In dieser Art von Kurs gehören Männer mit Masken zum Unterrichtsmaterial.
Vier bekleidete Frauen und zwei nackte Männer in einem sonnendurchfluteten Raum irgendwo in Berlin. Eine der Frauen zeigt ihre Schätze: Latex-Fesselfäustlinge, Latexmasken (getaucht und geklebt), Latex-Ganzanzüge mit und ohne Schrittreißverschluss und Augenöffnungen. Der Clou: eine orangefarbene Kombi-Maske mit Gasmaskenfunktion, anknöpfbarer Augenbinde, Atemschläuchen mit Riechfilter und diversen Atembeuteln. »Holla, die Waldfee«, sagt die zweite Frau. »Das Ding hab ich im Netz gesehen, über 500 Euro«, sagt die Dritte. Die vierte Frau sagt nichts. Die vierte Frau bin ich.
Fast zwanzig Jahre habe ich meine Existenz von Schriftstellerei und Fernsehmoderation bestritten, jetzt kann ich davon kaum mehr die Miete bezahlen. Was also macht eine gelernte Bibliothekarin mit 48 Jahren, wenn sie viel Tagesfreizeit, keinen Chef und ausreichend Bewegung will?
»Werd doch Domina«, sagte ein Ex-Kollege, »du hast doch damals dieses Buch geschrieben.« Genau, in Ruf!Mich!An!, meinem ersten Roman, gab es ein Domina-Klischee (im Lederanzug Männer auspeitschen). Aber jenseits davon weiß ich nichts. Ich weiß nicht mal, ob der Beruf ins horizontale Gewerbe fällt. Andererseits: Prostituiert sich nicht auch ein Schauspieler, wenn er für Gage auf eine Bühne kackt? Ist nicht jeder Politiker, der sagt, was andere hören wollen, eine Nutte? Gibt nicht eine Prostituierte die Macht an den Freier ab, während die Domina Macht über ihn ergreift?
Wikipedia weiß, dass Domina ein Ortsteil der Gemeinde Krimov in Tschechien, eine rote Rebsorte und ein Begriff aus dem BDSM ist, das steht für Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism. Und dass die BDSM-Domina laut Prostitutionsgesetz als Prostituierte gilt, obwohl sie in der Regel keinen Geschlechtsverkehr mit ihren Kunden praktiziert. Was heißt in der Regel? Wo kann ich lernen, eine Domina zu sein? Das Internet wirft 379 000 Ergebnisse aus. München, Rendsburg, Stuttgart, Hamburg, Berlin. Und da heißt es immer, es gebe keine Ausbildungsplätze.
Einer der beiden nackten Männer hat eigene Fetischkleidung mitgebracht. Stolz zeigt er einen schwarzen Latexschlüpfer mit Penishülle und stöpselartigem »Innen-glied«, außerdem hat er ein Windelhöschen aus durchsichtigem Latex dabei. Auf meine Frage, warum er denn so was gern trage, antwortet er schlicht: »Ich mag Rüschen.« Der andere Mann trägt inzwischen einen schwarzen, eng anliegenden Latexanzug und führt seine maßgeschneiderte Ballonmaske vor. Sie kann nach dem Aufsetzen zu einem Hydrocephalus aufgeblasen werden. Er sieht jetzt aus wie Darth Vader.
