Baku: zero points

Schöne bunte Welt des Eurovision Song Contests: Im Mai blickt ganz Europa nach Baku. Aber bei aller Vorfreude - Aserbaidschan ist ein Staat, der Menschen verfolgt und jede Opposition unterdrückt. Ein Besuch hinter dem Vorhang.

Ich liebe mein Land«, sagt Sabina Babayeva. Etwas anderes hätte sie auch nicht sagen können. Die Sängerin aus Aserbaidschan steht am 26. Mai im Mittelpunkt der größten Show, die es in ihrem Land je gegeben hat. Sie wird vor mehr als hundert Millionen Fernsehzuschauern singen, als Vertreterin Aserbaidschans beim Eurovision Song Contest in Baku.

»Ich bin voller Wut auf dieses Land«, sagt Xadidja Gulemirov. Sie muss für Babayevas Auftritt ihre Wohnung räumen. Ihr Wohnblock wird bald abgerissen, er steht der Zufahrt zur neuen Eurovision-Arena im Weg, die ein paar Hundert Meter weiter gebaut wird. Auf dem Grundstück sollen Parks entstehen und eine Straße, die die Stadtautobahn mit der Arena verbindet.

Gulemirov ist 49 Jahre alt, sie hat Augenringe und Falten, die nicht vom Lachen kommen, ihren Kopf wärmt sie in einer Kapuze. Es ist kalt in ihrer Wohnung im siebten Stock des grauen Wohnblocks, die Heizung funktioniert nicht mehr, die meisten Nachbarn haben schon aufgegeben und sich ein neues Zuhause gesucht. Die Regierung hat den Gulemirovs Geld geboten, aber es reicht nicht für eine neue Wohnung. Xadidja Gulemirov serviert schwarzen Tee mit Zitrone, »heute funktioniert immerhin der Gasherd wieder«, gestern hatte die Stadt mitten im Winter Strom und Gas abgedreht, um die letzten Bewohner der Agil-Guliyev-Straße Nummer 5 mürbe zu machen, damit sie endlich verschwinden.

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Seit fast einem Jahr bestimmt der Eurovision Song Contest das Leben beider Frauen. Babayeva, die Sängerin, schlägt als Treffpunkt die Bar des »Hyatt Regency«-Hotels im Zentrum Bakus vor, wo eine Portion Tee umgerechnet 6,50 Euro kostet. Sie ist mit ihrem Mercedes-Geländewagen vorgefahren, ihr Pelzmantel reicht bis zum Boden. Mit ihren großen dunklen Augen, der Körperhaltung einer Ballerina und den glatten braunen Haaren sieht die 32-Jährige aus, als wäre sie in Hollywood zum Casting für Operndiven bestellt. Als Aserbaidschan vergangenes Jahr den Song Contest in Düsseldorf gewann, hat Babayeva geweint vor Freude, auch weil das Recht, dieses Jahr Gastgeber zu sein, sie stolz machte. Natürlich ging sie raus auf die Straße, Autokorso, Fahnenschwenken, bis es hell wurde. Am nächsten Tag der Entschluss: Sie will für ihr Land antreten und den Titel verteidigen. Sie hatte es auch in den Jahren zuvor schon probiert, dreimal ist sie in den Vorrunden des Eurovision-Castings ausgeschieden.

Beim Treffen in der Hotelbar im Januar hatte sie sich gerade für das Halbfinale qualifiziert. Aber sie galt schon da als Favoritin, weil sie ziemlich genau so ist, wie Aserbaidschan sich der Welt präsentieren will: hübsch anzuschauen, weltoffen und patriotisch. Sie singt, seit sie zehn war, sie hat an der besten Musikhochschule des Landes studiert, Soul, Pop, Jazz, »was die Leute eben hören wollen«. In Paris ist sie aufgetreten, die Fotos davon zeigt sie auf ihrem Handy. Auch in Frankfurt war sie schon, sie erinnert sich an den Weihnachtsmarkt, »ich will bald wiederkommen, zum Shoppen«.

Für ihren Auftritt im Finale der Castingshow wählte sie The Greatest Love of All von Whitney Houston, die kurz vor Babayevas Auftritt tot in der Badewanne gefunden wurde. Beim Singen waren Babayevas Augen feucht, auch im Publikum gab es Tränen, die Jury konnte nicht anders, als sie zur Siegerin zu küren. Wenn sie dann Ende Mai auf der Eurovision-Bühne steht, hat Sabina Babayeva genau drei Minuten Zeit, um der Welt zu zeigen, was sie kann – länger darf ein Song im Finale des Song Contests nicht sein. Ein Jahr Arbeit für drei Minuten Show.

