brutal, dass es mich zunächst sprachlos und hilflos gemacht hat.
Schmidt: Wie alt waren Sie damals?
Schleyer: Ich war 33.
Schmidt: Also ein ziemlich junger Mann.
Schleyer: Schlagartig wurde etwas Wirklichkeit, worauf ich mich innerlich vorbereiten musste, woran ich aber nicht wirklich gedacht habe. Wir wussten ja, dass mein Vater auf der Liste der gefährdeten Personen stand.
Schmidt: Da standen wir beide drauf, Ihr Vater und ich.
Schleyer: Wir waren vorgewarnt, trotzdem haben mich die Ereignisse völlig überrollt. Mein Verhältnis zu meinem Vater war erst in den Jahren davor richtig eng geworden. Mit Kindern hat er sich schwergetan. Erst als ich erwachsen war, konnten wir richtig miteinander sprechen. Als im Sommer 1977 die Sicherheitsmaßnahmen eingeführt wurden, also bewaffnete Polizisten vor der Tür, Leibwächter auf Schritt und Tritt, hat mein Vater mir gesagt: Wenn mir etwas zustößt, sollst du wissen: Ich bin bereit zu akzeptieren, was die Regierung in einer solchen Situation für richtig hält. Mir war nach dem Mord an Ponto, der drei Monate vorher geschehen war, klar, was das Ziel der Terroristen war. Diese Diskussion war also sehr konkret. Und doch war ich zuerst so schockiert, dass ich nicht wusste, was ich tun sollte.
Schmidt: Hatten Sie damals schon Kenntnis davon, dass es bei dem Kidnapping Ihres Vater vier Tote gegeben hatte?
Schleyer: Das waren ja die Bilder, von denen ich gesprochen habe: der von Kugeln durchsiebte Mercedes auf der Straße, der Kinderwagen, in dem die Terroristen ihre Waffen versteckt hatten.
Welches Bild kommt Ihnen in den Sinn, Herr Schmidt?
Schmidt: Keines. Ich denke nicht an den Herbst 1977, wohl aber an die Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz im Februar 1975. Am Mittag war der Brief der RAF-Leute eingegangen, und ich lag mit 39 Fieber im Bett im Kanzlerbungalow. Meine Frau holte den Arzt, der mich mit einer Spritze wieder vernehmungsfähig machte. Ich fand zwei Personen in meinem Zimmer vor: Helmut Kohl, damals Chef der Opposition, und Klaus Schütz, damals Regierender Bürgermeister von Berlin. Die waren sich einig: Wir müssen austauschen. Sie brauchten nur noch meine Genehmigung, dachten sie und ich auch. Die habe ich dann gegeben. Am nächsten Morgen bin ich aufgewacht und hab gedacht: Um Gottes willen, was haben wir da für einen Fehler gemacht! (Haut auf den Tisch) Das darfst du nie wieder tun!
Schleyer: Mein Dilemma, Herr Schmidt, war ja, dass ich wusste, wie mein Vater dachte. Ich will Ihnen jetzt nicht die Frage stellen, was Sie an meiner Stelle getan hätten. Wohl aber die: Was, wenn Ihrer Frau etwas passiert wäre?
Schmidt: Meine Frau und ich hatten schon lange vorher aktenkundig gemacht, dass wir uns im Falle des Falles nicht austauschen lassen wollten. Da waren wir uns ganz einig.
Schleyer: Aber hätten Sie nie an dieser Entscheidung gezweifelt? Ich war ja auch Sohn.
Schmidt: Aber natürlich. Wenn ich mich an Ihre Stelle denke - was ich damals auch gemacht habe - finde ich das völlig verständlich und richtig, was Sie getan habe.
Herr Schleyer, Sie haben noch vor fünf Jahren gesagt: »Man hat uns im Grunde genommen hängen und in Ungewissheit bangen und hoffen lassen. Letzteres ist vielleicht das Schlimmste gewesen.«
Schleyer: In all den Gesprächen, die ich mit Hans-Jochen Vogel geführt habe, hat man sich um eine klare Aussage immer herumgedrückt. Man hat vielleicht versucht, Rücksicht auf die Familie zu nehmen.