»Genau hier«, sagt unsere Ausbilderin Esmeralda und pocht auf den Ballonkopf, »drückt die Gummimaske auf die Schläfen – das gibt nen Extra-Kick.« – »Und am Kopf ist es sowieso intensiver als am Körper«, sagt meine Mitschülerin, eine arbeitslose Kindergärtnerin, die als »Super Nanny« seit einem Jahr freiberuflich Männer verdrischt und nun die Weiterbildung macht. »Das gefällt dir, was?«, ruft ihre Mitschülerin dem Ballonmann ins Ohr. Sie ist Altenpflegerin und möchte sich als »Schwester Rabiata« mit Klinikschwerpunkt in Wuppertal niederlassen. Sie sagt: »Die alten Knacker, die geilen sich richtig am Katheterlegen auf. Warum soll ich es als Krankenschwester für 8,50 die Stunde machen, wenn ich als Domina dafür auch 250 kriegen kann?« Sie versucht immer noch, mit dem Gummimann zu reden. »Er kann dich nicht hören«, sagt Esmeralda. »Aber streichel ihn.«
Streicheln? Wir sind doch nicht im Streichelzoo. Das käme bei mir überhaupt nicht in die Tüte. Ich stelle mir mein Domina-Dasein ganz anders vor. Niemand weiß, wie ich zu erreichen bin. Eine Fama umgibt mich: Schwer zu finden, hochgeschlossen, unnahbar, eiskalt. Der potenzielle Gast würde nackt eintreten und 500 Euro in bar ablegen. Er würde mich siezen, ich ihn duzen. Er wäre bereits belehrt, dass er nur vier Sachen sagen darf: Ja, Herrin, nein, Herrin, bitte, Herrin, danke, Herrin. Ich würde ihn stumm und von allen Seiten betrachten, ihm peinigende Fragen stellen und mir
erst einmal in Ruhe überlegen, ob ich ihn überhaupt nehme. Das Geld wäre in jedem Fall mein.
Esmeralda führt jetzt verschiedene Knebel vor. Es gibt Stoff-, Ball-, Ring-, Penis- und Ballonknebel. Mir gefällt am besten der rote Ballknebel, den Bruce Willis in Pulp Fiction trägt. Esmeralda sagt: »Immer kommunizieren: So, jetzt schön Mund auf!« Der Proband macht den Mund auf. Esmeralda legt einen Knebel mit anmontiertem Gummidildo an. Der Dildo zeigt nach außen. Der Mann gleicht jetzt einem frühzeitlichen Schnabeltier. »Brav«, sagt Esmeralda und streichelt ihn. »Süß siehst du aus!« Zu uns gewandt: »Immer schön loben.«
Esmeralda erhebt nie die Stimme. Trotzdem machen alle, was sie sagt. »Vom Moment an, wo jemand das Domina-Studio betritt, ist er unter meiner Regie: Hier kommen die Klamotten hin, dort das Geld, da sind die Getränke, drüben die Dusche. Das vermittelt ihm: Erstens, hier muss ich nicht denken, zweitens, die hat hier das Sagen.« In Wirklichkeit zahlt der Mann dafür, sich von der Frau temporär schlecht behandeln zu lassen, fühlt sich aber weiter als Chef im Ring. Esmeralda ficht das nicht an. Sie geht ihrer Arbeit mit Freude nach. Sie hat, wie sie es formuliert, ihr Hobby zum Beruf gemacht. »So!«, ruft sie uns aufmunternd zu. »Ihr könnt jetzt alles ausprobieren und die Gummijungs dafür verwenden.«
Bevor ich einen der »Gummijungs verwende«, also in den Latex-Saunasack stecke, der auf dem Latexlaken des Bettes drapiert ist, möchte ich selbst ausprobieren, wie sich »Mumifizierung«, auch »Total Enclosure« genannt, anfühlt. Kreischend schließen Super Nanny und Schwester Rabiata den Drei-Wege-Reißverschluss über mir, stülpen mir eine Latexmaske auf den Kopf und schnallen mich mit vier Gurten fest. Ich fühle mich erst verwegen, nach zehn Sekunden ausgeliefert und nach einer Minute, die mir wie eine Stunde vorkommt, lebendig begraben. Ich wackele panisch in meinem Sack herum und bitte um Befreiung. Die Gummijungs kichern.
Vor zwei Monaten bin ich in eine Welt eingetaucht, in der Wörter wie »bizarr«, »kinky« und »pervers« ausschließlich anerkennend benutzt werden, in eine Welt, in der TV nicht Fernsehen heißt, sondern Transvestit, NS nicht Nationalsozialismus, sondern Natursekt, und SZ nicht Süddeutsche Zeitung, sondern Sklavenzentrale. Die zweimal drei Tage meiner Ausbildung (jeweils morgens Theorie und abends Praxis) kosten 1600 Euro. Zurzeit läuft der zweite Teil des Kurses. Zu behaupten, mein Umfeld hätte meine Umschulung mit Begeisterung aufgenommen, wäre schamlos übertrieben. Für eine im weitesten Sinne bürgerliche Frau kommt der Betrieb eines Domina-Studios nur als letzte Möglichkeit der Erwerbstätigkeit in Frage. Im Geschlechterkampf allerdings ziehe ich den Hammer dem Amboss vor, und als Schriftstellerin kann ich mich immer auf den Tatbestand der Recherche berufen.