Dass alles abgerissen wird in dem Viertel, in dem Xadidja Gulemirov und ihr Mann vor 20 Jahren eine Wohnung gekauft haben, hat der Stadtrat am 31. Mai 2011 beschlossen, zwei Wochen nachdem Baku als Gastgeber feststand. Einen offiziellen Räumungsbescheid hat Xadidja bis heute nicht bekommen, aber das Haus wurde langsam immer leerer, weil fast alle Nachbarn ihre Wohnungen aufgegeben haben, »sie hätten ihre Jobs verloren, wenn sie gegen den Willen der Regierung hier geblieben wären«. Junge Männer mit schwarzen Wollmützen pöbeln jeden an, der sich dem Haus nähert. »Schläger der Regierung«, sagt Xadidja Gulemirov, »die sollen uns einschüchtern.«

Es gibt weniger Pressefreiheit als im Irak oder in Afghanistan

Ihr Mann ist im Ruhestand, auf seinem linken Unterarm verblasst ein tätowierter Anker, er war Hauptmann bei der Marine. Weil sie nichts mehr zu verlieren haben, kämpfen die Gulemirovs um ihre Wohnung, auch wenn sie den Kampf eigentlich längst verloren haben. Das Haus wird abgerissen, daran zweifeln sie nicht, es ist ja jetzt schon kaum noch bewohnbar. Die Schimmelflecken an der Wand sind groß wie Bettlaken. »Als die Wohnung über uns geräumt wurde, hat die Stadtverwaltung alle Wasserrohre kaputt geschlagen«, sagt sie, »jetzt sickert Wasser durch die Decke.« Die Reste des verfaulten Parkettbodens kleben tagelang an den Schuhsohlen. »Der Eurovision Song Contest bringt nur Unglück«, sagt Xadidja, ihr Mann hält ihre Hand, »wir sollen unsere Eigentumswohnung aufgeben, nur weil die Regierung sich mit dieser dämlichen Show bei Europa einschleimen will.«

Vom Balkon aus kann man die neue Hafenpromenade sehen, die Bakus Altstadt mit den neu gebauten Luxushotels im Nordosten verbindet.

Die Stadt kommt daher wie eine Mischung aus Dubai und Paris, überall entstehen neue Hochhäuser, die Baukräne arbeiten rund um die Uhr. Dazwischen: Villen aus dem 19. Jahrhundert, gebaut von Ölmagnaten während des ersten Ölbooms, als rund die Hälfte der weltweiten Erdölproduktion aus Aserbaidschan kam. Die Innenstadt Bakus ist voller Poster, die Reklame für den Song Contest machen: »Light Your Fire« steht darauf, dieses Jahr das Motto. Man sieht sie fast so oft wie die Bilder des ehemaligen Präsidenten Heydar Alijew, autoritärer Staatsmann und ehemaliger Geheimdienstchef – nach ihm sind der Flughafen, das Kulturzentrum und ein Boulevard benannt. Die Macht hat er vor neun Jahren an seinen Sohn Ilcham vererbt.

Aserbaidschan, etwas größer als Österreich, gut neun Millionen Einwohner, war lange Zeit ein heruntergewirtschaftetes Überbleibsel der zerfallenen Sowjetunion. Inzwischen ist das Land mit Öl- und Gasexporten wieder zu Reichtum gekommen. Aber das Geld ist ungleich verteilt. Die Mieten in der Innenstadt Bakus sind hoch wie in München, doch ein Lehrer verdient rund 200 Euro im Monat. So lässt es sich nur leben, wenn sich mehrere Familien eine Wohnung teilen – oder wenn Geringverdiener weit weg vom Stadtzentrum leben.

An den Ausfallstraßen stehen achtstöckige Altbauten mit verzierten Sandsteinfassaden, die aussehen wie europäische Baudenkmäler, die sich irgendwie ans Kaspische Meer verirrt haben. In Wirklichkeit sind es heruntergekommene Gebäude aus Sowjetzeiten. Nur die Außenfassaden sind neu, sie wurden erst vor ein paar Jahren angebracht.

