Liebeserklärung an das Autoradio

Durch Musik wird eine lange Fahrt zu etwas Größerem – aber nur, wenn man sich dem Radio ausliefert.

Das Autoradio zu be­dienen, ist die edelste Aufgabe des Beifahrers, seit er wegen der An­weisungen des Naviga­tionsgerätes keine Karten mehr lesen muss.

Bild: Don limpio / photocase.de

Mein liebster Moment beim Autofahren ist, wenn die Gespräche verstummen. Wenn die Welt an mir vorbeizieht, die Sonne durch das Dachfenster auf meine Beine scheint und nur noch diese Geräusche bleiben: das Rauschen der Reifen auf dem Asphalt. Das Wummern der Luft, die durch das Fenster hereinströmt. Und dazu ein Lied, das den ganzen Moment aus dem eigenen Leben hebt und zu einer Filmszene werden lässt.

Musik ist die wichtigste Zutat für einen Roadtrip. Sie lässt Autofahren größer wirken als das, was man eigentlich macht: in einem Hohlraum sitzen und einen Weg zurücklegen.

Aber die erhabensten Augenblicke ent­stehen nicht, wenn man eine CD mit seinen Lieblingsliedern abspielt. Sondern wenn man sich auf das Autoradio einlässt. Nur wer Radio hört, spürt das Reisen richtig. Weil der Sender zu rauschen beginnt, wenn man das Sendegebiet verlässt. Weil sich der Dialekt der plappernden Moderatoren ändert. Weil der eine das R rollt und der nächste das P so weich ausspricht, dass es zu einem gepusteten B wird. Und man aus der Mischung aus braunen Sehenswürdigkeitenschildern am Autobahnrand, der Landschaft und dem Moderatorendialekt erst ein Gefühl für die Region bekommt, durch die man gerade fährt.

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Die Wirkung ist umso magischer, sobald man Deutschland hinter sich gelassen hat und italienische Popsongs oder französische Chansons aus den Lautsprechern kommen. Lieder also, die man in jeder anderen Situation viel zu süß und klebrig fände. Aber wenn man am späten Nachmittag durch die Hügel der Provence fährt, Kirschbäume und Weinreben sieht, ist es auf einmal einfach nur schön, wenn Michel Sardou Je vole haucht. Es verbindet mich mit dem Land: So, ganz vage, muss es sich anfühlen, hier zu leben. Und im Büro mag Bohemian Rhapsody von Queen unerträglich sein – aber auf der Straße sind diese sechs Minuten der Soundtrack meiner reisenden Seele.

Es gibt auch praktische Gründe, die für das Autoradio sprechen. Wenn wir in meiner Kindheit in den Urlaub fuhren, wollten meine Eltern eigentlich immer dieselbe CD hören: Sailing to Philadelphia von Mark Knopfler. Sobald die verzerrte E-Gitarre des ersten Tracks einsetzte, protestierten meine Brüder und ich auf der Rückbank. Unser Musik­geschmack war nicht unter einen Hut zu bringen. Meine Eltern wollten britischen Progressive Rock. Meine Brüder deutschen Hip-Hop. Und mein neunjähriges Ich verlangte nach Weinst du von Echt, immer und immer wieder, nichts anderes. Es war … schwierig.

Nur das Radio war für alle in Ordnung, denn es ist ein Kompromiss: Niemand bekommt seinen Willen. Alle liefern sich dem Zufall aus, der Rockklassiker und Chart-Hits ausspuckt. Und eben dieser Zufall macht das Radiohören so besonders. Im Alltag laufe ich mit Kopfhörern durch die Gegend, wähle auf meinem Smartphone ein Lied, in der Hoffnung, dass die Minute weniger grau wirkt, die ich durch die Unterführung zur S-Bahn laufe. Aber das funktioniert nicht recht, denn ich rechne ja mit dem Lied. Und selbst wenn der Algorithmus von Spotify mir ein neues Lied vorspielt, ist es immer noch eins, das gut zu meinem Musikgeschmack passt, und insofern ebenfalls berechenbar.

Sitze ich aber mit Freunden im Auto und höre Radio, dann habe ich immer wieder diese Vorfreude im Bauch, da ich ganz und gar nicht weiß, welches Lied als nächstes kommen wird. Ich bin aufgeregt, wenn ein Song ausläuft, und achte auf die Sekundenbruchteile, ehe das folgende Lied angespielt wird. Dann lausche ich auf die ersten Beats, die ers­ten Töne der Melodie. Sobald mir klar wird, dass es ein Lied von Ed Sheeran ist, bin ich zwar enttäuscht. Bestimmt mag ich drei von vier Songs nicht, die im Radio kommen. Aber das ist es mir wert. Denn wenn dann doch ein tolles Lied läuft, fühlt es sich noch größer an als sonst: weil das Schicksal entschieden hat, dass ich es genau jetzt hören soll.

Und wenn wirklich bloß Mist kommt? Auch nicht schlimm. Dann setzt ein anderer Effekt des Radiohörens im Auto ein: das gemeinsame Schimpfen. Nichts schweißt eine Gruppe zuverlässiger zusammen. Für eine lange Reise ist das ein guter Anfang.