Es ist ein schlechter Tag, um den Aufstand zu proben. Der Himmel hängt grau und schwer über der Stadt, ein unangenehmer Wind fegt durch die Straßen. Es hat begonnen zu regnen. Fred Schirrmacher steht neben der Weltzeituhr am Alexanderplatz und wischt sich ein paar Tropfen aus dem Gesicht. »So leicht lässt sich die Revolution nicht aufhalten«, sagt er lächelnd.
Schirrmacher hat schon schlechtere Tage erlebt. Minus zehn Grad im letzten Winter zum Beispiel. Oder das Schneetreiben im Jahr davor. Er hat sich jeden einzelnen Tag gemerkt, 114 von insgesamt 118 Montagsdemonstrationen in Berlin. Wenn man ihn so sieht, den Steuerfachgehilfen Fred Schirrmacher, 44, mit seinem freundlichen Gesicht, dem etwas runden Bauch und der bunten Strickjacke, traut man ihm diese Hartnäckigkeit kaum zu. »War doch klar, dass wir nicht alles mit zwei Demos kippen können«, sagt er. »Der politische Gegner hat ja auch einen langen Atem.« Sechzig, vielleicht siebzig Menschen haben sich inzwischen versammelt, siebzig Menschen von 3,5 Millionen in Berlin. Ein arbeitsloser Lehrer ist darunter und eine 52-jährige Frau, die einmal Sekretärin war und nun als Kassiererin in einer Tankstelle ihr Geld verdient.
Eskortiert von drei Polizeiwagen setzt sich die kleine Schar in Bewegung, Endstation Ostbahnhof. Dafür, dass es immerhin um den Sturz der Gesellschaftsordnung geht, hat die Szenerie etwas merkwürdig Fröhliches: Schirrmachers Frau schenkt aus dem Kofferraum ihres Autos Tee aus, der junge Mann daneben, mit Ver.di-Button am Revers und einem Megafon in der Hand, skandiert Parolen, die an Kinderlieder er-innern, nicht an Kampfaufrufe. »Wir sind hier, wir sind laut. Weil ihr uns die Zukunft klaut«, schallt es von den Demonstranten zurück. Vereinzelt bleiben Passanten stehen und betrachten die Demonstranten wie einen skurrilen Karnevalszug.
Dann erzählt Fred Schirrmacher, wie das war im Herbst 2004: 30000 Demonstranten auf der Straße, Woche für Woche, »aus der Mitte der Gesellschaft«. Eine fünfköpfige Band spielte und seine Worte wurden von zwei Lautsprecherwagen über den ganzen Alexanderplatz getragen. Es waren Tage, an denen die Demonstranten hier glauben mussten, Geschichte sei tatsächlich machbar. »Wir konnten die Menschen kaum bändigen.«
Wenige Wochen später war der kurze Herbst der Revolution auch schon wieder vorbei, geblieben ist die Überzeugung, »dass es bald knallen wird. Nicht sofort, aber in ein, zwei Jahren«, sagt Schirrmacher. »In diesem System ist es eine Art Gesetzmäßigkeit, dass es irgendwann kracht.«
Die Gruppe biegt auf die Frankfurter Allee, eine Spur der fünfspurigen Fahrbahn ist für sie gesperrt. Ein Polizist geht auf Schirr-macher zu und erkundigt sich freundlich, wie lange man denn heute demonstrieren wolle. Schirrmacher betrachtet eingehend seine Uhr. »Na, so zwanzig Minuten noch.« – »Schön«, sagt der Polizist. – »Danke«, sagt Schirrmacher.
Wie die viel zu kleine Schar nun über die viel zu große Frankfurter Allee weiterzieht – vielleicht ist das ein treffendes Bild für die Situation der Linken in Deutschland: Folklore. Eher putzig als bedrohlich.
