Geordnete Übergabe

Uli Hoeneß macht nach 30 Jahren Platz an der Spitze des FC Bayern. Zum Abschied hat er uns so nah an sich herangelassen wie noch niemanden zuvor: im Stadion, im Büro, in der Wurstfabrik, zu Hause.

Der Mittwoch vor Christi Himmelfahrt ist ein außergewöhnlich heißer Maitag. Heute will Jürgen Klinsmann, dreieinhalb Wochen zuvor als Trainer des FC Bayern München beurlaubt, in Stern TV zum ersten Mal öffentlich über seine Entlassung sprechen. Drei Tage später wird sich entscheiden, ob das Team im letzten Saisonspiel doch noch die Meisterschaft erringen kann oder sich, im schlimmsten Fall, nicht einmal für die Champions League qualifiziert. Und Uli Hoeneß, der Manager des FC Bayern, steht an diesem Abend auf einer Kanzel und spricht zu seiner Gemeinde. Die Veranstaltung »Der besondere Gast« in Kempten findet gewöhnlich im Pfarrheim neben der Basilika St. Lorenz statt. Dieses Mal jedoch ist das Gespräch, moderiert vom Pfarrer der Gemeinde und dem langjährigen CSU-Vorsitzenden Theo Waigel, in die mächtige Basilika selbst verlegt worden. Am späten Nachmittag trifft Uli Hoeneß mit seinem Fahrer am Pfarrheim ein, in einem Audi, der, wie alle Dienstwagen des FC Bayern im Jahr nach einer Meisterschaft, die Initialen »DM« für »Deutscher Meister« im Kennzeichen trägt. Entspannt, aber mit hochrotem, fast violettem Kopf steigt er aus dem Auto. Es bestätigt sich, was seine Ehefrau später erklären wird: dass die oft alarmierende Gesichtsfarbe ihres Mannes nichts über seinen Gemütszustand aussagt, sondern mit extremer Hitzeempfindlichkeit zu tun hat.

Auf der Kanzel der Basilika steht Uli Hoeneß später zwischen Waigel und dem Pfarrer, ein Mikrofon in der Hand, und redet über seinen Lebensweg als Spieler und Manager. Unten in den überfüllten Kirchenbänken sitzen vier-, fünfhundert Leute. Auf die Frage nach seinem Glauben geht er kaum ein, sagt nur einmal, das christliche Prinzip der Nächstenliebe habe sein Handeln geprägt – und dennoch haftet der Veranstaltung mehr und mehr etwas Religiöses an: Wenn Uli Hoeneß, wie es seine Art ist, im Lauf der Rede auf einmal die Stimme erhebt und von einem Fußballthema ins Allgemeingesellschaftliche wechselt, dann wirkt er in dieser Umgebung tatsächlich wie ein Prediger. Am Ende gibt es sogar eine Art Kommunion: Die Menschen strömen aus den Bänken heraus, reihen sich vor der Kanzel ein, um eine Gabe entgegenzunehmen, allerdings keine Hostien, sondern die von Hoeneß mitgebrachten Autogrammkarten.

Bei der Diskussion zuvor hat sich Uli Hoeneß noch über den ARD-Brennpunkt am Tag nach Klinsmanns Beurlaubung ausgelassen. »Der Witz des Jahres« sei es gewesen, eine Meldung aus der Welt des Fußballs zum Gegenstand einer solchen Sondersendung zu machen. Doch nun bestätigt sein eigener Auftritt in der Kirche genau diesen Stellenwert: Die Menschentraube um Hoeneß löst sich lange Zeit nicht auf; jeder, vom sechsjährigen Jungen bis zum Greis in Tracht, will etwas von ihm wissen, will die einmalige Gelegenheit nutzen, ihm persönlich eine Frage zum FC Bayern zu stellen »Der Oddo geht schon wieder nach Mailand, oder?« – »Ja, klar.« – »Hätte man nicht vorher wissen müssen, dass das mit Klinsmann nichts wird?« – »Vielleicht. Aber wir sind keine Hellseher.

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«Fußball ist das Gemeinschaftsstiftende schlechthin; alle haben etwas zu dem Thema zu sagen, haben eine Meinung, eine Idee, eine Variante für die Mannschaftsaufstellung am Samstag. Die Politik, das zeigt sich in der halben Stunde deutlich, kann mit dieser Anziehungskraft nicht mithalten. Denn während Uli Hoeneß mit unerschöpflicher Geduld Autogrammkarten verteilt, steht Theo Waigel, immerhin knapp zehn Jahre lang Bundesfinanzminister, völlig unbehelligt auf der Kanzel. Nur manchmal wendet sich ein Besucher, nachdem er die Hoeneß-Signatur ergattert hat, noch an ihn und fragt, ob er am Rand der Karte auch unterschreiben könne.

