Am Morgen um vier in Paris, als sich neben meinem Hotelzimmer, auf der einzigen Toilette des Stockwerks, ein Unbekannter brüllend in die Schüssel erbrach, dachte ich an den Tripadvisor-User kirmi2017, als wäre er ein lieber Freund.
Hatte er mich nicht davor zu bewahren versucht, was ich durchmachte? »Kauft euch für das Geld lieber einen Schlafsack und schlaft auf der Straße«, hatte er vor meiner Abreise geraten. Aber ich wollte ja unbedingt wagemutig sein. Nun hatte sich mein Wagemut längst als Torheit entpuppt, und ich lag in einem nach Urin, Schimmel, Verzweiflung und verwesender Ratte stinkenden Zimmer. Oh, verzeih mir meine Torheit, dachte ich, lieber kirmi2017. Du hattest ja so recht, als du über dieses Hotel schriebst: »Nur zu empfehlen, falls man sadistisch veranlagt ist.« Aber das bin ich nicht, nein, ich würde mich nicht einmal als besonders leidensfähig bezeichnen. Warum nur war ich hier, im Haus der Schmerzen? Ich wäre, dachte ich, jetzt lieber auf Langeoog.
Wie im Fiebertraum erinnerte ich mich an ein Telefonat mit einem Redakteur dieses Magazins. Er hatte mir den Auftrag für eine Reportage über Tripadvisor erteilt. Wird man superglücklich, wenn man die Ratschläge befolgt, die einem Fremde erteilen? Was sind das für Orte, die dort am besten bewertet werden? Gefällt mir, was die Mehrheit für gut befindet?
Und wie um Himmels willen sehen die Orte aus, die am schlechtesten wegkommen? Warten dort die letzten Abenteuer der westlichen Welt? »Ich gehe dahin, wo es wehtut, hahaha!«, hatte ich zum Redakteur gesagt. »Wird lustig«, hatte er geantwortet. Gelacht hatte er nicht, das fiel mir erst jetzt auf.
Ich presste mir ein vergilbtes Kissen auf die Ohren und hörte trotzdem noch, wie der Unbekannte hinter der papierdünnen Wand jaulend Luft holte und sich noch einmal so dramatisch übergab wie ein Urtier, das seine Beute ausspeit. Dann wurde es still. Keine Spülung war zu hören, auch keine Tür. Am Fliegenfänger, der von der Decke baumelte, krepierte ein Weberknecht.
39 von 52 Besuchern, darunter auch kirmi2017, haben das »Hipotel Paris Bordeaux« bei Tripadvisor als ungenügend eingestuft, fünf als mangelhaft. Es liegt damit auf Platz 1770 von 1812 erfassten Hotels. Da die dahinter platzierten wesentlich weniger Bewertungen erhalten haben, ist es, wenn man so will, das letzte der Herzen. Dieser Pfuhl sollte der Abschluss meiner zweitägigen Reise sein, einer Suche nach dem vermeintlich Besten und Schlechtesten, was die Stadt zu bieten hat.
Tripadvisor hat den Tourismus verändert wie zuvor die Erfindung von Eisenbahn und Flugzeug. Es hat die Welt noch einmal kleiner werden lassen, sie ist nicht mehr nur schnell und bequem zu bereisen, man weiß jetzt sogar vorher, was man erleben wird. 435 Millionen Bewertungen und 32 Millionen Fotos dokumentieren es anschaulich. Eigentlich könnte man auch daheimbleiben und sich alles von Tripadvisor zeigen lassen wie einst von Onkel Wolfgang mit seinen Diavorträgen im Hobbykeller.
In den Internetforen von Tripadvisor, wo sich der Zorn der Reisenden entlädt, hatte ich mich immer gern herumgetrieben. Die Verrisse erheiterten mich schon deshalb, weil ich mich gerade nicht in jener Vorhölle befand, von der sie handelten. Ich war froh wie selten, zu Hause zu sein, und las sie als Fortsetzungsroman des gescheiterten Versuchs, für ein paar Tage aus der Beschissenheit des Alltags auszubrechen. Als Tragikomödie. Und als eine Form der Außenseiterliteratur, die es in ihrer schillernden Rohheit mit dem Werk des großen Städtebeleidigers Thomas Bernhard aufnehmen kann.