Denn die politische und kulturelle Agenda bestimmten längst andere. Joachim Fests eitle Selbstdarstellung als Kind aufgeklärten Preußentums, Florian Langenscheidts 250 Gründe, unser Land heute zu lieben, Günter Grass’ Eingeständnis, nicht nur Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, sondern vor allem: während der Fußball-WM fröhlich die Nationalhymne mitgesungen zu haben. Mit allerhand Getöse rauschte eine Debatte über die neue Bürgerlichkeit durch die Feuilletons und nicht die Grünen, nicht die SPD, auch nicht die Linkspartei formulieren progressive Familienpolitik. Sondern CDU-Ministerin Ursula von der Leyen. Gleichzeitig müssen deutsche Soldaten wieder lernen, wie das ist mit dem Kämpfen, und das Waldsterben erscheint angesichts der Klimakatastrophe wie eine Kinderkrankheit.
Widerstand? Protest? Besser nicht. Das Leben, so lautet die Lehre der jüngeren Zeit, ist schon riskant genug. Die einzig existierende Subkultur, das ist die unangenehme Wahrheit, kommt von rechts. Von den Demagogen aus Dessau und anderen »national befreiten Zonen«.
Schorsch Kamerun hat darüber ein Stück für die Kammerspiele in München geschrieben. Es trägt den Titel des gleichnamigen Romans Macht und Rebel und handelt von der Unmöglichkeit, heute noch subversiv zu sein, von Jugendlichen, die sich aber nach dem Tabubruch sehnen und ihn nur noch im Rechts-Sein oder sexueller Perversion finden. Schorsch Kamerun ist der Sänger der Punkgruppe Goldene Zitronen; als Weggefährten wie die Toten Hosen oder die Ärzte auf Fun-Punk machten und die großen Plattenverträge abschlossen, gab seine Band ein Album mit dem Titel Fuck you raus. Das war vor fast zwanzig Jahren, heute ist Kamerun 43. »Ich glaube, Nein zu sagen geht auch jetzt noch. Aber wird aus dem Protest eine Form, ist sie am nächsten Tag gleich bei Stefan Raab«, sagt Kamerun. »Was soll man da noch machen?«, die Koordinaten der Linken stimmten nicht mehr. »Dabei ist die Situation so schlimm wie nie zuvor: ständig neue Kriege, Menschen, die zu uns über das Meer kommen. Und im Land ist es so ruhig wie nie zuvor.«
Fährt man durch die Republik, zu Attac nach Frankfurt, zur Linkspartei nach Berlin, zu alten und neuen Protagonisten, auf der Suche nach dem, was noch übrig ist von dem Mythos, kommt einem die Linke vor wie ein Puzzlespiel, das zu oft gedreht und gewendet worden ist: Teile fehlen, nichts passt mehr zusammen. Mülltrennung? Familie? Videoüberwachung? Solidarität? Allein auf die Frage, was denn noch links sei, gibt es so viele Antworten wie Gesprächspartner. Den »Fortschrittsgedanken«, einst das Mantra der Bewegung, habe die Linke längst abgegeben, sagt die SPD-Bundestagsabgeordnete Andrea Nahles, früher Chefin von 70000 Jusos. »Schrebergarten-Linke« nennt sie die neuen Wortführer. »Die sind keine Systemstürmer mehr, die sind alle konform.«
Die Linke farblos bis zur Unkenntlichkeit – die Gründe dafür wurden häufig debattiert: von Oscar Negts Analyse, dass das Kapital in alle Poren der Gesellschaft eindringt, bis zu Diedrich Diederichsen Postulat, dass Popmusik, einst treibende Kraft der Subversion, nur noch »eine folgenlose Umarmung des Lebens ist, die nur noch verspricht, dass eben nichts passiert«. Die interessanteste Beobachtung aber liefert Peter Sloterdijk in seinem neuen Buch Zorn und Zeit: Mit dem Untergang des Kommunismus, sagt Sloterdijk, stehe »kein universell sammlungsfähiges Depot für Zorn, Empörung, Dissidenz, Subversion und Protest mehr zur Verfügung«. Es fehlt die Utopie, die Fantasie für eine andere, noch verborgene Gesellschaftsform, die das Linkssein früher so attraktiv erscheinen ließ. Stattdessen existiere Radikalität »in der westlichen Hemisphäre nur noch als ästhetische Haltung, vielleicht als philosophischer Habitus von Belang, nicht mehr als politischer Stil«.