Bei den zahlreichen Selbstversuchen meines Lebens (Wie lange halte ich es ohne Essen aus? Werde ich ohnmächtig, wenn ich einen Elektroschocker gegen mich selbst richte? Schmecken Maden unter Umständen genauso gut wie Shrimps? Steck ich mich an, wenn ich mir von einem Leprakranken Tee kochen lasse? etc.) war ich immer gleichzeitig Leiterin des Experiments und weiße Maus. Ich habe nicht viele Interessen und überhaupt keine Hobbys, aber ich bin mein Leben lang von immer derselben Frage getrieben: Was zum Teufel geht in anderen Menschen vor?
In den Sack, dem ich soeben entkommen bin, wird nun einer der Gummijungs gesteckt. Er wirkt, obwohl (oder weil?) er bereits Latexanzug, Latexhandschuhe, Latexfüßlinge und eine Latexmaske trägt, in der bizarren, anonymisierenden, entmenschten Verkleidung vollauf zufrieden. »Heavy Rubber« wird diese Herstellungsart für Zufriedenheit genannt. »Nacktheit kommt da einfach nicht ran«, sagt Esmeralda. »Ich persönlich mag es, wenn jemand was Schönes anhat, ein Halsband zum Beispiel. Oder Latex.«
Merke: Bei Ohnmacht innerhalb Atemkontrollspielen kräftige Ohrfeige!
Ich beuge mich über den Probanden, dem Schwester Rabiata auf Anweisung von Esmeralda soeben über die Latexmaske zusätzlich eine Gasmaske gezogen hat. »Wie geht es Ihnen?«, rufe ich. Er faucht und pfeift. »Woher weiß ich, dass es ihm gut geht?«, frage ich Esmeralda. »Immer Augenkontakt halten«, sagt sie und nähert sich den beschlagenen Augengläsern. »Hier kann dann auch beliebig Atemkontrolle gemacht werden.« Sie wartet, bis der Mann ausgeatmet hat, und legt die Hand über das Einatemloch. Aber er kann ja nicht rufen? Was, wenn er erstickt?
Merke: Bei Ohnmacht innerhalb Atemkontrollspielen kräftige Ohrfeige!
Im ersten Teil dieses Kurses habe ich bereits gelernt, dass es ein vereinbartes Codewort für Stopp gibt, das gerufen werden kann; und dass, wenn Rufen unmöglich ist, ein Gegenstand fallengelassen werden kann, sobald eine Belastungsgrenze erreicht ist. Ich habe gelernt, beim Peitschen die Schmerzen auf einer Skala von null bis zehn zu kalibrieren, ich kann Bondage-Knoten, die fest genug sind, ohne den Puls abzudrücken, ich weiß, dass ein mit einem Schnürsenkel straff abgebundenes Gemächt sich bläulich-violett verfärbt, ohne dass »das Ding gleich abfällt« (Esmeralda). Aber was, wenn der Mund verschlossen und die Arme fixiert sind?
»Der wackelt dann schon«, sagt Esmeralda, »nicht wahr?« Sie wirft dem Gummimann einen Blick zu, er nickt, sie zieht die Hand vom Atemloch. Gierig saugt er die Luft ein, da nimmt sie schon – auch sie im Latexanzug – auf seinem Gesicht Platz. »Man kann da sehr gut Facesitting machen«, erklärt sie. Der so Besessene grunzt. Erfreut oder abwehrend? »Das sind Erfahrungswerte. Es geht um die Psychologie der Spielführung«, sagt Esmeralda. Nicht immer folgt die Spielführung der Logik. Protestiert der Sklave, wird er bestraft. Bettelt er um Gnade, wird er bestraft. Fleht er die Herrin um mehr Strafe an, wird er zur Strafe nicht bestraft. Oder erst recht bestraft?