»Ich finde Paris abscheulich«, schrieb dieser in seinem Theaterstück Vor dem Ruhestand von 1979. »Für mich war Paris immer die hässlichste Stadt, die ich kenne, eine verstaubte Wüste … lieber sterben, als in Paris leben.« Vielleicht wäre Bernhard heute unter dem Pseudonym untergeher1931 als Poweruser auf Tripadvisor aktiv.
Nun gibt es zum Glück ja einen Mittelweg zwischen Leben und Sterben in einer Stadt: den Kurzurlaub. Was auch geschehen würde, übermorgen würde es vorbei sein.
Ich packte meinen kleinen Koffer, nahm einen Anzug für die besten und eine unauffällige Garnitur für die schlechtesten Orte mit, nicht zu chic, aber auch nicht zu verlottert, für den Fall, dass ich als unbekannter Toter in der Zeitung landen würde. Ich küsste meine Frau und meine Kinder. Kann sein, dass ich weinte. Dann brach ich auf
ins Ungewisse.
»Ein Albtraum. Überall Warteschlangen und Idioten, die sich selbst fotografieren. Vor der Mona Lisa gab es eine Prügelei«
Tripadvisor-User Danni M. über den Louvre
Sechs Stunden später lag ich auf dem weichsten Bett der Welt, trank eine Tasse englischen Tee und musste mich anstrengen, meine Familie zu vermissen. Ein Butler namens Antoine hatte mir diesen vorzüglichen Tee gebracht. Eine Narbe in der Form eines Blitzes zierte seine Stirn, sie war auch, als ich ein zweites Mal hinsah, noch da. Ich wünschte mir, irgendetwas so elegant zu beherrschen, wie Antoine das Tablett in mein Zimmer getragen hatte. Ich wollte das unbedingt erneut erleben und bestellte noch eine Tasse Tee. Und dann noch eine.
Ich befand mich im »Maison Souquet«, dem laut Tripadvisor besten und romantischsten Hotel von Paris. Rund 350 Euro pro Nacht. Hier wurde mir endlich der Service zuteil, den ich Zeit meines Lebens verdient zu haben glaube. Man sprach mich mit »Sir« an, ich kam mir vor wie der umschwärmte Erbe einer Dynastie. Die Handseife in meinem Badezimmer war von Hermès. Ich klaute drei Fläschchen für
zu Hause.
Um 1900 war das hier ein Freudenhaus für die Gutbetuchten, betrieben von Madame Souquet. Das verruchte Flair wurde bewahrt, ohne je aufdringlich zu wirken. Durch jeden Raum wehte ein Duft wie ein parfümiertes Taschentuch, das absichtsvoll fallen gelassen wurde. Doch ob es wirklich so romantisch ist, wie bei Tripadvisor behauptet, fiel mir schwer zu ermessen. Es ist beliebt bei Paaren, die ihre Flitterwochen hier verbringen. »Wir hatten ein traumhaftes Wochenende in diesem Hotel«, erlebten »Momente reinen Glücks«, schreibt der offenbar schwer verliebte User Sewagtab. Ich hingegen war allein angereist, vom Fotografen, einem stoppelbärtigen Schotten, einmal abgesehen. Mit der Zeit, ob im Fahrstuhl, in dem Cole Porter »I love Paris in the Springtime« aus dem Lautsprecher säuselte, oder auf der riesigen Chaiselongue, kam ich mir immer verlorener vor. Und Antoine ein viertes Mal Tee bringen zu lassen, erschien mir dann doch allzu verdächtig. Ohnehin beschlich mich das Gefühl, er hielte sich die ganze Zeit heimlich in meinem Zimmer auf, hatte sein Anzug doch die gleiche Farbe wie die Tapete. Nun fiel es mir wieder einigermaßen leicht, meine Familie zu vermissen.
Das »Maison Souquet« muss ein wunderbarer Ort für Paare sein. Alleinreisenden jedoch wird allzu schmerzlich bewusst, dass sie allein reisen. Ich gebe dem Haus die Note Sehr gut, mir selbst als Gast jedoch nur eine Drei minus.
In Paris stehen jede Menge Bauwerke – und damit auch viele Anlässe zum Meckern.
Im Musée d'Orsay ist es schwierig, die Maltechnik von Vincent van Gogh aus nächster Nähe zu bewerten.