Schmidt: In Wirklichkeit war meine Entscheidung, nicht auszutauschen, längst gefallen. Schon bei der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm im April 1975 haben wir nicht ausgetauscht. Stockholm ging relativ glimpflich aus mit zwei Toten, wenn ich mich richtig erinnere, und damit begann eine andere Praxis der amtierenden Regierung. Sie wurde von dem Kreis, zu dem Kohl und Genscher und Strauß gehörten, stillschweigend akzeptiert. Die Praxis des Austauschens hatte in Stockholm aufgehört! Das hat man euch natürlich nicht erzählen wollen.
Schleyer: Ich glaube aber, es wäre besser gewesen, dann hätten wir uns nicht so an diese Hoffnung geklammert, dann wäre die Familie nicht so enttäuscht worden. Irgendwann haben wir es dann ohnehin geahnt. Die Terroristen hatten in Briefen und Telefonaten gefordert, dass ich an einem Wochenende 15 Millionen Dollar zu einem unbekannten Ort transportiere. Das ist durch eine bewusste Indiskretion der Bundesregierung durchkreuzt worden, die natürlich eingeweiht war. Sie wollte nicht riskieren, auch noch mein Leben zu gefährden. Also wurde die Presse informiert, dass ich mit dem Geld unterwegs sei. Da war mir klar: Die Regierung wird nicht nachgeben. Inzwischen war ja auch die Landshut entführt worden. Also habe ich mich entschlossen: Jetzt kann uns nur noch das Bundesverfassungsgericht helfen.
Das haben Sie per Eilantrag angerufen. Es sollte anordnen, Ihren Vater auszutauschen. Doch Ihr Antrag wurde abgelehnt.
Schmidt: Wenn ich mich an Ihre Stelle denke, müssen Sie verzweifelt gewesen sein. Schleyer: Es war eine Möglichkeit, meinen Beitrag zu leisten.
Schmidt: Ein letzter Versuch.
Schleyer: Ein letzter, verzweifelter Versuch. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts bin ich in ein großes Loch gefallen. Ich will keine Urteilsschelte betreiben, aber das Urteil hat einen entscheidenden Bruch: Es führt zu Recht aus, dass die wichtigste Aufgabe des Staates darin besteht, das höchste Gute des Bürgers, nämlich sein Leben, zu schützen - gerade wenn es gefährdet ist. Der Bruch ist, dass man das zwar einfordert, aber dann zurückweicht gegenüber einer politischen Entscheidung, die zu akzeptieren ist.
Schmidt: Wir haben, noch während die Richter berieten, unterstellt, dass sich die Bundesregierung mit ihrer politischen Auffassung, nicht auszutauschen, vor Gericht durchsetzen wird.
»Ein Gericht kann sich eben nicht an die Stelle der Regierung setzen.«
Helmut Schmidt Auch mit 94 Jahren zählt Helmut Schmidt noch zu den beliebtesten Politikern Deutschlands, und das, obwohl seine Kanzlerschaft (1974-1982) über drei Jahrzehnte her ist. Damals lotste er die Bundesrepublik durch Ölkrise, Rezession und RAF-Terror. Den NATO- Doppelbeschluss allerdings nahmen ihm die Deutschen übel - es begann der Aufstieg der Grünen und die Zeit der Friedensbewegung. Schmidt lebt in Hamburg und ist Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit.
Haben Sie als Jurist nach diesem Urteil das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren?
Schleyer: Nein. Ein Gericht kann sich eben nicht an die Stelle der Regierung setzen. Irgendwie war das zu erwarten. Ich bin trotzdem froh, dass ich es wenigstens versucht habe.
Schmidt: Wir waren übrigens zuversichtlich, dass wir Ihren Vater finden und befreien könnten. Das ging ja über Wochen. Es war eine doppelte Aufgabe: Erstens das Versteck aufzuspüren und zweitens die Bewacher zu überwältigen, ohne dass dem Mann etwas passierte.
Wann war Ihnen, Herr Schmidt, klar, dass es keine Hoffnung mehr gibt, Herrn Schleyers Vater zu retten?
Schmidt: Von dem Augenblick an, als das Flugzeug entführt worden war, waren die 87 Personen an Bord wichtiger als die eine Person.
