Mama Badia, eine Frau mit gewaltigen Unterarmen und einem tätowierten Kreuz auf der rechten Pulsader, hängt die letzten Kugeln an ihren Christbaum, drapiert einen blinkenden Elektrostern auf die Spitze, tritt einen Schritt zurück und betrachtet ihr Werk. »Perfekt!«, ruft sie und sprüht aus der Dose noch ein wenig Schnee auf die Zweige, »jetzt kann Weihnachten kommen.« Margo Badia, die Hausherrin, die alle Mama Badia nennen, bewohnt mit ihren sechs Brüdern und Schwestern und deren Kindern und Kindeskindern ein labyrinthisches fünfstöckiges Gebäude in Shubra, einem der größten Stadtteile von Kairo. Die Badias sind Katholiken, doch ihr Christbaum ist keine Tanne, sondern eine Kasuarine, ein immergrüner Wüstenbaum. Draußen hat es dreißig Grad, statt Glockengeläut tönt vom benachbarten Minarett der Ruf des Muezzins. »Wir leben auf einer christlichen Insel«, sagt Mama Badia und zupft an den Goldgirlanden ihres Baums. »Mitten in einem muslimischen Meer.«
Es ist eine Insel in stürmischer See. Ägypten ist das Land, in das Josef und Maria vor 2000 Jahren nach biblischer Überlieferung mit dem eben erst geborenen Jesus aus Bethlehem flohen, weil ein Engel sie gewarnt hatte, dass König Herodes das Kind töten wolle. In diesem Land kann sich der Weihnachtsmann, der auch am Nil einen roten Anzug, eine rote Mütze und auf dem Rücken einen Sack voller Geschenke trägt, in vielen Gegenden erst im Hauseingang verkleiden. Auf der Straße riskierte er verprügelt zu werden. Oder: erschossen. Das bevorstehende Weihnachtsfest steht in Ägypten im Zeichen der seit Jahren schlimmsten Übergriffe auf Christen. Geschätzte zehn Prozent der rund 85 Millionen Ägypter sind christliche Kopten. Bereits im 1. Jahrhundert nach Christus soll der Evangelist Markus in Alexandria eine erste christliche Gemeinde und die koptische Kirche gegründet haben. Die meisten Kopten sind orthodox, etwa 200 000 sind katholisch. Am 6. Januar ist das orthodoxe Weihnachten, in Kairo aber feiern Ägyptens Christen am 24. Dezember.
»Weihnachten ist das wichtigste Fest des Jahres«, sagt Mama Badia, »an Weihnachten werden wir wiedergeboren in Jesus Christus.« Wie jedes christliche Haus in Ägypten ist auch das ihre angefüllt mit Devotionalien. Unten im Hauseingang und auf den Treppenabsätzen stehen Marienstatuen. An den Wohnungstüren kleben Abziehbilder, die den heiligen Georg und den Erzengel Michael zeigen. Überall hängen Kreuze; in Wandnischen stehen – umrankt von Lichterkettchen und Papierblumen – Gipsfiguren von Jesus und Maria. In den Vitrinen: Weihnachtsmänner aus Porzellan. In Mama Badias winzigem Wohnzimmer drängen sich auf Sofas und Polstersesseln zwanzig Familienmitglieder aus drei Generationen. Wie die meisten katholischen Kopten in Kairo gehört die Familie zum Mittelstand. Mama Badias Bruder Nader, ein stiller grauhaariger Mann mit tiefliegenden Augen, ist Ingenieur, ihre Schwester Eugenie ist Veterinärin; in der Familie gibt es drei Buchhalter, einen Anwalt, einen diplomierten Landwirt. Kerzen brennen; aus dem Backofen in der Küche duftet es nach Weihnachtsplätzchen. Die 14-jährige Merna sitzt mit den anderen Kindern auf dem Sofa und sieht sich alte Familienbilder an. »Ich wünsche mir ein Minikleid«, sagt Merna und lacht. »Schwarz oder beige, je kürzer, desto besser.«
Schon unter dem ägyptischen Diktator Hosni Mubarak waren die Kopten immer wieder Opfer von staatlichen Schikanen und religiös motivierten Mordanschlägen von Extremisten mit vielen Toten. Als auf dem Tahrir-Platz im Zentrum von Kairo Anfang 2011 Hunderttausende gegen Mubarak sangen, tanzten und Fahnen schwenkten, hieß es auf den Spruchbändern »Christen und Muslime sind Brüder – niemand kann uns trennen«. Doch nach Mubaraks Sturz gewannen die Islamisten die erste demokratische Wahl in Ägypten, und die Hoffnung der Kopten auf eine bessere Zukunft schlug um in Angst. Als die Armee nach erneuten Massenprotesten im Juli 2013 den Staatspräsidenten Mohammed Mursi aus dem Lager der Muslimbruderschaft stürzte, standen koptische Kirchenführer an der Seite des militärischen Oberbefehlshabers, der den Putsch anführte. Seitdem beschuldigen Islamisten die Kopten, mit der Armee unter einer Decke zu stecken. Als Soldaten dann mit brutaler Gewalt zwei Protestcamps räumten und dabei nach Medienberichten rund tausend Mursi-Sympathisanten töteten, griffen wütende Muslime im ganzen Land Christen an. Wieder gab es viele Tote. In Oberägypten erschoss der Mob einen 60-jährigen Kopten in seinem Haus und schleifte seine Leiche mit einem Traktor durch die Straßen. Polizei und Militär sahen tatenlos zu. Nach Angaben von Amnesty International wurden 43 Kirchen angezündet oder schwer beschädigt.
