Die Bundestagswahl 2021 ist für viele Menschen die erste Wahl ihres Lebens. Nicht nur für diejenigen, die vorher zu jung waren: Bis 2019 waren in Deutschland mehr als 80 000 volljährige Menschen mit Behinderung durch den Paragrafen 13 des Bundeswahlgesetzes von den Bundestags-, Europa- und den meisten Landtagswahlen ausgeschlossen. Dieser Paragraf wurde im April 2019 als verfassungswidrig gekippt. Menschen mit Behinderung, die in einer Vollbetreuung leben, dürfen seitdem wählen – auch mithilfe einer Wahlassistenz, die sowohl bei der Briefwahl als auch in der Wahlkabine unterstützen darf. Jan Bernhardt ist 24 Jahre alt, stammt aus einem Ort in Hessen und hat Trisomie 21. Seine Schwester Sophie Bernhardt ist 19 Jahre alt. Beide wählen bei dieser Bundestagswahl zum ersten Mal, Sophie ist zudem Jans Wahlassistentin. Hier erzählen die Geschwister, wie sie diese ganz besondere Wahl erleben.
Jan: Ich habe schon vor zwei Wochen gewählt. Ich habe mich für die Briefwahl entschieden, weil mir das leichter fällt. Man hat dabei mehr Zeit, alles daheim und in Ruhe durchzulesen und zusammen durchzusprechen. Ich bin seit sechs Jahren volljährig und das ist meine erste Wahl. Unfair fand ich das nie. 2017 war ja auch schon eine Bundestagswahl. Da habe ich mir nur gedacht: »Hoffentlich gibt das eine gescheite Koalition.« Es hat mich nie geärgert oder verletzt, dass ich nicht wählen durfte. Aber joah, ich habe mir jetzt schon gedacht: »Wir hätten ja früher auch gerne gewählt – warum wurde uns das so schwer gemacht?« Und als ich erfahren habe, dass ich dieses Jahr wählen darf, da habe ich mich gefreut wie ein Leuchtkeks! Yes, das finde ich jetzt richtig gut.
Sophie: Wir haben uns als Familie nie mit der Frage beschäftigt, warum Jan nicht wählen darf. Es war einfach eine Tatsache, die wir so hingenommen haben. Vollbetreuung heißt in Jans Fall, dass er bei uns zuhause lebt und meine Mutter seine offizielle Betreuerin ist. Und ich finde nicht, dass das eine etwas mit dem anderen zu tun hat: Nur weil ein Mensch mit Behinderung vielleicht nicht in der Lage ist, seinen Alltag allein zu managen, heißt das nicht, dass er sich nicht für Politik interessiert oder er sich nicht selbst eine Meinung bilden kann. Wir freuen uns umso mehr, dass er dieses Jahr endlich wählen darf. Ich bin der Meinung, dass Menschen mit Behinderung in der Politik bislang gar keine Stimme hatten. Dadurch, dass viele von ihnen keine Möglichkeit hatten, zu wählen, wurden auch ihre Rechte und Bedürfnisse nicht so vertreten, wie sie es verdient hätten. Es geht bei dieser Wahl auch um Teilhabe, das merke ich stark an Jan: wie er sich plötzlich informiert, wie er sich plötzlich interessiert.
Jan: Früher fand ich Politik nie so interessant. Es war eher so, dass ich gesagt hab: »Joah, dann macht doch, was ihr wollt!«
Sophie: Das ist heute ganz anders. Und zwar nicht nur bei Themen, die ihn selbst betreffen, sondern bei Themen aus aller Welt. Er weiß besser Bescheid als ich über das, was gerade in Afghanistan passiert, versteht die Zusammenhänge besser, kann Dinge besser hinterfragen. Das merke ich in Gesprächen in der Familie: Oft ist es so, dass meine Mutter und ich irgendwas noch gar nicht mitgekriegt haben, und Jan weiß schon längst Bescheid. Warum sollte er also nicht wählen dürfen, die politisch Desinteressierten aber schon?
»Jan und ich haben uns auf der Seite der Lebenshilfe die Wahlprogramme der Parteien in Leichter Sprache heruntergeladen und sind sie zusammen durchgegangen«
Jan: Ich informiere mich vor allem über den Fernseher. Ich schaue oft Nachrichten, Tagesthemen oder das Heute Journal. Yes, damit ich mich auskenne, und auch, damit ich weiß, wen ich wählen will.
Sophie: Ich bin Jans Wahlassistentin bei der Bundestagswahl. Das bedeutet, dass ich ihm zusammen mit unserer Mutter geholfen habe, zu verstehen, wie die Wahl funktioniert, was eine Erststimme ist, was eine Zweitstimme ist, wie das praktisch abläuft, wo man das Kreuzchen setzen muss, damit der Stimmzettel gültig ist. Wenn niemand aus dem Familienkreis die Wahlassistenz übernimmt oder in der Lage ist zu übernehmen, dann kann sie auch von einer anderen Vertrauensperson, wie einer Freundin, einem Nachbarn oder einem Betreuer ausgeführt werden. Superwichtig dabei ist, dass es nur eine technische Hilfestellung ist und die Entscheidung für die Wahl trotzdem der betreuten Person überlassen bleibt. Jan und ich haben uns auf der Seite der Lebenshilfe die Wahlprogramme der Parteien in Leichter Sprache heruntergeladen und sind sie zusammen durchgegangen. Und wir haben uns alle Personen auf dem Wahlzettel durchgelesen. Über die einzelnen Parteien haben wir aber nicht mehr so viel geredet, weil sich Jan schon sehr früh sicher war, wen er wählen wollte. Da wollten wir uns gar nicht erst einmischen oder ihn in irgendeiner Form beeinflussen.