Schleyer: Das hat die ganze Situation in eine neue Dimension gerückt. Ich habe die Eskalation spüren können. Sich auf die Landshut zu konzentrieren, Herr Schmidt, war aus Ihrer Sicht verständlich. Mir zeigte es: Das Schicksal meines Vaters war nicht mehr oberste Priorität Ihrer Regierung.
Haben Sie nicht gehofft, dass die Bundesregierung den Forderungen der Entführer nachgeben würde, weil der Einsatz an Menschenleben nun noch höher war?
Schleyer: Gehofft, vielleicht. Ich hatte ja nichts mehr in der Hand. Ich habe damals mit vielen gesprochen, mit Ihnen, Herr Schmidt, mit Kohl, mit Vogel, mit Strauß. Der Anruf von Herrn Vogel war in diesen Wochen ein tägliches Ritual: »Ich kann Ihnen leider nichts Neues sagen. Wir tun alles.« Das Ergebnis war immer das gleiche: Wir sind noch keinen Schritt weitergekommen.
Schmidt: Dazwischen gab es die ständigen Sitzungen des Krisenstabes, wo es beträchtliche Meinungsverschiedenheiten gab in Bezug auf Vorschläge, die Franz Josef Strauß gemacht hatte. Es waren erstaunliche Vorschläge.
Strauß soll vorgeschlagen haben, RAF-Häftlinge zu erschießen.
Schmidt: Ich will das nicht bestätigen. Der Mann ist tot und kann sich nicht mehr wehren.
Sie haben damals in einem Brief an den französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing geklagt, dass Sie von allen Seiten bedrängt würden, Erschießungen vorzunehmen. War Strauß nicht der Einzige, der solche Vorschläge machte?
Schmidt: Ich will mich dazu nicht äußern.
Schleyer: Es zeigt die Dramatik dieser sechs Wochen.
Schmidt: Es gab nicht nur diese Vorschläge. Helmut Kohl hat damals angeboten, sich als Geisel austauschen zu lassen.
Tatsächlich? Ein sehr ehrenhaftes Ansinnen, oder?
Schmidt: Nicht ehrenhaft, es war verrückt. Die Idee, sich als Geisel gegen Hanns- Martin Schleyer austauschen zu lassen, war eine Schnapsidee.
Herr Schleyer, nach der glücklichen Befreiung der Landshut hat die Welt gejubelt. Ihre Familie musste sich hingegen sehr einsam gefühlt haben.
Schleyer: Es kam alles zusammen: Die Ablehnung meines Antrags beim Bundesverfassungsgericht, die Erkenntnis, dass mein Vater sterben würde, sollte es nicht gelingen, ihn zu finden. Uns blieb nur noch abzuwarten. An jenem Abend haben wir in der Familie wenig geredet. Vielleicht weil keiner den anderen mit seiner Verzweiflung noch weiter hinunterziehen wollte.
Schmidt: Haben Sie mitbekommen, dass ich später in einer Rede davon sprach, eine Mitschuld am Tode Ihres Vaters empfunden zu haben?
Schleyer: Ja, das habe ich. Das hat mir Respekt abgenötigt, ein Trost war es nicht.
Herr Schmidt, Sie haben damals Ihren Krisenstab angewiesen, auch »exotische Vorschläge« zu diskutieren. Gehörte Folter dazu?
Schmidt: Ich will mich dazu nicht äußern.
Schleyer: Ich habe an solche Dinge nicht gedacht und hätte sie auch nicht als realistisch empfunden. Das galt für Vorschläge, Häftlinge zu erschießen, und andere Dinge. Ich glaubte einfach nicht daran, dass man über die einsitzenden Terroristen etwas erreichen kann. Von daher waren das für mich keine Optionen.
Schmidt: Weder für Sie noch für mich.
Können Sie beide sich noch an Ihre erste Begegnung nach dem Tod von Hanns-Martin Schleyer erinnern?
Schmidt: Nein.
Schleyer: Ich aber. Es war ein Abend der Auslandspresse in Bonn, das muss im Jahr 1978 gewesen sein. Sie waren Ehrengast, ich saß an einem anderen Tisch. Dann kam einer Ihrer Mitarbeiter auf mich zu und bat mich, an Ihrem Tisch Platz zu nehmen.
Schmidt: Das habe ich total vergessen.