»Sie kamen in drei Angriffswellen«, erzählt die Franziskanernonne Amal Hakim Fahmy mit aufgeregter Stimme. In ihrer dunkelblauen Kutte und Haube irrt sie durch das zerstörte Kloster zum Guten Hirten in der Stadt Sues, am gleichnamigen Kanal, der das Rote Meer mit dem Mittelmeer verbindet. »Sie hatten Messer, Eisenstangen, Schusswaffen.« Am 14. August, dem Tag der Räumung der Protestcamps der Mursi-Anhänger, marschierten 3000 Muslimbrüder über die Hauptstraße von Sues auf die Kirche zu, berichtet Schwester Fahmy. Sie schrien »Allah ist groß« und »Nieder mit den Christenhunden«. Wenn es in Ägypten zu interreligiösen Spannungen kommt, liegt Sues, die verarmte Industriestadt mit ihrem hohen Anteil radikaler Islamisten, an vorderster Front. Etwa ein Drittel der Einwohner sind Christen. Seit der Revolution befindet sich die Stadt in einer Art Bürgerkrieg. Ganze Straßenzüge sind von den Sicherheitskräften mit Panzersperren und Stacheldraht verbarrikadiert. Panzerfahrzeuge der Armee sollen Polizeistationen gegen islamistische Anschläge schützen. An wichtigen Kreuzungen wachen Soldaten in Kampfanzügen hinter aufgebockten Maschinengewehren.
»Im Garten brannten schon die Bäume«, erinnert sich Schwes-ter Fahmy, ihre Schuhe wirbeln Asche auf, unter den Sohlen klirren Scherben. »Das Auto unseres Priesters explodierte, aus allen Richtungen flogen mit Benzin gefüllte brennende Flaschen durch die Scheiben des Klosters.« Der Mob brach durch das Eisentor in die Kirche ein, schlug alles kurz und klein, entweihte Reliquien und plünderte goldene Monstranzen, Messweinfläschchen, Kelche und Leuchter, aber auch Computer, den Kühlschrank, den Gasherd. »Selbst den Zucker aus der Küche nahmen sie mit«, sagt Schwester Fahmy. Später kamen Nachbarn, um den Brand zu löschen. Auch gemäßigte Muslime halfen. Wie durch ein Wunder verbrannte niemand. Wo wird Schwester Fahmy dieses Jahr Weihnachten feiern? »Hier«, sagt die Nonne und zeigt auf verkohlte Gebetsbänke, zertrümmerte Heiligenstatuen, verbrannte Bibeln und Ikonen; über allem liegt der beißende Geruch erkalteter Glut. »Sie können unsere Kirchen und Klöster zerstören, aber unser Glaube wird dadurch nur noch stärker.«
»Und er war dort bis zum Tod des Herodes«
»Und er war dort bis zum Tod des Herodes«, heißt es im Matthäusevangelium über Jesus. Die heilige Familie soll nach ihrer Flucht aus Judäa mehrere Jahre in Ägypten gelebt haben. Wo genau, ist nicht überliefert. Nach Herodes’ Tod erschien der Engel Josef erneut im Traum, und die Familie kehrte nach Nazareth in Galiläa zurück. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet in dem Land, das Jesus in der Geburtsstunde des Christentums Asyl gewährte, Christen bis heute verfolgt werden.