Ähnlich verhielt es sich im Restaurant »Aspic«, dem bestbewerteten von Paris. Der User John S., der gern essen geht und zudem offenbar ein leidenschaftlicher Autofahrer ist, schwärmt: »Das Essen war sehr gut. Das Personal war gut. Wir genossen einen Parkplatz. Ein Muss!« Auch ich bin hier ausgezeichnet bewirtet worden, doch mein kulinarisches Vokabular reicht leider nicht aus für ein größeres Lob als: »Hat gut geschmeckt, danke.« Das, was man eben sagt, wenn man mit Omas Erbsensuppe großgezogen wurde und nicht darauf gefasst ist, jemals in einem Edelrestaurant zu landen. Für das Einstecktuch, das ich mir eigens für diesen Anlass besorgt hatte, wurde ich vom Fotografen gehänselt. Es sei »foppish«, beschied er mir. Das heißt wohl so viel wie: geckenhaft. Vielleicht hätte ich, wie John S., einfach in einem Luxusschlitten vorfahren und einen Parkplatz genießen sollen.
Der alerte Kellner, ein junger Mann namens Clément, der uns die neun Gänge mit Weinbegleitung für 105 Euro kredenzte, schien mehr zu erwarten als ein plumpes Lob. Er präsentierte uns die Teller, auf denen ein ums andere Mal Früchte, Blüten, Sorbets, Filets, Croûtons und Rogen drapiert waren, wie Kleinode, hielt dazu ein kunsthistori-sches Referat und trug die leeren Teller wieder ab, nach jedem Gang enttäuschter, dass wir Banausen schon wieder nur gemampft und uns nicht hatten inspirieren lassen zu einem Jahrhundertroman. Wie ein kleiner Junge, der Tricks aus seinem Zauberkasten vorführt und merkt, dass die Aufmerksamkeit seines Publikums schwindet, wirkte Clément am Ende beinahe traurig. Ich hätte ihn gern in den Arm genommen und ihm etwas Tröstendes gesagt. Aber immer noch fiel mir nicht mehr ein als: »Hat gut geschmeckt, danke.«
Auch dem »Aspic« gebe ich eine Eins und empfehle jedem, dort essen zu gehen, besser noch, sich inspirieren zu lassen, zu etwas ganz Großem. Jedoch in kunstsinnigerer Begleitung, als ich es war.
Auf dem Weg zurück ins Hotel, im Uber-Auto des Fahrers Jawal, der in der App als »sehr freundlich und kommunikativ« beschrieben wurde, sich uns gegenüber aber überaus schweigsam verhielt, was ich nicht persönlich zu nehmen versuchte, dachte ich darüber nach, ob ich ein Mensch bin, der sich im Mittelmaß am wohlsten fühlt. Nicht weil er das Mittelmäßige mit dem Ausgezeichneten verwechselt, sondern weil ihn alles, was darüber hinausgeht, überfordert, erschöpft, ja geradezu fertigmacht. Ich fragte mich, ob ich einen Algorithmus entwickeln sollte, der uns Mittelmäßigen das Mittelmäßige empfiehlt, damit wir endlich mal in Ruhe essen gehen können. Dann sagte Jawal, der zuvor so schweigsame Uber-Fahrer, als wir mit Tempo 100 durch einen Tunnel rasten: »Hier ist übrigens Lady Diana verunglückt.« Und ich verlor den Faden.
»Hoch und runter, und wieder hoch und wieder runter, rechts, links, links. Als hätte ein besoffener Maulwurf Löcher gegraben«
Tripadvisor-User bge_11 über die Pariser Métro
Nach einer Nacht im »Maison Souquet«, in der ich immer wieder aufwachte und mich zu meinem Entsetzen auf die Größe eines Zwerges geschrumpft wiederfand, bis mir wieder einfiel, dass das Bett dreimal so groß war wie andere, brachen wir zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt auf. Man sollte meinen, dass monumentale Bauwerke über jeden Zweifel erhaben sind. Dass sie einen kulturellen Rang innehaben, der sie profanen Geschmacksurteilen entzieht. Doch da hat zumindest der Eiffelturm (Rang 5 von 1284 »Aktivitäten« bei Tripadvisor) die Rechnung ohne die Userin Sarah F. gemacht. »Er war viel kleiner und nicht so schön wie erwartet«, moniert sie pampig. »Sieht aus wie eine verrostetes Baugerüst. Verdient auf keinen Fall den Ruf als Wahrzeichen.« Eine Alternative schlägt sie nicht vor, sondern sie vergibt nur gnadenlos die Note Ungenügend. Es bleibt nun abzuwarten, wie der Eiffelturm auf die Vorwürfe reagiert.
