Bruce Collins, dessen dichter weißer Haarschopf in der Frühlingssonne leuchtet, wartet an der Dampferanlegestelle am Wakatipu-See. Herzliches Hallo, dann lenkt er den Jeep querfeldein, vorbei an Manuka-Gestrüpp und großen Viehherden hinauf zum Gästehaus der Farm. Während er Gatter um Gatter öffnet und schließt, beginnt er sofort zu erzählen, und es ist, als würde man den Lieblings-onkel besuchen, der in einer anderen Zeit lebt, in der nicht Uhren, Handys und Computer, sondern Wind, Wetter und Wildwechsel den Tag bestimmen.
Mount Nicholas Station ist einer der am höchsten und einsamsten gelegenen Höfe der neuseeländischen Südalpen und bis auf die Helikopter, die gelegentlich landen, hat sich seit Generationen nichts verändert: Drei Familien leben hier, dazu zwei Schäfer, eine Köchin, 29 000 Merinoschafe, dreitausend Kühe, Schweine, ungezählte Hirsche. Drum herum 600 Quadratkilometer Weideland – weiter als das Auge reicht und so steil, dass ein Hirte es nicht mit dem Motorrad abfährt, sondern auf dem Pferd reiten muss. In all der Wildnis plötzlich ein lieblicher Garten rund ums Haus, wo die Kirsche blüht.
Bruce und seine Frau Adrienne sind nicht die Besitzer der Station, wie man in Neuseeland eine Viehfarm dieser Größe nennt, sondern betreiben die dazugehörige Lodge, die gleichzeitig ihr Zuhause ist. Man wohnt mit ihnen, ganz selbstverständlich, selbst die Tür zu ihrem Schlafzimmer steht tagsüber offen. Die Gästezimmer sind eher gemütlich als luxuriös, Blumen vorm Fenster, Blick auf den See, ein Pferd läuft vorbei.
Das Paar hat vor vier Jahren das Kleinstadtleben hinter sich gelassen. Die Gefährten sind jetzt Sally, die zahme Ziege mit einem schiefen Horn, und Frizz, ein Hausschaf. Es ist vor ein paar Tagen geschoren worden, jedoch aus Versehen, denn es hatte sich in die Herde verirrt. Die dabei entstandenen Verletzungen behandelt Adrienne mit heilendem Honig aus der Manuka-Pflanze, »natürlich von Mt Nicholas«. Sie zieht eine Lachs-Quiche aus dem Ofen. »Die Eier sind von unseren Hühnern, das Gemüse und die Kräuter pflanze ich selber an«, sagt sie, »und den Fisch hat Bruce gefangen.« Über dem Küchentisch tickt der Stromzähler, der Volt-Anzeiger ist stets im Blickfeld – er darf nicht zu hoch ausschlagen. Auch Elektrizität wird auf Mt Nicholas selbst erzeugt.
Das Funkgerät in der Küche springt an. Der Bauer braucht Hilfe beim Entladen, ein Laster mit Dünger ist unterwegs. Adrienne schnappt sich einen Eimer. Sie trägt einen Sportpulli aus Merinowolle – Mount Nicholas ist der größte Lieferant der Firma Icebreaker.
Wer möchte, kann hier oben also wandern, fischen, jagen, nichts tun – oder am Betrieb der Farm teilnehmen. Gerade läuft die letzte Woche der Schafschur an, danach kommen die Lämmer zur Welt. Der Trupp der Schafscherer vagabundiert in der Saison von Farm zu Farm, wochenlang. Knochenarbeit im Akkord, von morgens um sechs bis abends um sieben, kaum ein Tag frei.
Die Hirten, Ed und Hamish, demnächst Studenten, rufen kurze Befehle und wedeln mit Armen und Stöcken, ihre Hunde springen übers Gatter und treiben Schafe in den Pferch. Im Stall dröhnt Countrymusik aus dem Radio, über allem elektrisches Summen, Blöken, Gelächter. Frauen in weiten T-Shirts laufen zwischen Tischen und Haufen geschorener Rohwolle hin und her, dahinter eine Reihe gebückter Männer mit Schermessern, die wie Riesenrasierer aussehen. Klappen gehen auf und zu, durch die jeweils ein pelziges Schaf gezogen und Minuten später kahl geschoren zurückgeschubst wird. »Ein Fließband«, sagt Bruce, »15 Leute, 1300 Tiere pro Tag.«
Die für ihre Wolle, nicht ihr Fleisch gezüchteten Merinoschafe sind schwer zu scheren, weil ihr Hals so faltig ist. Wie man es schafft, dass das Schaf zwischen den Beinen ruhig bleibt und sich nicht wehrt? »Es ist so eine Art Tanz, wie mit einer Frau.« Richie Hicks, der Chefscherer, grinst. »Wenn sie sich entspannt, kannst du ihr die Kleider ausziehen.« Ein kurzes Bimmeln, Schichtwechsel, Kaffeepause.
Im nächsten Arbeitsschritt werden schmutzige Zotteln herausgezupft, am Ende landet die handgereinigte Wolle auf dem Tisch des Kontrolleurs, der mit einem Griff bestimmt, welche Qualität die Faser hat – eins, zwei oder drei.
Bruce will weiter, es gibt noch so viel zu sehen. Er steigt in den Jeep, fährt über Schotterpisten und an tiefen Schluchten vorbei: »Die Schafe klettern bis auf zweitausend Meter, im Winter haben wir zweihundert im Schneesturm verloren, per Helikopter haben wir sie einzeln herausgehoben.« Er hält an einer Hütte aus Pionierzeiten. Schiefersteine, ein rußiger Kamin, alte Bettgestelle. Angler schlafen dort manchmal, aber nachts spukt es: »Der Koch, der damals hier wohnte, erschlug seine Frau.« Es gibt noch weitere historische Hütten, nur zu Fuß zu erreichen und sorgsam konserviert – »doch dafür braucht man Zeit«.
Zeit hätte man allerdings gern etwas mehr hier oben. Man könnte sie sich schon vertreiben. Bruce und Adrienne sagen, sie wissen manchmal nicht einmal mehr, welcher Wochentag ist. Spielt ja auch keine Rolle, für sie.
Kontakt: Mt Nicholas Lodge, Bruce Collins, PO Box 1882, Queenstown, Neuseeland, Tel./Fax 0064/3/409 07 12, info@mtnicholaslodge.co.nz. Vollpension im DZ ab 179 Euro pro Person und Nacht.
Fotos: Ryan Larraman; Illustration: Serge Bloch