Der letzte schwere Anschlag ereignete sich in Kairo. Ende Oktober feuerten Vermummte von einem Motorrad aus wahllos auf eine Hochzeitsgesellschaft, die sich vor einer Kirche im nördlichen Stadtteil Al-Warak zur Trauung eingefunden hatte. Fünf Christen starben, darunter zwei Mädchen, acht und zwölf Jahre alt. Keine zehn Minuten von der Kirche entfernt, vor der noch immer getrocknetes Blut auf dem Asphalt zu sehen ist, sitzt Mama Badia müde, aber zufrieden in ihrem Ohrensessel. Tagelang hat sie in ihrem Haus, wie es vor Weihnachten Brauch ist, die Zimmer und Flure gewienert, Staub gewischt, Möbel poliert und Wände frisch bemalt, neue Teppiche ausgelegt und Sitzbezüge über Sessel und Sofas gespannt. Um die Heiligenbilder und Marienstatuen ranken sich frische Plastikrosen. Weihnachtsmärkte, Stiefel voller Nüsse und Süßigkeiten, Adventskalender, davon haben die Badias nie gehört. Weihnachtslieder wie Stille Nacht, heilige Nacht, kennen sie nicht. Wie alle ägyptischen Katholiken fasten sie 14 Tage vor Heilig-abend, verzichten auf Fleisch und Eier und essen auch keine Lebensmittel, die Milch enthalten. Kein Einkaufswahn, kein Alkohol, kein Glücksspiel, kein Sex. Vor allem die zweite Fastenwoche dient dem Innehalten, der Besinnung. Siebenmal am Tag treffen sich die Badias zum Hausgebet, einmal täglich gehen sie gemeinsam zur Messe und lassen sich von Priestern, die von Gemeinde zu Gemeinde wandern, die Weihnachtsbotschaft bringen. Geschenke gibt es aber auch hier: »Die kaufen die Eltern für ihre Kinder«, sagt Mama Badia in ihrem Sessel, »Kleider, Schlafanzüge, Schuhe – Sachen, die sie brauchen können.« Noch bis vor Kurzem bekamen die Kinder ihre Geschenke an Heiligabend nach der Mitternachtsmesse in ihrem Bett überreicht. »Jetzt packen wir alles in buntes Papier ein und legen es unter den Christbaum«, sagt Mama Badia. »Die Kinder lieben das.«
Doch so sicher, wie es scheint, können sich die Christen in Shubra, einer der koptischen Hochburgen von Kairo, nicht fühlen. Mehr als dreißig Prozent der gut zwei Millionen Einwohner, die in den verwinkelten Gassen dieses Stadtteils leben, sind Kopten. Zehn Kirchen gibt es allein im Viertel von Familie Badia. Die Straßen sind nach Heiligen benannt. Frauen gehen ohne Kopftücher auf die Straße, in Blusen und Jeans. In Geschäften hängen Poster von koptischen Kirchenführern, an den Rückspiegeln der Autos statt muslimischer Gebetsketten oft Kreuze und Rosenkränze. »Wir sind stolz, Christen zu sein«, sagt Mama Badia und wuchtet sich aus dem Sessel hoch. »Mit den Muslimen in unserer Straße sind wir aufgewachsen – die tun uns nichts.« Und doch wachen Polizisten vor der Kirche gegenüber. Auf hohen Kirchenmauern stehen Überwachungskameras. Kürzlich wurde rund um die Kirche ein Parkverbot erlassen. »Nur zur Sicherheit«, sagt Mama Badia und geht in die Küche, um im Backofen nach den Plätzchen zu sehen, »wegen der Bomben«. In Shubra ist es bislang ruhig geblieben. In Stadtvierteln hingegen, wo Kopten eine Minderheit bilden, bei einem hohen Anteil ultrakonservativer und radikaler Muslime, kann schon der kleinste Vorfall tödlich enden. In Imbaba, einem Slum im Nordwesten von Kairo, eskalierte in einer Wäscherei kürzlich ein Streit um ein verbranntes T-Shirt zu einer Straßenschlacht zwischen Muslimen und Christen. Am Ende brannten Häuser und Autos. Ein Christ starb. Hassprediger wie Hisham al-Ashri heizen die explosive Stimmung zusätzlich an. Noch kurz vor dem Sturz Mursis verlangte der Gründer der »Behörde zur Förderung der Tugend und zur Vermeidung des Lasters«, mit allen Mitteln sicherzustellen, dass die Ägypter sich in ihrem täglichen Leben an die Scharia hielten, an das Gesetz Gottes. Al-Ashris Organisation forderte ein Verbot von Alkohol und eine Kleiderordnung für Männer und Frauen aller Glaubensrichtungen. Im ägyptischen Fernsehen sagte er: »So etwas wie eine christliche Religion existiert nicht.« Ungläubige sollten umgehend zum Islam konvertieren.