Ich möchte ihm zur Seite springen. Zwar warteten wir zweieinhalb Stunden lang in Schlangen vor schlecht gelaunten Rausschmeißertypen, bis wir endlich ganz nach oben gelangten. Doch von dort hatten wir einen Ausblick, der besser sein dürfte als von einem verrosteten Baugerüst. Ich fühlte mich klein, kleiner noch als des Nachts in meinem Riesenbett, nun aber war ich zudem ergriffen von der Schönheit der Stadt und ihrer schieren Größe.
Die Bereitschaft zu Demut ist offenbar nicht allen Tripadvisor-Usern zu eigen. »Na ja, ist halt eine Kirche«, schreibt Klaus M. über die Basilika Sacré-Cœur (Rang 13 von 1284 Aktivitäten auf Tripadvisor): »Kennste eine, kennste alle.« Warum er eigens nach Paris gereist ist, um sich das bestätigen zu lassen, und nicht gleich im heimischen Steinfurt blieb, verschweigt er geflissentlich. Ich stellte mir vor, wie Klaus M., von seiner Frau gefragt, ob er sie eigentlich noch attraktiv finde, konstatiert: »Bist halt ein Mensch. Kennste einen, kennste alle.«
Selbst das Musée d’Orsay (Rang 1 von 1284 Aktivitäten auf Tripadvisor), ehrwürdiger Ausstellungsort von Werken Vincent van Goghs und Auguste Rodins, stellt nicht alle Besucher zufrieden. Die Userin Superschnitte bellt nur: »Frechheit!« Marco F. wird präziser: »War dort und musste feststellen, dass viele andere die gleiche Idee hatten. Zu voll!« Nun spricht es nicht gegen das Museum, dass es so viele Besucher anzieht, Marco F. gibt ihm dennoch die Note Mangelhaft.
Könnte es sein, dachte ich, während ich ein kleines Mädchen beobachtete, das vor einer Skulptur Frédéric-Auguste Bartholdis zusammengebrochen war und sich nun heulend auf dem Boden wand, zu Füßen seiner auf ihre Handys starrenden Eltern, dass die Touristen von sich selbst die Schnauze voll haben? Dass sie, egal wohin sie reisen, immer nur eine Horde ihresgleichen antreffen? Und nun müssen sie kämpfen um den besten Platz, die beste Perspektive, die schönste Erinnerung. Und wäre es möglich, dass der Zwang, alles sofort zu bewerten und zu rezensieren, einfach sehr schlechte Laune macht?
Eine Bebilderung der These, dass »Hipotel« und »hippes Hotel« nicht zwingend dasselbe sind.
Unser Autor versucht im Edelrestaurant »Aspic« ein Cidre-Sorbet fachgerecht zu genießen.
Vor einem Selbstporträt van Goghs schossen Dutzende Besucher Selfies und schickten sie in die Welt hinaus, mit der Verhuschtheit von Eichhörnchen, die sich einen Vorrat anlegen. Wie viel länger, fragte ich mich, mag der Maler für sein Selbstbildnis gebraucht haben als sie? Wird es noch da sein, wenn alle Server der Welt zusammengebrochen sind? Und warum versperren mir diese Rummeltouristen die Sicht auf die Kunst?
Ich fühlte mich umzingelt von lauter Klaus M.s, Superschnitten und Sarah F.s. Ganz Paris schien zu verschwinden hinter einer Masse gottloser Pilger, die es, Foto für Foto, auseinandernehmen, um es bei Tripadvisor falsch wieder zusammenzusetzen. Erkennen die, fragte ich mich, die Stadt überhaupt noch, wie sie eigentlich ist? Oder gleichen sie sie nur mit ihren Erwartungen ab? »Sie sehen alle ein Paris, das es gar nicht gibt«, schrieb Thomas Bernhard einst. Nun suchen sie ein Paris, das es nicht geben kann, den Blick auf die Displays ihrer Telefone geheftet.
