SZ-Magazin: Mehr als eine Million Menschen suchte im Jahr 2015 Zuflucht in Deutschland. Die EU erwartet für die kommenden zwei Jahre europaweit zusätzlich drei Millionen Flüchtlinge. Beginnt gerade ein neues Zeitalter der Weltpolitik, das man »Die Epoche der Migration« nennen könnte?
Seyla Benhabib: Ich glaube nicht. Im Gesamtbild sind die Zahlen vergleichsweise gering. In der EU leben 508 Millionen Menschen – drei Millionen Flüchtlinge sind da nur ein Tropfen im Ozean. Allerdings ist Zuwanderung nie nur eine Frage der Demografie.
Sondern?
Es geht immer auch um tief liegende Identitätsfragen. Selbst wenn die Menschen die Zahlen richtig einschätzen, kann es sein, dass sie die verstärkte Zuwanderung als Bedrohung ihrer Art zu leben empfinden. Hinzu kommt, dass die EU neben der Flüchtlingsfrage mit einigen noch nicht bewältigten Krisen zu kämpfen hat: der unzureichenden wirtschaftlichen Integration, der Griechenlandkrise, der Jugendarbeitslosigkeit. In diesem Zusammenhang bekommen nationalistische Bewegungen Aufwind, wie zuletzt Marine Le Pen in Frankreich. Staaten wie Ungarn und Polen nehmen die Flüchtlingsfrage sogar zum Anlass, die grundsätzlichen liberaldemokratischen Prinzipien der EU anzugreifen.
Inmitten dieser aufgeladenen Debatte sagte Angela Merkel: »Wir schaffen das.« Was hat dieser Satz bei Ihnen ausgelöst?
In diesem Satz und ihrer generellen Haltung zur Migration bin ich vollkommen bei Frau Merkel. Der Satz bedeutet für mich, dass man keine Angst haben muss. Die Situation kann bewältigt werden, auch wenn es für Politik und Gesellschaft eine große Herausforderung sein wird. Es ist ein schöner Satz.
Dass Flüchtlingen Schutz zu gewähren ist, legen völkerrechtlich bindende Verträgen wie die Genfer Konventionen fest. Loben Sie Frau Merkel nicht für etwas, zu dem eigentlich alle Politiker verpflichtet sind?
Natürlich wäre das nach internationalem Recht eine Pflicht. Aber Staaten haben diese Pflichten oft verletzt, deren Durchsetzung ist immer ein schwieriger Prozess. Deutschland hat im Sommer schnell und überraschend die Grenzen geöffnet, was einer Aufkündigung des Dubliner Abkommens gleichkam, das besagt, dass Flüchtlinge in dem Land einen Asylantrag stellen müssen, in dem sie die EU betreten haben. Dieses Abkommen war natürlich von vornherein fehlerhaft, da dadurch die Last allein auf den Ankunftsländern wie Griechenland und Italien lag. So hat die deutsche Regierung das Asylrecht durch eine Art Migrationspolitik ersetzt. Das war ein großer Fortschritt, wenn auch kein von langer Hand geplanter.
In Ihren Arbeiten sprechen Sie oft vom Dilemma freiheitlicher Demokratien, dem »Widerspruch zwischen souveräner Selbstbestimmung einerseits und der Einhaltung universeller Menschenrechte andererseits«.
Habermas nannte es das »Janusgesicht« freiheitlicher Demokratien. Auf der einen Seite basieren sie auf den Prinzipien der Menschenrechte, die für alle gelten. Auf der anderen Seite sind die Menschenrechte auf Nationalitäten oder Staatsangehörige reduziert. Dadurch entsteht eine Spannung zwischen den universalistischen Versprechungen und der Realität nationaler Grenzziehungen. Damit meine ich, dass Menschenrechte immer nach gewissen Kriterien begrenzt werden und es immer Menschen- wie auch Bürgerrechte gibt, die nicht für alle gelten.
Stimmen Sie dann Albert Einstein zu, der sagte, Nationalstaaten seien die Masern der Menschheit – also eine Krankheit, die man hoffentlich irgendwann überwinden werde?