Nicht alle Islamisten in Ägypten rufen zur Christenhatz auf. »Jesus ist für uns Muslime ein Prophet und ein Gesandter Gottes«, sagt der Salafist Scheich Hamdi nach dem Abendgebet in einer Moschee in Shubra, nicht weit vom Haus der Familie Badia. »Christen sind die Cousins der Muslime.« Der Salafismus ist eine ultrakonservative Strömung innerhalb des Islams, die im Westen oft als Synonym für Terrorismus gebraucht wird. Scheich Hamdi schüttelt den Kopf. »Man kann die Islamisten nicht für alle Probleme in Ägypten verantwortlich machen«, sagt der massige Bärtige im grauweiß gestreiften Gewand. In seinem Heimatort Qufada in Oberägypten, vier Stunden südlich von Kairo, ist Scheich Hamdi eng befreundet mit dem christlichen Priester Yohannes. Schon ihre Väter seien Freunde und er selbst als Junge regelmäßig zu Gast im Haus der Christen gewesen. »Heute kommt Yohannes oft zu uns zum Essen«, erzählt der Salafist. »Sein Lieblingsgericht ist knusprige Ente aus dem Backofen.«
Ausgerechnet die im Westen verschrienen Salafisten waren es, die während der religiösen Spannungen im August die einzige Kirche in Qufada gegen den Mob verteidigten. Mit Pistolen und Gewehren bewaffnet, wachte Scheich Hamdi mit ein paar Getreuen 15 Tage lang rund um die Uhr vor dem christlichen Gotteshaus – bis die Angreifer abzogen. »Es sind keine Muslimbrüder, die in Ägypten Christen angreifen«, ist Scheich Hamdi überzeugt. »Es sind Banditen.« Scheich Hamdi ist nicht der Einzige, der eine Verschwörung wittert. Überall in Ägypten kursieren Gerüchte, wonach die Geheimpolizei Straßengangs für Attacken auf Christen bezahle. Damit man die Gewaltakte hinterher den Muslimbrüdern in die Schuhe schieben könne, um so eine Carte blanche zu erhalten für ein rigoroses Vorgehen gegen die angeblichen Terroristen. Doch nach Mursis Sturz griff der Mob nicht nur Christen, sondern auch Polizeistationen an. Die Polizei soll also Kriminelle bezahlen, damit sie Polizisten töten? Ist das nicht etwas weit hergeholt? Nicht für viele Muslimbrüder. So abgrundtief ist ihr Misstrauen gegen den ägyptischen Staat. Wo wird Scheich Hamdi Weihnachten sein? »Vor der Kirche in Qufada«, sagt der Salafist. »Wir werden wieder Wache halten.« Damit den Christen nichts passiere.
»Und er war dort bis zum Tod des Herodes«
Bei Mama Badia, einer begnadeten Köchin, gibt es an diesem Abend Nilbarsch, eingelegt in Knoblauch und Kreuzkümmel, mit einer Prise Safran. Ein traditionelles Gericht in der Vorweihnachtszeit. Mama Badias Schwägerin ist zum Essen zu Besuch. Die zierliche junge Frau im rosaroten Trainingsanzug wohnt im Stadtteil Imbaba im Nordwesten Kairos. In einem christlichen Hospital, erzählt sie, starb dort bei einer Operation kürzlich ein Muslim. »Ein klarer Unfall. Doch noch am selben Tag brannten Muslime das Krankenhaus nieder.« In der kleinen Küche jongliert Mama Badia mit Pfannen und Töpfen, während ihr schweigsamer Bruder im Wohnzimmer die Weihnachtskrippe aus Sperrholz aufbaut. Toni und Johnny, die Kleinsten in der Großfamilie, stellen den Ochsen und den Esel auf und streuen ein wenig Stroh aus; drüben auf dem kleinen Hausaltar, der ebenfalls kurz vor Weihnachten errichtet wird, brennen schon die Kerzen.