Ich konnte mich dieses Gefühls ja selbst nicht erwehren: dass ich nicht da war, wo ich eigentlich sein wollte. Ich war Teil einer Menschenansammlung in beliebiger Kulisse. Je länger ich mich durch die Halle des Musée d’Orsay schob, vorbei an den Arbeiten der großen Bildhauer, vor allem aber durch das Gedränge, desto mehr verloren
die Werke ihre Konturen. Und desto mehr kam ich mir vor wie in einem Baumarkt an einem Samstagvormittag in Paderborn in der Abteilung für Gartenskulpturen.
Mit einem Mal erschien mir die Aussicht, am Abend im »O’Djerba« essen zu gehen, geradezu verheißungsvoll, einem Kebabladen, wo die Menüs, den Fotos nach zu urteilen, die wutentbrannte Gäste hochgeladen haben, aussehen wie überfahrene Tiere auf einer Landstraße. Er nimmt Platz 13 632 auf der Rangliste Pariser Speisegaststätten ein, schlechter geht es kaum. Dort würde es bestimmt nicht »zu voll« sein, niemand würde »die gleiche Idee« haben.
»Das Gebäude ist wunderschön und gepflegt, allerdings überragt die Unfreundlichkeit des Personals jegliche Baukunst«
Tripadvisor-User Kathrin F. über den Arc de Triomphe
Das Haus, in dessen Erdgeschoss sich das »O’Djerba« befindet, steht inmitten eines eng bebauten Viertels als einziges frei, als wäre es ein Junge, neben dem in der Schule niemand sitzen möchte, weil er sich so selten wäscht. Der Fotograf und ich hatten nun seit geraumer Zeit kein Wort mehr gewechselt, ich spürte dennoch eine starke Solidarität zwischen uns, wir waren zwei Versprengte hinter feindlichen Linien. Das immer wiederkehrende Tripadvisor-Verdikt »Hygiene ungenügend« blinkte in meinem Kopf auf. Der User ghalloudirida001 schreibt unmissverständlich: »Hygienevorschriften gibt es hier so gut wie keine.« Mit zitternder Hand öffnete ich die Tür. Sie klebte.
Immer noch wortlos betrachteten wir die Karte, doch das Schweigen war nun bleiern geworden, ein Gestank von ranzigem Fett, Schweiß, Hundefutter und drohender Insolvenz verätzte unsere Nasen. Mit einem Grunzlaut forderte uns der Mann hinter dem Tresen zum Bestellen auf. »Magistral, s’il vous plaît«, hörte ich mich sagen. Der -Fotograf bestellte nur eine Cola. Es war der Moment, da unsere Solidarität zerbrach.
Der »Magistral« sei ein Sandwich mit Steak, Schinken, Käse und Ei, so wird behauptet. Vermutlich aber handelt es sich um eine überfahrene Taube, die zwischen zwei labberige Brothälften gequetscht wird. Tränen des Ekels stiegen mir in die Augen, als der Fraß vor mir auf dem Tisch stand. Aus einem Hinterzimmer kam ein weiterer Mann, er hielt einen Säbel in der Hand und stellte sich zu seinem Kollegen hinter den Tresen. Beide beobachteten mich wie übernächtigte Geiselnehmer. Um sie nicht zu verärgern, nahm ich einen Mäusebiss von einem Stück Pommes. Ich suchte nach einem Fluchtweg. Der Fotograf schlürfte seine Cola und lachte.
Als die Männer hinter dem Tresen zu rauchen begannen und ihre feindselige Wachsamkeit für einen Augenblick nachließ, warf ich das Geld auf den Tresen und rannte hinaus, die Straße hinunter, um die Ecke. Verfolgte mich jemand? Ich keuchte. Aus dem Dunkel sprach eine Stimme zu mir: »Let’s go to the ›Hipotel‹«, sagte der Fotograf. Jetzt lachte auch ich, aber hysterisch.
Das »Hipotel Paris Bordeaux«, so viel wird schon bei der Lektüre der Erfahrungsberichte auf Tripadvisor klar, gehört unzweifelhaft zu den miesesten Absteigen ganz Mitteleuropas. Ein wahnwitzig unwirtlicher Ort, der bei allen, die dort waren, Abscheu ausgelöst hat und Zorn darüber, dass sie für ihr Geld, immerhin fast 40 Euro pro Zimmer, nichts bekamen als, wie sie schreiben, »eine dreckstarrende Decke«, »zwei nicht mehr funktionstüchtige Kleiderbügel« und »einen hartnäckigen Hautausschlag«.
