Erstaunlich, ja: ernüchternd, wie schnell wir nur wenige Tage nach der Fifa-WM 2006 wieder zur Tagesordnung übergegangen sind. Der Streit, wer die in der Hauptstadt aufgestellten »Land der Ideen«-Styroporskulpturen entsorgt; die leidige Frage, bei wem alles sich Jürgen Klinsmann vor seinem endgültigen Rückflug nach Los Angeles nicht verabschiedet hat; das Rätselraten, ob Johannes B. Kerner während einer Live-Übertragung aus dem Berliner Olympiastadion gesagt hat »Ich fliege Air Berlin« oder »Ich liebe sehr Berlin« – ist es das, was von der Fifa-WM 2006 in Deutschland bleiben wird? Mag sein, dass »die Nörgler und Skeptiker«, die Wolfgang Niersbach, Vizepräsident des WM-Organisationskomitees, »nach außen gedrängt« sehen wollte, die Diskurs-Hoheit zurückerobert haben. Mag sein, dass die Erwartungen an die WM als »nationaler Kraftakt« der »Verantwortungs-gemeinschaft Deutschland« (DFB-Präsident Theo Zwanziger) rhetorisch und emotional überzogen waren. Auch wenn die sportliche Ausbeute vergleichsweise mager war und der erwartete Wirtschaftsaufschwung ausblieb: Die WM hat das eine oder andere grundsätzlich verändert.
Mit einer Vehemenz, wie es sie seit Günter Netzers aktiven Zeiten nicht gegeben hatte, wurde die Debatte über die gesellschaftliche Funktion des Fußballs in den überregionalen Feuilletons geführt. Die FAZ, die ihre Leserschaft vor einigen Jahren mit dem Abdruck des kompletten menschlichen Genoms irritierte, räumte ihre Kulturseiten nun frei, um unkommentiert die offiziellen, formelartigen Spielberichte der Schiedsrichter zu drucken. Man konnte es im Sinne der Postmoderne als leicht verspäteten Beitrag zur Frage der »Unwirklichkeit von Tatsachen« lesen, die Aktion ging jedoch am Kern der Debatte vorbei: dem viel beschworenen »Ende der BWLer-Hegemonie« nach dem unglücklichen Achtelfinale. Das nach amerikanischen, der Betriebswirtschaftslehre entlehnten Motivationsprinzipien organisierte Team-Management der Herren Klinsmann, Bierhoff, Löw schien anfangs der Beweis, dass die »BWLer-Mentalität« den letzten freien Raum erobert hatte, nämlich den auf dem Platz – führte Jürgen Klinsmann in seinen Fernsehauftritten doch jeden gelungenen Spielzug unmittelbar auf die getreue Umsetzung seiner jüngsten Powerpoint-Präsentation zurück. Als Klinsmann nach dem Achtelfinale nicht die Defizite im Spielaufbau und Podolskis verschossenen Elfmeter erwähnte, sondern von »Problemen mit dem Beamer« sprach, war die Stimmung endgültig gekippt. Das Gerät habe »wohl nicht ausreichend an den konditionellen Grundlagen gearbeitet«, ätzte Harald Schmidt in Waldis WM Club. Klinsmanns Intimfeind, der DFB-Sportdirektor Matthias Sammer, mahnte mit Worten wie »brennender Rasen« und »Vernichtung des Gegners« die Rückkehr zum seligen Fußball der Fritz-Walter-Zeit an.
Von solchen Aufgeregtheiten abgesehen, verlief die WM jedoch in elegischer Gelassenheit, was nach all der Hysterie im Vorfeld wohl kaum jemand erwartet hatte. Die licht gefüllten Sitzreihen in den Stadien, die schlechten TV-Quoten, die leeren Bordelle, in denen eigens eingeschmuggelte Liebesdamen vergeblich auf den Ansturm testosteronstrotzender Schlachtenbummler warteten – bald nach den ersten Vorrundenspielen sackte dieses vermeintliche Fußballfest in sich zusammen wie ein Soufflé, das zu früh aus dem Ofen geholt wurde. Nichts versinnbildlicht den überraschend melancholischen Verlauf dieser WM besser als das Redeverbot, das sich Franz Beckenbauer auferlegte. Viel war spekuliert worden über den »Maulkorb«, den die Fifa ihm angeblich verpassen wollte. Doch der Kaiser bewies, dass ihn nur einer zum Schweigen bringen kann: er selbst. Seine stumme Präsenz während der WM, sein Verzicht auf öffentliche Auftritte, Reden und Interviews – all dies wirkte wie eine glorifizierte Langfassung jenes einsamen, erhabenen Ganges übers Spielfeld nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft 1990 in Italien, als er inmitten der jubelnden deutschen Spieler die Stille und die Einsamkeit suchte und fand.