Aserbaidschan möchte wie ein Land wirken, das zwar zwischen dem Iran und Russland liegt, aber eigentlich zu Europa gehört. Bisher klappt das nicht besonders gut. Seit Monaten ist in Europa in den Zeitungen zu lesen, dass Aserbaidschan den Song Contest zur Propaganda nutzen will, obwohl es kein freies Land ist. Das Europäische Parlament hat letztes Jahr eine Resolution über Aserbaidschan veröffentlicht, in der dem Land Dutzende Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden – und da geht es um mehr als um Zwangsräumungen. Wahlen laufen undemokratisch ab, es gibt keine Oppositionspartei im Parlament, auf dem Korruptionsindex von Transparency International liegt das Land auf Rang 143 von 182. Im August wurde das wichtigste Menschenrechtszentrum abgerissen, die Mitarbeiter wurden von Polizisten regelrecht aus ihren Arbeitszimmern gezerrt. Die Pressefreiheit stuft die Organisation Reporter ohne Grenzen schlechter ein als im Irak und in Afghanistan, erst im November wurde ein regimekritischer Journalist vor seinem Haus erstochen. Laut Human Rights Watch hat die Polizei letztes Frühjahr 350 Menschen festgenommen und teilweise zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, nur weil sie – inspiriert vom Arabischen Frühling – gegen die Regierung protestiert haben.

Ende Januar war der Düsseldorfer Oberbürgermeister Dirk Elbers zu Gast in Baku, als eine Art Eurovision-Botschafter. Er ist gekommen, um seinem Amtskollegen die Eurovision-Insignien zu überreichen – einen symbolischen Schlüsselbund mit den Anhängern aller Städte, die in den letzten Jahren Gastgeber des Song Contests waren.

Elbers, ein großer, kantiger Mann mit Föhnfrisur und randloser Brille, fremdelt mit der Stadt. Er hat seine Armbanduhr nicht umgestellt, sie zeigt Düsseldorfer Zeit an, sie ist Baku drei Stunden hinterher. Er hat eine Delegation dabei, Menschen, die sich letztes Jahr in Düsseldorf um Wasserversorgung, Straßensperren und Polizei gekümmert haben, aber ihr Wissen ist nicht besonders gefragt: »Die Leute hier regeln das auf ihre Weise.« Elbers hat keine kritischen Fragen gestellt bei seinen Treffen mit Parteifunktionären, auch Gespräche über Menschenrechte und Pressefreiheit haben sich nicht ergeben, »ist ja eher eine Kulturreise«.

Zusammen mit dem deutschen Botschafter ist er im Konvoi mit drei Geländewagen durch die Stadt gefahren, um den Flaggenplatz zu besichtigen, der Weg führte am Abrisshaus der Gulemirovs vorbei. Der Flaggenplatz ist ein Ort des Größenwahns: Ein 162 Meter hoher Fahnenmast, kilometerweit sichtbar, dort weht eine Flagge Aserbaidschans, blau, rot, grün mit Halbmond und achtzackigem Stern – sie misst 2450 Quadratmeter und wiegt 350 Kilo. Auf Flachbildschirmen läuft eine Videosequenz, in der der Präsident in Endlosschleife die aserbaidschanische Flagge küsst. Und eine Urkunde des Guinnessbuchs der Rekorde gibt es dort zu sehen, sie bescheinigt Aserbaidschan den höchsten Flaggenmast der Welt. Aber das Dokument ist von 2010 und schon veraltet. Seit letztem Jahr gibt es einen noch höheren: Tadschikistan, eines der ärmsten Länder der Welt, 2000 Kilometer weiter östlich, hat nun einen um drei Meter höheren Flaggenmast.

Die Sängerin Sabina Babayeva interessiert sich nicht für Politik – ihr Lied wird von Liebe handeln

Auch die Verfassung des Landes kann man am Flaggenplatz besichtigen, sie ist in weißes Leder gebunden und in einem Glaskasten ausgestellt wie eine ausgestorbene Tierart im Naturkundemuseum. In dieser Verfassung steht unter Artikel 43, dass Menschen nicht einfach aus ihren Häusern vertrieben werden dürfen. Aber dieses Recht, so wie viele andere im Land, existiert nur auf dem Papier: Auch die Eigentümerin des abgerissenen Menschenrechtszentrums hatte einen Gerichtsbeschluss, der die Räumung des Gebäudes verboten hat. Die Bagger kamen trotzdem.