Was, wenn die Domina einen Blackout hat? »Dann leg dem Gast eine Augenbinde um, trink eine Tasse Kaffee und überleg dir, wie es weitergehen kann. Der langweilt sich nicht, das versprech ich dir.«
Merke: Die Domina sollte sich immer wieder mal eine Pause gönnen.
Esmeralda erhebt sich vom Gesicht des Gummimanns und zieht ihm die beiden Masken vom Kopf. Zum Vorschein kommt ein gerötetes Gesicht mit glänzenden Augen unter zerzausten Haaren. »Das hat dir gefallen, was?«, fragt Esmeralda. »Ja, Herrin!«, flüstert er.
»So, meine Damen!«, ruft die Herrin aufgeräumt, »Was machen wir als nächstes? Katheterlegen, Tackern oder Hodensackinfusion?« Mein Leben war alles andere als langweilig, aber vor Entscheidungen wie diese sah ich mich bisher nie gestellt. Seit ich den Domina-Kurs mache, träume ich schwer.
Auf der Straße, an Baustellen, im Supermarkt mustere ich Männer quer durch alle sozialen Schichten und versuche ihnen anzusehen, ob sie Buttplugs (Analstöpsel), Keuschheitsgürtel oder auf die Haut genähte Mantelknöpfe tragen. Ich frage mich, was ihr Fetisch ist, Kittelschürzen? Nylonstrümpfe? Träumen sie davon, zu bellen und aus einem Hundenapf zu fressen, würden sie gern ein Baby spielen, das von einer Amme gesäugt wird, lassen sie sich ab und zu von Kopf bis Fuß in Küchenfolie wickeln, tragen sie Spitzendessous unterm Anzug? Nach Feierabend klingen Sätze in mir nach: »Hoden außer Gefahr bringen!« – »Bitte, bitte, bitte kein Rotwein im Einlauf!« – »Ich weiß jetzt nicht, welchen von den Jungs man fisten kann, aber wir fragen die am besten gleich selber.« – »Die Eichel lass ich persönlich außen vor.« – »Bei Hämorrhoiden lehne ich Analspiele ab.«
In der Ausbildung habe ich gelernt, Katheter zu legen.
Merke: Harnröhre nicht unnötig dehnen!
Ich bin mit den Techniken der Darmreinigung vertraut gemacht worden.
Merke: Den Gast während des Einlaufs nicht fesseln. Sicherstellen, dass der Zugang zur Toilette frei ist!
Ich habe einen Vortrag über Natursekt-Spiele gehört und weiß, dass man dabei die Einrichtungsgegenstände abdecken muss, vor allem bei Hotel- und Hausbesuchen.
Merke: Klarsichtfolie eignet sich nur begrenzt zum Abdecken, Malerfolie klebt an den Füßen, Teichfolie stinkt.
Ich bin eingewiesen in den Gebrauch von Vibratoren, Dildos und Buttplugs.
Merke: Gebrauchte Vibro-Toys können in der gelben Tonne entsorgt werden.
Ich habe mit den Probanden mehrere Test-Vorgespräche geführt.
Merke: Vor der Session gesundheitliche Aspekte abchecken!
Ich bin ermutigt worden, mich nicht unter Wert zu verkaufen, sondern mindestens 250 Euro Honorar pro Session zu fordern.
Merke: Oberes Preissegment bedienen! Keine Taschengeld-Domina sein!
Ich kenne nun geheime Hausmittel aus dem Arzneischrank und Gewürzregal.
Merke: Zur Intensivierung von Hautkontakt kann Finalgon (extra), Franzbranntwein, Tigerbalsam oder Zimt verwendet werden.
Ich kann mit Hilfe von Bondage einen Mann fesseln und wie einen Räucherschinken verschnüren.
Merke: Beim Strangulieren nie einen Knoten machen!