Beckenbauers Schweigen erreichte einen dramaturgischen Höhepunkt, als er beim vorgezogenen Abschlussbankett des Deutschen Fußball-Bundes das Mikrofon kommentarlos Per Mertesacker überließ, dem Überraschungsspieler des Turniers. Und so manchem im Saal mag ein Schauer über den Rücken gelaufen sein, als Mertesacker an-hub zu sprechen und klar wurde, dass er als Referenz an Beckenbauer dessen berühmte Bankettrede von 1974 zitierte: »Wir waren eine lange Zeit beisammen und dabei hat sich viel ergeben. Man könnte Bücher darüber schreiben, Bücher …«
Teile der Medien wollten Beckenbauer wegen seiner paradox präsenten Abwesenheit eine »Stagnationsdepression« attestieren, jene Gemütskrankheit, die einen befällt, wenn man ein Ziel, auf das man lange hingearbeitet hat, erreicht und feststellt, dass man keine Pläne für danach hat. Dies sagt aber mehr über die Auswüchse der Psychologisierung unserer Gesellschaft aus als über Beckenbauers Seelenzustand. Auch in den verpatzten Auftritt von Bundespräsident und WM-Schirmherr Horst Köhler bei der Eröffnungsfeier ist viel hineininterpretiert worden: Versagensangst, Überforderung, Lampenfieber. Nachdem Fifa-Präsident Joseph Blatter protokollgemäß Köhler gebeten hatte, die WM zu eröffnen, hatte der Bundespräsident mit dem von der Fifa festgeschriebenen Satz zu antworten: »Ich eröffne die Fifa-Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland.« Ob Köhler sich bei diesem Satz drei- oder viermal versprach, ist umstritten. Die entsprechenden Audio- und Videofiles sind millionenfach im Internet heruntergeladen und per Mail verschickt worden. Fest steht, dass Köhlers Missgeschick einem Milliardenpublikum zeigte, »wie sympathisch unser Deutschland ist« (Wirtschaftsminister Michael Glos).
Fußball ist, um ein Wort von Oliver Kahn aufzugreifen, »ein sehr einfaches Spiel«. Am Ende des Tages zählen nicht die Pässe, die für die Galerie geschlagen wurden, sondern allein die Chancenverwertung. Die Fifa-WM 2006 war eine »einmalige Chance« für unser Land, eine Großchance – die Spielführer aus Politik und Wirtschaft wurden nicht müde, dies zu betonen. Alle, von den Sponsoren über den DFB bis hin zum Organisationskomitee, haben von der WM immer als »Plattform« gesprochen. Das Runde muss ins Eckige – aber kann das Runde eine Plattform sein? Und wenn die Fußball-Weltmeisterschaft eine Plattform war, dann: wofür?
Die Antwort wurde 32 Mal auf dem Platz gegeben: Der Fußball ist eine Plattform für den Fußball. Das »internationale Rampenlicht« (Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt), das »Spotlight auf unser Land« (Sportminister a. D. Otto Schily) – es war am Ende doch nur eine Funzel im Vergleich zum Flutlicht in den Stadien. Haben frühere Weltmeisterschaften unser Italien-Bild, unser Frankreich-Bild, unser Japan- und Korea-Bild verändert? Für die insgesamt 33 Milliarden Fernsehzuschauer in aller Welt war der Austragungsort wie immer ein Nebenaspekt, ein bestenfalls buntes Detail. Die Welt erwartete von uns »eine tausendprozentig perfekte Organisation«, wie Edmund Stoiber im Vorfeld formuliert hatte. Um sich ganz auf das Wesentliche konzentrieren zu können. Den Fußball. Das ist gelungen. Das Deutschland-Bild der Welt hätte sich nur geändert, wenn die WM im Chaos versunken wäre. Da die Organisation aber wie gefordert perfekt war, kann man in diesem Sinne sagen: Diese Chance haben wir vergeben.
Was also bleibt von der Fifa-WM 2006, außer der Erinnerung an Mertesackers heute schon legendäre Blutgrätsche gegen den englischen Stürmerstar Michael Owen? Die Einsicht, dass in König Fußballs Krone die ersten Zacken fehlen.