Jan: Yes, ich war mir schon so lange sicher, wen ich wählen will, weil ich so viel Nachrichten geschaut habe. Nö, das war gar nicht so schwer. Ich habe das ganz allein entschieden.
Sophie: Dann haben wir Jan in der Küche mit den Stimmzetteln allein gelassen und ihm gesagt, dass er sich melden soll, wenn er fertig ist. Und das hat er dann auch gemacht – er hat alle Zettel selbstständig zusammengefaltet und in den Umschlag gepackt. Und dann haben wir den Brief zusammen abgeschickt.
Jan: Das war ein Eins-A-Gefühl, als ich den Brief weggeschickt habe!
Sophie: Ich weiß, wen Jan gewählt hat, das hat er deutlich geäußert. Wir reden da in der Familie auch offen drüber. Ich selbst wähle am Sonntag im Wahllokal und habe mich noch gar nicht endgültig entschieden, wen ich wählen werde. Als Erstwählerin habe ich aber durch die Wahlassistenz selbst sehr viel gelernt, habe mir dadurch selbst nochmal klarmachen können, wie die Bundestagswahl abläuft. Und es hat dadurch auch viel mehr Spaß gemacht, diesen Wahlkampf zu verfolgen.
Jan: Ich bin froh, dass ich so gut Bescheid wusste, bevor ich mein Kreuzchen gemacht habe. Und dass meine Mutter und meine Schwester mir da geholfen haben: Yes, das war echt gut!
Sophie: Ich weiß, dass manche befürchten, dass durch das inklusive Wahlrecht Wahlfälschung betrieben werden könnte, dass Menschen mit Behinderung vielleicht manipuliert werden. Bei uns persönlich habe ich dafür überhaupt keine Gefahr gesehen. Mir war es extrem wichtig, dass Jan unbeeinflusst bleibt, weil für mich der zentrale Punkt ist, dass er selbst diese Entscheidung trifft. Sicher gibt es auch Menschen, die diese Situation ausnutzen. Leider sind Menschen mit geistiger Behinderung oft sehr leicht beeinflussbar. Aber von seinem Umfeld beeinflusst zu werden, davor ist ja letztlich niemand gefeit: Das kann auch alten Menschen passieren, dementen Menschen, oder auch jungen Menschen wie mir.
Mein Bruder hat den Wunsch, sich informieren zu können, selbst eingefordert. Bei meinem Nebenjob in der Lebenshilfe jedoch habe ich gemerkt, dass in Wohnheimen oder Werkstätten oft gar keine Zeit ist, um über politische Themen zu sprechen. Meiner Meinung nach ist es nicht nur nötig, sondern absolut zwingend, dass Menschen mit Behinderung umfassende Informationen bekommen, damit sie verstehen, worum es geht. Ansonsten hilft es auch nichts, dass sie jetzt wählen dürfen. Ich würde mir wünschen, dass es Informationstage zur Wahl gibt, in Wohnheimen oder in Werkstätten. Wahlassistenz sollte mehr beinhalten, als nur das Prozedere zu erklären oder dabei zu helfen, ein Kreuzchen zu malen. Als Wahlassistentin wurde ich eigentlich gar nicht darin unterstützt darin, wie ich meinen Bruder am besten unterstützen kann – das musste ich alles selbst herausfinden. Ich hätte es zum Beispiel toll gefunden, wenn alle Menschen, die in einer Betreuung leben, automatisch Broschüren zum Wahlkampf oder Parteiprogramme in Leichter Sprache zugeschickt bekommen hätten.
Jan: Yes, ich bin super gespannt, wie diese Wahl ausgeht. Ich wünsche mir von der Politik, dass wir klimaneutral werden, ich hoffe, dass das die neue Regierung mal hinkriegt. Und ich wünsch mir, dass Sachen endlich mal fertiggemacht werden, Baustellen und so. Es werden immer so viele Dinge angefangen, sowas wie Stuttgart 21, dann steckt man viel Geld rein, dann werden wieder neue Dinge angefangen. Das finde ich nicht gut, das bringt doch nichts. Ich weiß nicht, wieso die das in der Politik nicht mal hinkriegen. Ich arbeite bei uns in der Werkstatt in der Gärtnerei, und selbst da haben wir das schon gelernt. Da heißt es immer: Erstmal eine Ecke fertigmachen, bevor man in tausend Ecken gleichzeitig rumrennt. Und vor allem wünsch ich mir für Menschen mit Behinderung Mindestlohn in Werkstätten und die Grundrente.