Schleyer: Sie werden es wahrscheinlich auch deshalb vergessen haben, weil wir beide nach wie vor in einem Zustand der Sprachlosigkeit waren. Sie haben nichts gesagt. Ich habe nichts gesagt.
Schmidt: Das kann nicht stimmen, sonst hätte ich Sie ja nicht an meinen Tisch gebeten. Ich muss irgendwas gewollt haben.
Schleyer: Ich habe das einfach als eine persönliche Geste empfunden.
Schmidt: Denkbar. Ich hatte wohl das Gefühl: Du kannst doch nicht so tun, als ob du den Mann nicht kennst und nicht kennen willst. Es muss eine Geste gewesen sein, die…, die versucht hat, eine Brücke zu schlagen. Aber die Brücke kam nicht zustande.
Schleyer: Auch ich habe mich schwergetan, diese Brücke zu schlagen. Es gab übrigens auch mit Helmut Kohl eine ganz lange Phase der Sprachlosigkeit. Das war vielleicht noch verständlicher, denn Kohl war der Familie enger verbunden als Sie. Er war viele Jahre lang mit meinem Vater befreundet. Von daher war für mich natürlich seine Entscheidung, zu der er sich immer bekannt hat, noch unverständlicher. Auch er hat uns geschrieben, wie schwer es ihm viele Jahre lang gefallen ist, mit der Familie Schleyer - meiner Mutter vor allem, aber auch den Kindern - über seine damalige Entscheidung zu reden.
Einfluss auf die Psyche der Verbrecher
Hanns-Eberhard Schleyer Als Hanns-Eberhard Schleyer (im Bild seine Mutter Waltrude stützend) am 25. Oktober 1977 seinen ermordeten Vater in Stuttgart-Sillenbuch zu Grabe trug, war er 33 Jahre alt. Zuvor war er maßgeblich an den Verhandlungen zwischen den RAF-Terroristen und der Bundesregierung beteiligt. Heute arbeitet er als leitender Anwalt bei der Kanzlei WilmerHale, einer der weltweit größten Wirtschaftskanzleien.
Herr Schleyer, was hat Sie dazu bewogen, Herrn Schmidt Anfang dieses Jahres den Hanns-Martin-Schleyer-Preis zu verleihen?
Schleyer: Ich habe gemerkt, wie sehr Sie der Tod meines Vaters über die Jahre und Jahrzehnte umtreibt. Das war für mich authentisch. Solange meine Mutter gelebt hat, wäre der Preis unmöglich gewesen. Sie war die Ehefrau. Sie war am stärksten und unmittelbarsten betroffen. Bei jedem Film über die RAF, bei jedem Jahrestag oder wenn wieder eine Begnadigung diskutiert wurde, ist sie an ihren Verlust erinnert worden. Das Leben war für Sie sehr schwer geworden, sie war ja schon über sechzig, als ihr Mann ermordet wurde. Wir, die Kinder, hatten unser Leben noch vor uns.
Schmidt: Das Verhalten Ihrer Mutter war in meinen Augen völlig in Ordnung.
Schleyer: Für mich war wichtig, dass meine Familie die Verleihung des Schleyer-Preises an Helmut Schmidt mitträgt. Das war zunächst nicht allen meiner drei Brüder sofort verständlich, die Frage hat sich gestellt: warum? Ich glaube, ich konnte sie gut begründen.
Wie haben Sie sie überzeugt?
Schleyer: Die Gesellschaft hat die Entscheidung der Regierung damals mitgetragen, vor allem aber ist sie nach dem Deutschen Herbst ein Stück zusammengerückt. Vielen von denen, die klammheimlich Sympathie für den Terror gehabt haben, ist deutlich geworden, dass man eine Gesellschaft nicht mit Gewalt verändern kann. All das hat mir, hat uns zumindest das Gefühl gegeben, dass der Tod unseres Vaters nicht ganz sinnlos gewesen ist. Der Preis ist also auch eine Geste der Versöhnung an Sie.
Schmidt: Eine Geste, die ich voller Überraschung, aber ohne zu zögern akzeptiert habe.
Akzeptiert? Mehr nicht?
Schmidt: Ich habe diese Geste so aufgefasst, wie sie gemeint war.