Der Uber-Fahrer Jawal nach der Durchquerung des »Lady-Di-Tunnels«.
Lasst Blumen sprechen. Denn sie wissen alles über das »Hipote Paris Bordeaux«.
Der Portier musste einen Anruf aus dem »O’Djerba« erhalten haben, anders konnte ich mir seine ansatzlos aggressive Unfreundlichkeit nicht erklären. Das hier war kein Hotel, sondern ein Polizeigefängnis in einem Unrechtsstaat, und wir waren die unschuldig Inhaftierten. Aus den Zellen im ersten Stock drang das tuberkulöse Husten eines Greises. Ich fühlte mich krank und gebrochen. Warum war ich hier? Um die Bettwanzen, die ich auf den Bildern gesehen hatte, persönlich kennenzulernen? »Wenn es Sie interessiert, wie es in der Hölle ist«, schreibt ein Tourist, »sind Sie hier genau richtig.«
Ich würde gern behaupten, dass es die journalistische Sorgfaltspflicht war, die mich die Nacht über im »Hipotel« hielt. Tatsächlich aber überfiel mich eine gespenstische Lähmung. Ich saß lange auf der Kante des verdreckten Betts und horchte nach den Geräuschen einer Razzia, die anscheinend im Stockwerk über mir im Gange war. Irgendwann muss ich zur Seite gekippt sein, wie ohnmächtig, doch immer wieder aufschreckend, weil ich meinte, jemand sei im Begriff, in mein Zimmer einzudringen, um mich zu verhören. Und dann, um vier Uhr am Morgen, begann der Unbekannte hinter der papierdünnen Wand, sich die Seele aus dem Leib zu kotzen.
Ich holte die Hermès-Seife hervor, die ich im »Maison Souquet« entwendet hatte, und schnüffelte daran. Ich dachte an den lieben kirmi2017 und seinen Rat, den ich missachtet hatte. Ich dachte an den Redakteur und sein ausbleibendes Lachen. An all die wunderbaren Urlaube, die ich als Kind auf Langeoog verbracht hatte, weil Onkel Wolfgang meinen Eltern gesagt hatte, dass es dort schön sei. Damals, in der alten Zeit, als es Tripadvisor noch nicht gab.
»Die Sonne scheit überall. Es gibt kein einziges schattiges Plätzchen. Ich habe mr einen Sonnenbrand geholt«
Tripadvsor-Use SYC über den Jardin du Luxembourg
Zwei Tage hatte ich damit verbracht, die Urteile Fremder daraufhin zu prüfen, ob sie meiner Wahrnehmung entsprechen. Das Gute ist ziemlich gut, das Schlechte ist schlecht, so lautet die banale Erkenntnis. Und doch hatte Tripadvisor mich ins Leere laufen lassen. Paris hatte ich kaum gesehen, meistens nur eine flirrende Spiegelung meiner Erwartungen. Die Stadt schien dahinter zu schlafen, als wartete sie darauf, dass ich wieder abreise.
Jetzt fiel mir ein Graffito ein, das ich vom Eiffelturm aus gesehen hatte. An einer Häuserwand stand in großen Lettern INTERNET geschrieben, wie ein Wasserzeichen für die Millionen von Fotos, an denen das echte Paris sich messen lassen muss, als wäre es keine Weltmetropole, sondern der Entwurf eines Architekten ohne Berufserfahrung.
Doch wie tritt es hervor, das echte Paris? Wie wird es sichtbar in seiner Pracht? Mein Rat: Man sollte in einem mittelmäßigen Hotel schlafen und in einem mittelmäßigen Lokal essen, in keinem sehr guten und in keinem sehr schlechten, damit die Sinne nicht betäubt werden. Dann sollte man aufbrechen ins Offene, ins Überraschende, aber keine Fotos machen und hinterher niemandem erzählen, was man gesehen hat. Es sollte ein Geheimnis sein, dieses Paris.
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version des Textes waren vier Tripadvisor-Bewertungen ungenau oder unrichtig wiedergegeben.