Wenn man Sabina Babayeva, die Sängerin, auf Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan anspricht, bekommt man eine erstaunliche Antwort: »Das habe ich noch nie gehört«, sagt sie, »nicht in der Zeitung gelesen, nicht im Fernsehen gesehen.« Dabei sei die Presse doch gut hier, der Fernsehsender Ictimai TV, der auch den Song Contest überträgt, sende ein tolles und ausgewogenes Programm. Und überhaupt: Sie interessiere sich nicht für Politik, »ich will einfach nur singen. Ich kann von meiner Musik leben, darum fühle ich mich wohl hier.«

Im Musikclub »Otto« in Bakus Innenstadt hört man andere Meinungen. Einer sagt, er finde keinen Job, weil sein Vater sich mit der Regierung angelegt habe. Ein anderer will wissen, was für Dokumente man braucht, um in Europa Asyl zu beantragen. Man kommt in dem Musikclub leicht mit Menschen ins Gespräch, die Kneipe könnte mit ihren Gewölbedecken, den Sitzecken und der langen Bar auch in Düsseldorf oder Oslo stehen. Jeden Abend spielen Bands, hier treffen sich Studenten, Künstler, Schwule, obwohl Homosexualität im muslimischen Land Aserbaidschan ein Tabu ist. Das deutsche Auswärtige Amt warnt schwule Reisende, dass die Polizei sie verhaften und erst nach Zahlung von Schutzgeld wieder freilassen könnte.

Einer der Gäste ist Mahmout, ein freundlicher Typ mit Jeansjacke, kurzen Haaren und breiten Schultern. Er heiratet morgen. »Wenn du eine wirklich gute Show sehen willst, komm vorbei«, sagt er, »berichte über die Hochzeit, damit die Leute in Europa sehen, wie es in Aserbaidschan wirklich ist.«

Die Feier am nächsten Tag beginnt um acht Uhr abends im rot gestrichenen Nebenraum eines Lokals am Stadtrand. Die Braut trägt ein cremefarbenes Prinzessinnenkleid und eine Seidenstola mit weißem Pelzrand, in ihren schwarzen Haaren funkeln kleine Plastikperlen, der Bräutigam erscheint im schwarz glänzenden Smoking. Der Tisch des Brautpaars steht auf einer Empore, weitab von den Gästen, zwischen ihnen eine goldene Skulptur zweier turtelnder Vögel, umgeben von Rosengestecken. Das Brautpaar wirkt etwas abwesend, kein einziger Kuss bisher.

Hundert Gäste sind gekommen, fast alles Verwandte, es gibt gegrillten Stör, Wodka und aserbaidschanischen Diskopop, zu dem die Cousinen der Braut in ihren Miniröcken und hochgesteckten Haaren tanzen, bis ihnen der Kunstnebel in den Augen brennt. »Tolle Show, oder?« sagt Mahmout, der Bräutigam.

Das Problem ist nur: Der Bräutigam ist schwul. Und seine Frau lesbisch. Die beiden haben sich im Sommer im Urlaub kennengelernt und einen Pakt geschlossen: Sie spielen für ihre Familien das Liebespaar, damit sie endlich ihre Ruhe haben. Es sei ihm wichtig, dass jemand darüber in der Zeitung schreibt, sagt Mahmout, der in Wirklichkeit anders heißt. Ihre engsten Freunde seien eingeweiht, »aber unseren Familien können wir es nicht erzählen, sie würden uns verstoßen.«

Drei Wochen später, als feststeht, dass die Sängerin Sabina Babayeva ihr Land beim Song Contest vertreten wird, gibt sie Fernsehreportern ein Interview. Mit welchem Lied sie antritt, weiß sie noch nicht genau, aber es wird wohl von der Liebe handeln. Auch sonst wird alles sein wie immer: Die 57. Ausgabe des Eurovision Song Contests wird ein Fest, Politik wird konsequent ausgeblendet, darauf bestehen die Veranstalter. Sabina Babayeva sagt: »Ich werde alles tun, um unser modernes Land erfolgreich zu vertreten.«

In der Woche, in der Sabina Babayeva das Fernsehinterview gibt, haben Bagger das Dach des Wohnblocks abgerissen, in dem Xadidja Gulemirov und ihre Familie gelebt haben. Was sie jetzt wohl macht, wie es ihr geht? Sie ist nicht mehr zu erreichen. Die Telefonleitung ist tot.

Fotos: Thomas Dworzak / Magnum Photos / Agentur Focus / Mehman Huseynov