Nein. Der Nationalstaat hat seine Verdienste, ohne ihn hätte sich bestimmt keine zivilbürgerliche Kultur herausgebildet und auch kein Wohlfahrtsstaat. Aber ich denke, wir sehen gerade, dass die Form des Nationalstaates nicht mehr unbedingt zeitgemäß ist – in Europa, aber auch im Nahen Osten, wo der Irak und Syrien nicht mehr als Staaten funktionieren.
Was für eine Staatsform wäre die Alternative?
Ich glaube, dass föderalistische Staatsformen ein besseres Zukunftskonzept sind als die alten homogenen Nationalstaatsmodelle. Das sehen wir in Ländern wie Kanada, den USA, Brasilien oder Indien, wo kleinere föderale Einheiten, also Provinzen oder Bundesstaaten, viel größere Befugnisse haben als beispielsweise die deutschen Bundesländer. Auch auf viele Konflikte im Nahen Osten wäre das die bessere Antwort. Nehmen Sie zum Beispiel die Türkei und die Kurden. Hier muss es eine Art von Selbstverwaltung geben.
Wie könnte die aussehen? Das von Kurden bewohnte Gebiet liegt nicht nur in der Türkei, sondern auch im Irak und Iran.
Schwierig. Auch unter den Kurden gibt es unterschiedliche Ideen von ihrer politischen Zukunft. Die PKK fordert ein nationales Territorium, das die verschiedenen von Kurden bewohnten Gebiete umfasst. Andere wie die Regierung der Autonomen Region Kurdistans im Irak dringen auf Formen der verstärk-ten Selbstverwaltung innerhalb der bestehenden Regionen. Auch die türkische HDP hat das getan, die dafür jetzt von vielen türkischen Intellektuellen gewählt wurde.
Denken Sie, dass die einzelnen Regierungen der EU mehr Rechte an die Zentrale in Brüssel abtreten sollten?
Das ist eine wichtige Frage für die Zukunft Europas. Ich glaube, dass die EU weitere fö-deralistische Elemente einführen wird, ohne jedoch in Gänze zu einem föderalistischen Staatengebilde zu werden – bestimmt wäre kaum ein Staat bereit, seine Souveränität völlig aufzugeben. An dem fortwährenden Hin und Her zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof sieht man schon jetzt, wie schwierig es ist, da das richtige Maß zu finden.
Viktor Orbán umzäunte Ungarn unter anderem mit der Begründung, er wolle die mehr als tausendjährige christliche Geschichte seines Landes bewahren. Ist so eine Entscheidung für Sie nachvollziehbar?
Nein, das ist nicht nur ein ungültiges Argument, sondern auch ein perfides. Alle Kulturen enthalten Elemente des Andersseins. Orbáns Darstellung der ungarischen Kultur amüsiert mich. Budapest ist eine Stadt, die nicht nur architektonisch stark vom Osmanischen Reich beeinflusst ist. Und was ist mit dem Beitrag der Juden zur ungarischen Kultur? Orbán ist ein Rechtspopulist, deshalb stellt er die Nation als eine mystifizierende Einheit dar. Aber solche Nationen gibt es nicht. Ohne das Andere ist jede Kultur leblos und uninteressant. Kulturelle Größe und kulturelle Promiskuität gehören zusammen.
Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer findet, Flüchtlinge müssten sich an die deutsche »Leitkultur« anpassen.
Ich halte es für vernünftig, dass sich Migranten oder Asylanten Kenntnisse über das Land aneignen, in dem sie sich niederlassen. Als ich vor dreißig Jahren Staatsbürgerin der USA wurde, musste ich die Verfassung studieren und eine Prüfung abgelegen – obwohl ich Professorin in Harvard war. Man kann von den Menschen, die jetzt nach Deutschland kommen, allerdings nicht erwarten, dass sie Goethe zitieren. Gerade jetzt muss eine sprachliche, berufliche und zivilbürgerliche Integration Priorität haben.
Im Schweizer Kanton Tessin wurde die Burka verboten. Die bayerische Wirtschaftsministerin Ilse Aigner erklärte daraufhin, sie würde eine solche Maßnahme auch in Deutschland befürworten. Haben wir es mit einem Kleidungsstück zu tun, das europäischen Werten entgegensteht?