Ich weiß nun, dass bis zu 500 Milliliter Kochsalzlösung in den Hodensack eines Probanden passen.
Merke: Hält der Gast seine Kochsalzflasche selbst hoch, kann er sich während der Hodensackinfusion frei im Raum bewegen.
Meine Hausaufgabe ist es jetzt, mir einen Domina-Namen zu überlegen. Schwierig. Lady Dada. Zu blöd. Maria Mafia, wie ein frühes Pseudonym von mir? Zu ungenau. Cruella wie Glenn Close in 101 Dalmatiner? Zu Comic-haft. Mia Dolorosa (von Mia Wallace aus Pulp Fiction und von Via Dolorosa)? Zu intellektuell. Die Vollstreckerin? Zu unpersönlich. Marketing, hatte Esmeralda im theoretischen Teil erklärt, und ich hatte wie ein Schulkind mitgeschrieben, sei alles, was man tue, um das Geschäft zu fördern. Der Domina-Name dürfe nicht zu exotisch sein, die Gäste hätten eine Hemmschwelle, ihn sich zu notieren oder im Computer zu speichern. Erst nach Wochen entscheide ich mich, was nach erfolgreichem Abschluss auf meinem Zertifikat stehen wird: »Die kalte Sophie« – die einzige weibliche Eisheilige.
Am nächsten Tag führt uns Esmeralda in die beunruhigende Technik des Faustficks ein. Der Proband, von ihr neckend »Klinikübungsobjekt« genannt, liegt auf dem Gyn-Stuhl, den Esmeralda günstig bei Ebay ersteigert hat. Sein Darm ist bereits gespült worden.
Merke: Alles, was ins Körperinnere geht, sollte eine angenehme Temperatur haben.
Wir Schülerinnen, Super Nanny, Schwester Rabiata und die kalte Sophie, stehen in blauen Einweg-Arztkitteln, die in der Kursgebühr inbegriffen sind, locker um den GynStuhl gruppiert. Esmeralda zieht ihren Ring vom Finger (»Schmuck bitte immer ablegen«), hält uns die oval geschnittenen Fingernägel sichtbar hin (»Lange Fingernägel können ein kritisches Thema sein«) und streift Gummihandschuhe über. »Bei Analspielen bitte viel Gleitcreme benutzen.« Sie öffnet die Flasche und gießt sich Glibber auf die rechte Hand, wobei etwas auf den Boden kleckert. »Seht ihr das? Achtet bitte auf Rutschgefahr durch verschüttetes Gleitgel!«, sagt Esmeralda. »Wichtig ist ein sicherer Stand, sonst rutscht ihr aus und es gibt schwere Verletzungen – auf beiden Seiten!«
Merke: Erste-Hilfe-Kurs auffrischen!
Dann legt sie die linke Hand locker auf das Knie des Probanden und führt mit proktologischer Akkuratesse einen Finger ein. Wenig später nimmt sie den zweiten dazu, dann den dritten, dann den vierten. Der Proband sagt kein Wort, atmet aber tief. Es ist, als würde er eine Wehe verhecheln. Die Prozedur strahlt einen gewissen Frieden aus und hat die Anmutung einer Kälbchengeburt. »Ich bin jetzt mit der ganzen Hand drin«, sagt Esmeralda, »aber hier geht es nicht weiter, da geht es ein bisschen um die Kurve. Hier komme ich mit den Fingern an die sogenannte Kohlrausch-Falte. Da müssen die Finger ein wenig gekrümmt sein – und dann tiefer!«
Merke: Für anatomische Studien den Pschyrembel zur Hand nehmen!
Der Proband reagiert jetzt stärker. »Seht ihr«, sagt Esmeralda, »schweres Atmen, Stöhnen und Lippenlecken sind Zeichen für Endorphinausschüttung. Möchte jemand versuchen?«
Ich sage, dass ich lieber ein Nadelkorsett versuchen will. Esmeralda teilt mir einen anderen Probanden zu. Er legt sich bäuchlings auf die Massageliege. Mit einem Filzstift setze ich links und rechts an seinem Rücken herunter jeweils sechs Punkte und schaue, dass ich dabei halbwegs symmetrisch bleibe. Dann suche ich mir aus Esmeraldas Kanülensortiment die zweitdünnste und längste heraus. Das Nadeln haben wir tags zuvor schon theoretisch und praktisch behandelt. Das Fach »Nadelarbeit«, das in meiner DDR-Schule Bestandteil des Lehrplans war, erhält die späte Chance, sich zu bewähren.