Der Fotograf David LaChapelle hat es in seinem Bild Protest, aufgenommen im vergangenen Jahr, so ausgedrückt: Ein Mann steht im Geschäftszentrum einer Stadt, Anzughose, Ausgehschuhe, in der rechten Hand eine rote Fahne, das weiße Hemd am linken Ärmel leicht zerrissen, etwas Blut läuft den Arm herunter. Kein Hinweis, wofür oder warum der Mann kämpft. Zur reinen Pose erstarrter Widerstand.
Gleichzeitig – und das ist das Paradoxe an der Situation der Linken – herrscht eine tiefe Angst vieler Deutscher vor sozialer Unsicherheit und einer beständig fortschreitenden Ökonomisierung der Lebensumstände.
Ein zumindest unterschwelliges Wissen um die Widersprüche der herrschenden Lehre: Vertraue dem Markt, aber rechne mit seiner Willkür; plane weitsichtig, aber riskiere alles; konsumiere aus vollen Händen, aber sorge für das Alter; suche das Neue, aber schätze die Tradition; misstraue dem Staat, aber gehorche ihm. Der Unmut darüber ist ständig abrufbar. Wenn der Handy-Produzent BenQ Pleite macht. Wenn sich Manager und Politiker ihre Gehälter erhöhen. Der beste Deutsche? Auf Platz drei Karl Marx, sagten die Zuschauer des ZDF. Nur: Der ganze Unmut führt zu nichts.
Was fehlt, ist die soziale Gemeinsamkeit, der Kitt einer jeden Bewegung. Die Revolte von 1968 war ja auch ein gigantisches Happening, getragen vom Hedonismus gleichgesinnter Studenten. Heute teilen der 34-jährige arbeitslose Grafiker und der 52-jährige arbeitslose Werftarbeiter vielleicht dasselbe Schicksal. Zu sagen aber haben sie sich nichts.
Und taucht doch einmal eine Gruppierung auf, die unterschiedlichste Lebensläufe anzusprechen weiß, wird sie über die Medien sogleich von Erwartungen erdrückt. Attac ist so ein Fall: 2001 in Genua bei den Protesten gegen die Globalisierung aus dem Nichts gekommen, als neue linke Sammlungsbewegung ausgiebig gefeiert, und jetzt schon erstarrtes Inventar der Republik. »Confront«, »Fight«, »Rebel« und »Attac« lauteten die möglichen Antworten auf Günther Jauchs 32000-Euro-Frage: »In welchem Netzwerk organisieren sich weltweit Globalisierungskritiker?« Wolfgang F., ein einfacher Mann, antwortete ohne zu Zögern.
Wie es einem dabei ergeht, von der Aufmerksamkeitsmaschine überrollt zu werden, davon zeugt auch die kurze Karriere der Lucy Redler. Vor einem Jahr war die 26-jährige Spitzenkandidatin der WASG auf einer Diskussionsveranstaltung gegen Oskar Lafontaine angetreten und stahl ihm als Rednerin die Show. Und weil sie nicht nur stotterfrei sprechen kann, sondern auch noch gut aussieht, also vieles mitbringt, was eine Revolutionärin im Medienzeitalter braucht, schrieben der Spiegel, der Stern, die Süddeutsche und auch die Bild bald über sie. Noch ein wenig später saß sie bei Christiansen, eingeklemmt zwischen CSU-Generalsekretär Markus Söder und Ex-Arbeitsminister Wolfgang Clement. Ihre radikale Programmatik, Verstaatlichung der Produktionsmittel, Lösung der Klassenfrage, war da nur noch unterhaltsame Exzentrik. »Ich habe in den Medien nur eine bestimmte Rolle gespielt«, sagt Redler.