Am nächsten Morgen findet im nahen Stadtteil Al-Warak die Trauerfeier für die Opfer des Anschlags auf die Hochzeitsgesellschaft statt. Gut 700 Gläubige drängen sich in den abgewetzten Holzbänken der kleinen dreischiffigen Kirche. Die Frauen tragen Schwarz, die Männer zum Zeichen ihrer Trauer lange Bärte. Schwermütige Gesänge, Tränen. Vor dem Altar stehen die Bilder der Opfer, großformatige Fotomontagen, die Männer, Frauen und Kinder zeigen, wie sie im Himmel von Jesus Christus auf die Stirn geküsst werden. Als Bischof Theodosios seine Trauerrede anstimmt, werden selbst die kleinen Kinder still. Nur das Flattern der Spatzen, die in den löchrigen Kirchenwänden nisten, ist zu hören. »Die Kugeln der Attentäter«, sagt der Würdenträger in seiner perlenbesetzten weißen Robe und der golddurchwirkten Bischofsmütze, »diese Kugeln haben nicht nur die Opfer getroffen, nicht nur diese Kirche, sondern ganz Ägypten.« Der ägyptische Staat sei eine »Zielscheibe der Muslimbrüder«, die er als »Mächte der Finsternis« bezeichnet und mit wilden Tieren ve-gleicht. »Amen! Amen!«, antworten die Gläubigen und heben die Hände zum Himmel.
Die koptischen Kirchenführer haben sich die Sprache des Militärs angeeignet. Sie stempeln Muslimbrüder pauschal zu »Terroristen«, preisen die Sicherheitskräfte für ihren »Feldzug gegen das Böse« und treten an der Seite von Generälen im Fernsehen auf. Damit nehmen sie in Kauf, dass Islamisten in ihrer Nachbarschaft wehrlose Christen als verlängerten Arm der verhassten Armee sehen und sich an ihnen für die Willkür und Gewalt rächen, der die Muslimbrüder seit Mursis Sturz ausgesetzt sind. »Nach all dem fragen sich diese Christen«, heißt es in der Rede eines islamischen Predigers, »warum ihre Kirchen angezündet werden.« Jede Aktion fordere eine Reaktion. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ägypten ist gefangen in einem verhängnisvollen Kreislauf: Mit den Angriffen auf Christen legitimiert das Militär seine brutalen Razzien gegen die Muslimbrüder. Mit den Razzien legitimieren radikale Muslimbrüder ihre Angriffe auf Christen. Und mit jedem neuen Angriff vertrauen die Christen immer blinder dem Militär, das immer brutaler gegen die Muslimbrüder vorgeht. Wer die letzten noch vorhandenen Reste der ägyptischen Staatsgewalt erschüttern will, muss nur ein wenig Öl in dieses Feuer gießen, um einen Flächenbrand auszulösen.
In der Kirche von Al-Warak endet die Trauerfeier. Draußen richten Polizisten ihre Schnellfeuergewehre auf vorbeifahrende Autos. Sicherheitsleute tragen schusssichere Westen. Einer nach dem anderen schütteln die Trauergäste den Angehörigen der Opfer die Hand, um ihr Beileid zu bekunden. »Sie starben unschuldig!«, sagt Abuna Daoud, der Priester der Kirche, mit geballter Faust. »Sie kamen, um zu beten, und sie gingen als Märtyrer! Direkt in den Himmel, zu Gott!« Es sind Töne, wie man sie von den Islamisten kennt. Vorgetragen mit der gleichen Vehemenz. Von den Gläubigen einer Kirche, die sich in einem seit mehr als 1300 Jahren mehrheitlich muslimischen Land behaupten muss. In Ägypten sterben Muslime und Christen gleichermaßen für Gott. Jeder für seinen eigenen.
Für das Weihnachtsfest wird Mama Badia zehn Hühner kaufen, zwei Truthähne, eine Gans und eine Ente; dazu zwölf Kilo Rind- und Büffelfleisch. An Heiligabend werden die Badias zur Mitternachtsmesse in ihre Kirche gehen. Der von Neonkerzen hell erleuchtete Altarraum hinter der Ikonostase, einer mit Ikonen geschmückten Holzwand, wird im Nebel des Weihrauchs verschwimmen, während der Priester ihnen zur heiligen Kommunion ein Stück mit Messwein getränktes Brot in den Mund legt. Dann, endlich, werden sie in Mama Badias Wohnzimmer das Fasten brechen. Merna bekommt vielleicht ihr Minikleid. In Sues isst Schwester Fahmy, die Franziskanernonne, in den Ruinen ihres Klosters Fatta, eine Fleischsuppe mit aufgeweichtem Brot und Reis, das traditionelle ägyptische Weihnachtsmahl. Und in Oberägypten wird Scheich Hamdi, der Salafist, vor der einzigen Kirche in seinem Ort wachen. Mit dem Gewehr im Anschlag. Damit es still bleibt in der Heiligen Nacht.
Fotos: Andy Spyra