Hat Sie diese Geste nicht bewegt?
Schmidt: (überlegt lange) Es hat an den zugrundeliegenden Tatsachen nichts geändert, kann daran auch nichts ändern. Aber es hat mich schon sehr erleichtert, nicht mit dem Bewusstsein weiterleben zu müssen, dass die Familie Schleyer mir die damaligen Entscheidungen übelnimmt. Wir waren in einer anderen Lage als die Familie. Wir waren von Erwägungen abhängig, die für die Familie Schleyer nebensächlich waren.
Schleyer: Der Preis ist unser Zeichen der Akzeptanz und des Respekts vor Ihrer Entscheidung. Ich persönlich habe immer gespürt, wie schwer Ihnen diese Entscheidung gefallen sein muss, wie schwer die Mitschuld auf Ihnen lastete. Und wie der Deutsche Herbst zu einer Zäsur in unserer Gesellschaft wurde.
Schmidt: Es hat nicht nur zu einer Veränderung in der Gesellschaft geführt, sondern auch zu einer Veränderung in der Psyche der Verbrecher. Es hat hinterher keinerlei Versuche der Geiselnahme mehr gegeben. Nur noch reinen Mord. Auf der ganzen Welt gibt es auch heute noch Geiselnahmen, aber es gibt keine Geiselnahmen mehr von deutschen Terroristen.
Schleyer: Es hat die Linksterroristen in die gesellschaftliche Isolation geführt. Es begann der Prozess, der viele Jahre später zur Selbstauflösung der RAF geführt hat.
Schmidt: Sie müssen wissen, dass ich Ihren Vater ausgesprochen geschätzt habe. Ich habe ihn gut gekannt. Er war für mich eine Erholung. Im BDI herrschte davor ja die Meinung, dass Sozialdemokraten an der Regierung ein Übel sind. Ich wurde als »übler roter Bruder« beschimpft.
Schleyer: Für mich war wichtig, Herr Schmidt, wie würdigend Sie nach seinem Tod über ihn gesprochen haben, denn es wäre für mich völlig unerträglich gewesen, wenn sich das Zerrbild eines Kapitalisten festgesetzt hätte. Es hätte ein Stück weit als Legitimation seiner Ermordung verwendet werden können.
Schmidt: Ihr Vater suchte den Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit, das habe ich alsbald gesehen.
Am Tag nach dem Tod von Hanns-Martin Schleyer haben Sie, Herr Schmidt, einen Kondolenzbrief an seine Witwe geschrieben. Haben Sie danach Kontakt zur Familie gehalten?
Schmidt: Das weiß ich nicht mehr. Das würde mich wundern.
Schleyer: Einen Briefwechsel zwischen Ihnen beiden gab es nicht, aber es gab sicherlich zu den Jahrestagen einen Brief von Ihnen, in dem stand, dass Sie in dieser Stunde an unsere Familie denken und sich darüber bewusst sind, was die Familie mitgemacht hat.
Schmidt: Richtig. Ich mag zwei oder drei solche Briefe geschrieben haben. Die Familie sollte wissen, dass ich mich mitschuldig fühle. Übrigens ich nicht allein. Ebenso Genscher, ebenso Kohl, ebenso Strauß und ebenso Herold, der damalige Chef des Bundeskriminalamts.
Schleyer: Ich möchte Ihnen noch eine Frage stellen, die mich damals sehr beschäftigt hat: Hätte man nicht vordergründig auf die Forderungen der Terroristen eingehen können? Also austauschen und die ausgetauschten Terroristen in Mogadischu nachher wieder festsetzen können?
Schmidt: Das war für mich keine Option. Die deutschen Terroristen, die Schleyer entführt hatten, und der verrückte Anführer des besetzten Flugzeuges in Mogadischu hatten übrigens keine wirkliche Verbindung miteinander.
Schleyer: Aber die haben die Entführung als zusätzliches Druckmittel benutzt, es gab schon eine enge Absprache zwischen den unterschiedlichen Gruppen.
Schmidt: Kann sein, ich weiß es nicht mehr.
Herr Schmidt, würden Sie im Rückblick wieder genauso handeln?
Schmidt: Ich würde wahrscheinlich genauso handeln.