Das Schicksal von Lucy Redler bezeichnet ein grundlegendes Dilemma der Linken: Wenn sie einmal radikal ist, findet sie keine zündende Ikonografie mehr dafür. Der Appell der PDS jedenfalls, die neue linke Bewegung sei in Lateinamerika zu suchen, bei Boliviens Präsident Evo Morales oder Venezuelas Sozialist Hugo Chávez, erinnert nur noch an die müde Revolutionsromantik von Che Guevara und der Solidarität mit Nicaragua. Gleichzeitig beweist »Campact«, wie man mit größtmöglicher Unverbindlichkeit erfolgreich sein kann: Ständig füttern die Mitarbeiter im niedersächsischen Verden die Internetseite www.campact.de mit immer neuen Initiativen. Gegen Gentechnik, Atomkraft oder für die Offenlegung der Nebeneinkünfte von Politikern. E-Mail genügt. Es ist der Protest to go, der hier organisiert wird, »Engagement in der Teepause«, wie Christoph Bautz, einer der Gründer von Campact, sagt. 13000 Sympathisanten seien schon registriert. »Die wollen kein Gegenmodell, die wollen mit kleinen, realen Schritten Veränderungen schaffen.«
Frankfurt. Dort, wo 1968 die letzte Revolution der Bundesrepublik begann, kam im vergangenen Sommer zumindest noch einmal ein wenig von der alten Stimmung auf: 5000 Studenten gegen Studiengebühren auf der Straße, Autobahnen blockiert, bis der hessische Polizeipräsident Achim Thiel von einer neuen Größenordnung der Proteste sprach. Dann brachte Ministerpräsident Roland Koch das Gesetz für Studiengebühren durchs Parlament. Seitdem ist wieder Ruhe.
Gerd Koenen sagt, er habe nicht viel von den Protesten mitbekommen. Er müsse umziehen, außerdem arbeite er an einem neuen Buch. Koenen war Weggefährte von Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit. Während die ihren Marsch durch die Institutionen antraten, betätigte Koenen sich als Archäologe und verarbeitete sein Archiv, eine der größten Privatsammlungen zur Geschichte des Kommunismus, zu immer neuen Schriften. Über die Anfänge des deutschen Terrorismus in Vesper, Ensslin, Baader, über die Deutschen und den Osten in Der Russland-Komplex. Aber vor allem über die Zeit nach 1968 in Das rote Jahrzehnt, ein fulminantes Sittengemälde der linken Bewegung der Siebzigerjahre. Unterhaltsam und selbstironisch beschreibt er darin auch das eigene Scheitern als Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands. »Im Grunde muss ich selbst mit meiner marxistischen Grundhaltung sagen, dass die bürgerlichen Kräfte progressiver waren.«
Die Linke, meint Koenen, sei an ihrer Selbstgewissheit gescheitert. Daran, dass das Knäuel an Überzeugungen – gegen Atomkraft, für Feminismus, gegen Autoritäten, für Umweltschutz – immer als selbstverständlich angenommen wurde. »Das wurde nie im Einzelnen überprüft«, sagt er. »Ich denke, die Linke muss sich neu erfinden«, wieder die Hoheit über zentrale Begriffe wie Freiheit, Fortschritt, soziale Sicherheit gewinnen. Und er wäre wohl ein schlechter Chronist unserer Zeit, wenn er darin kein neues Material entdecken würde: eine große Bestandsanalyse der Gegenwart, eine Neuauflage des Kapitals.
Als Grundlage für eine neue, linke Bewegung? Er sei Historiker, sagt Koenen, kein Prophet. Aber eines habe er sich nach 1968 gemerkt: »Noch 1967 haben viele Studien gesagt, die Jugend sei unpolitisch. Und dann passierte es.«