Für mich ist das eine rein symbolische Debatte. Über wie viele Menschen reden wir? Hier geht es meines Erachtens nicht um die Burka, sondern um die Kriminalisierung und Marginalisierung muslimischer Frauen. Persönlich muss ich sagen, dass ich die Burka als Frau und Feministin sehr schwierig finde. Aber damit muss ich leben, denn solche Kleidungsstücke sind in unseren Gesellschaften durch die Religionsfreiheit geschützt – so lange sie nicht die Rechte anderer Menschen beeinträchtigen. Die Frage, ob Frauen Burkas tragen dürfen, ist deshalb vor allem eine gesellschaftliche Debatte. Für mich kommt es darauf an, ob ein Kleidungsstück einer Frau den Zugang zur Öffentlichkeit erleichtert. Das Kopftuch war ja mal ein emanzipatorisches Mittel mit genau dieser Funktion: Es erlaubte jungen Mädchen zum Beispiel, zur Schule zu gehen, zu arbeiten und am öffentlichen Leben teilzunehmen.
Donald Tusk, der Präsident des Europäischen Rates, hat vorgeschlagen, Flüchtlinge zur Prüfung ihrer Identität 18 Monate lang in Lagern festzuhalten.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass in Europa gerade ein schlechter Zweiter-Weltkriegs-Film gedreht wird. Es ist wirklich widerlich, wie diese Denk- und Verhaltensmuster erneut auftauchen. Ob es die Lager sind oder die wasserfesten Nummern, die Asylsuchende in Tschechien auf die Arme geschrieben bekommen haben. Die meisten Flüchtlinge befinden sich im Nahen Osten sowieso bereits in Lagern. In Europa weitere Lager zu errichten, wäre eine verzweifelte, menschenrechtswidrige Tat, die unmissverständlich zeigen würde, dass diese Menschen nicht erwünscht sind.
Ein Symbol aus dieser Zeit taucht auch in einem neuen Lied des deutschen Sängers Xavier Naidoo auf: »Muslime tragen den neuen Judenstern«, heißt es da. Was halten Sie von diesem Vergleich?
Als ironische Provokation finde ich das gar nicht schlecht. Es ist ein Appell an die Europäer, sich an dieses schreckliche Kapitel der Geschichte zu erinnern, selbst wenn es natürlich nicht so weit kommen wird.
Manch einem mag es merkwürdig erscheinen, dass gerade Sie als Jüdin sich für die Rechte der Muslime einsetzen.
Ich bin ja in Istanbul geboren. Meine Vorfahren lebten einst in al-Andalus, dem muslimisch beherrschten Teil der iberischen Halbinsel. Nach der Rückeroberung dieser Gebiete durch die christlichen Könige im 15. Jahrhundert flohen sie in die Türkei. Der Familienname Benhabib ist teils hebräisch, teils arabisch. Das bedeutet nicht automatisch, dass jeder mit dieser Herkunft sich für diese Fragen engagiert. Ich war aber schon immer an einem kulturellen Zusammenkommen interessiert.
Nun sieht es im Nahen Osten leider nicht danach aus, dass die Konfliktparteien in absehbarer Zeit zusammenkämen.
Für die Zukunft des Nahen Ostens und Israels ist die interkulturelle und religiöse Verständigung essenziell, genau wie die Zusammenarbeit mit progressiven Kräften in den muslimischen Gesellschaften. Ganz allgemein könnte es aber sein, dass wir eine Periode der Geschichte durchlaufen, welche die Weltkarte extrem verändert, sowohl auf der politisch-geografischen als auch auf der herkömmlich geografischen Ebene – wenn nämlich die ersten Inseln im Meer versinken. Vielleicht bekommen wir es dann mit einer neuen Art von Migranten zu tun, den Klimaflüchtlingen.
Spätestens dann beginnt wohl doch die »Epoche der Migration«?
Wissen Sie, Philosophen sind keine Futurologen. Ich kann nicht sagen, was sein wird oder sollte – eher, was nicht sein sollte. Und in der Flüchtlingsfrage sehe ich meine Aufgabe als Wissenschaftlerin vor allem darin, der Krisenstimmung entgegenzuwirken und vor dem Rückfall in verbohrten Nationalismus zu warnen.
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