Ich desinfiziere die Stellen mit Alktupfern und sage »Das piekt jetzt mal ein bisschen!« – »Na, hoffentlich!«, antwortet er. Ich überwinde ein flaues Gefühl im Magen und setze die erste Nadel von schräg oben nach schräg innen. Es gibt beim Nadeln zwei Kicks: den Moment, in dem die Nadel ins Fleisch fährt, und den Moment, in dem sie wieder herauskommt. Der Vorgang erinnert mich an ein Praktikum im Beerdigungsinstitut, bei dem ich die Münder von Toten zunähen musste. Die haben keinen Mucks gesagt, aber dieser lebt noch, dieser feuert mich an. Ab und zu tritt ein winziges Tröpfchen Blut aus. Dann benutze ich einen Alktupfer, »das brennt so schön« (Proband).
Merke: Eine Domina sollte Blut sehen können.
Der Proband, der als Zivi erste Nadelerfahrungen gemacht hat, sagt ab und zu leise »Au«, zuckt aber nicht. Als alle zwölf Nadeln platziert sind, suche ich in Esmeraldas Materialkiste nach Schnürsenkeln, aber sie sind für meine Zwecke zu kurz. Ich knote einen roten und einen schwarzen Schnürsenkel zusammen und schnüre kreuzweise über die Nadeln ein Korsett. Es sieht verdammt gut aus.
Da ich so beherzt bin, fragt Esmeralda, ob ich auch mal den Tacker versuchen will. Einer der Probanden hat einen sterilen medizinischen Haut-Tacker und eine Zange zum Tacker-Entfernen mitgebracht, aber niemand traut sich. Die Sache interessiert mich. Mein Proband, der keine Tackererfahrung hat, ist vorerst skeptisch. Da ich mir weder ein Bild über den Schmerz noch über die Entfernung der Klammer aus der Haut machen kann, beschließe ich, den Tacker an mir selbst auszuprobieren. Ich bin jetzt etwas blass um die Nase, und alle stehen um mich herum. Ich setze den Tacker auf den Unterarm, und – PENG – die Klammer ist drin. Ein Mückenstich ist schlimmer. Jetzt erarbeite ich mir die Benutzung der Zange zum Tackerlösen. Sie knickt die Klammer so, dass sie wie eine Drei aussieht und sich ganz leicht aus der Haut löst. Mein Proband ist jetzt nicht mehr skeptisch und lässt sich die Enden seines Rückenkorsetts auf dem Gesäß festtackern. Alle wollen ein Foto machen. Wir sind Helden der Selbstüberwindung (ich) und des Körperschmucks (er). Das Nadelkorsett ist mein Meisterstück.
Merke: Apotheken nehmen volle Nadeleimer zurück und entsorgen sie fachgerecht.
Zwei Stunden später halte ich mein Zertifikat in der Hand. »Die kalte Sophie hat
an den Domina-Ausbildungstagen Teil eins und Teil zwei teilgenommen«, so steht es da, Esmeralda hat unterschrieben. Der Name der Ausbilderin sollte in der Szene einen guten Klang haben, das Zertifikat zeigt, dass hier keine Dilettantin am Werk ist.
Ich muss gestehen, es löst gewisse Allmachtsfantasien aus. Als ich nach Feierabend in der U-Bahn sitze, torkelt eine Horde besoffener Glatzköpfe ins Abteil. Auf Krawall gebürstet sieht sich ihr Anführer um. Alle Passagiere schauen weg, nur ich starre ihm angriffslustig ins Gesicht: Meister, leg dich nicht mit mir an, sonst
setz ich dir einen Dauerkatheter und ziehe ihn geblockt.
Illustration: Yann Kebbi