»Obwohl der Staat 1977 gehandelt hat, wie er gehandelt hat, konnte er weitere Gewalttaten nicht verhindern.«
Dieses Bild von Hanns-Martin Schleyer spielten die Entführer am 26. September 1977 der französischen Zeitung Libération zu. Vier Tage zuvor war der RAF-Terrorist Knut Folkerts verhaftet worden. Folkerts kannte das Versteck, ging aber nicht auf das Angebot des BKA ein, das ihm Geld, eine neue Identität und Straffreiheit zusicherte.
Herr Schleyer, von Ihnen stammt der Satz: Ist ein Staat nicht stärker, wenn er human handelt? Gilt dieser Satz heute noch für Sie?
Schleyer: Ja. Das ist damals wie heute meine tiefste Überzeugung. Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen: Ich war Chef der Staatskanzlei von Rheinland-Pfalz unter Bernhard Vogel in den Achtzigerjahren und hatte die Begnadigungsvorgänge von RAF-Terroristen zu bearbeiten. Strauß drängte mich in einem Telefonat, es dürfe auf keinen Fall zu einer Begnadigung der Terroristen kommen. Meine Antwort war: Wenn wir so handeln, wirft uns das in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus wieder einen Schritt zurück. Wir würden denen einen Märtyrerstatus zubilligen. Die Größe des Rechtsstaates zeigt sich doch darin, dass man keinen Unterschied macht zwischen Mördern und Terroristen. Deshalb kann ich auch heute sagen: Der Staat, der das Leben von Bürgern in den Mittelpunkt seiner Entscheidungen stellt, das ist der Staat, der lebenswert ist.
Schmidt: Mir kamen alle diese Begnadigungen durch Roman Herzog und Johannes Rau ein paar Jahre zu früh, gemessen an anderen Mördern.
Schleyer: Ich glaube, die deutsche Gesellschaft war stark genug, mit dem Phänomen des Terrorismus fertigzuwerden. Auch wenn Sie meinen Vater ausgetauscht hätten. Damit hätten wir letztlich das erreicht, was auch das Prinzip Ihres Handelns gewesen ist, Herr Schmidt: das Land, die Menschen vor Gewalttaten auf Dauer zu bewahren. Das ist der Unterschied zwischen uns gewesen.
Schmidt: Dagegen spricht die Tatsache, dass anschließend eine Reihe von RAF-Morden stattgefunden haben: von Braunmühl, Herrhausen, Rohwedder …
Schleyer: Sehen Sie! Obwohl der Staat 1977 gehandelt hat, wie er gehandelt hat, konnte er weitere Gewalttaten nicht verhindern.
Schmidt: Ja, das konnte er nicht verhindern. Kein Staat der Welt kann Gewalttaten verhindern. Er kann sie nur ahnden.
Schleyer: Ich glaube, dass unser Staat nicht schwächer, sondern stärker geworden wäre, wenn er 1977 anders gehandelt und den Forderungen der Terroristen nachgegeben hätte.
Schmidt: Ihr Standpunkt, Herrn Schleyer, ist für mich sehr sympathisch, aber ich kann ihn nicht teilen.
Niemand weiß, wer Ihren Vater umgebracht hat, Herr Schleyer. Ist das eine Belastung für Sie?
Schleyer: Nein, das ist vielleicht auch eine Art der Bewältigung. Mich hat nie interessiert, wer nun tatsächlich derjenige gewesen ist, der geschossen hat. Das bringt meinen Vater nicht zurück und würde mir auch nicht helfen, das Geschehen von damals besser zu verarbeiten.
Machen Sie sich Vorwürfe, dass Sie die Freilassung Ihres Vaters nicht erreichen konnten?
Schleyer: Natürlich hat mich das belastet. Ich hatte alles getan, was in meiner Macht stand. Und doch konnte ich ihn nicht retten.
Schmidt: Ich habe fast alle in der Öffentlichkeit stehenden Opfer gut gekannt und geschätzt. Ich habe Schleyer gut gekannt und geschätzt. Ich habe Ponto geschätzt, ich habe Herrhausen geschätzt. Das sind alles auch persönliche Verluste für mich.
(Andere Fotos: imago / Sven Simon, Horst Rudel; dpa)
Foto: Armin Smailovic