Der Abend in Kempten gehört zu den ersten Stationen eines Vorhabens, dem Uli Hoeneß nach längerer Skepsis zugestimmt hat – der Idee, ihn im letzten Jahr als Manager beim FC Bayern zu begleiten, bis zu seiner Kandidatur als Präsident auf der Jahreshauptversammlung am 27. November. Es ist der Versuch, einem Menschen näherzukommen, dessen öffentliche Wirkung sich auf bemerkenswerte Weise zwischen zwei Polen bewegt: zwischen Kalkül und Leidenschaft, zwischen konsequentem Leistungsdenken und einem ungewöhnlichen Maß an sozialem Gewissen. Wer ist Uli Hoeneß wirklich? Nach welchen Grundsätzen hat er den Verein organisiert, und was wird sich beim FC Bayern alles ändern, wenn er aus der ständigen Führung des Clubs ausscheidet? Hoeneß wird auf diese Fragen bei verschiedenen Gelegenheiten Auskunft geben, auf der Fahrt zu Vorträgen, im Trainingslager und in seiner Nürnberger Wurstfabrik, aber auch in regelmäßigen Interviews. In seinem letzten Jahr als Manager möchte er eine Bilanz seiner Zeit beim FC Bayern ziehen – in einem Jahr, das so turbulent und schwierig wird wie nur wenige in seiner dreißigjährigen Amtszeit: von der Entlassung Jürgen Klinsmanns im April bis zu der großen Krise um Louis van Gaal, Philipp Lahm und die grundsätzliche Vereinspolitik des FC Bayern in den Tagen vor der Jahreshauptversammlung.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ein Manager "unplugged" - wie Hoeneß ohne Computer arbeitet und am Telefon Real Madrids Präsidenten zum Schweigen bringt.

"Ich schau das Internet gar nicht an": Ein Topmanager ohne Computer und SMS
Der erste Eindruck, der von Uli Hoeneß im persönlichen Gespräch ausgeht, ist eine überraschende Ruhe. In Hunderten von Interviews hat sich über die Jahrzehnte das Bild eines angespannten, nervösen, jederzeit zur Explosion bereiten Großmanagers verfestigt, jener Ruf einer »Abteilung Attacke«, wie sein Spitzname seit den Auseinandersetzungen mit Werder Bremen Mitte der Achtziger lautet. Wenn man ihm in seinem Eckbüro auf dem Trainingsgelände des FC Bayern gegenübersitzt, in einem der beiden großen Sofas, löst sich dieses Bild innerhalb kurzer Zeit auf. Denn Uli Hoeneß, fülliger als im Fernsehen, wirkt abseits der Kameras zurückgenommen, beinahe sanft, und eines der Gesprächsthemen bei diesem ersten Treffen im März schließt sich auch an sein Bekenntnis an, die impulsiven Ausbrüche in der Öffentlichkeit meistens mit sorgsamer Vorbereitung zu planen. Einige Wochen später wird er eine Kostprobe dieser Kunst geben: Er ist Gast der DSF-Sendung Doppelpass am Sonntagmorgen, der Klinsmann-Auftritt bei Stern TV und der Obama-Vergleich Günther Jauchs sind noch in bester Erinnerung, und Hoeneß’ Gegenrede gipfelt in dem Satz: »Wenn Klinsmann Obama ist, dann bin ich Mutter Teresa.« In der Berichterstattung wird dieser Spruch wochenlang als neuestes Beispiel für Hoeneß’ Eigenschaft gewertet, sich ankündigungslos in Rage zu reden. Er selbst erzählt kurz nach der Sendung in seinem Büro: »Das war keine spontane Eingebung. Ich habe auch einige Leute vorher gefragt, ob ich das bringen kann. Die meisten waren der Meinung, ja, und da habe ich mir gesagt: Ich lass mich einfach mal treiben und schau, wie die Diskussion läuft.«

Wenn Uli Hoeneß ins Reden kommt, nimmt er beim Erzählen oft wechselnde Rollen ein, versucht die Stimmen der Menschen, über die er spricht, nachzuahmen. Die Debatte um Real Madrids Interesse an Franck Ribéry keimt gerade auf, und Hoeneß erzählt von einem Telefonat mit dem Clubpräsidenten Florentino Pérez, des Englischen kaum mächtig, und dessen Assistenten, der immer wieder als Dolmetscher einspringen muss. Hoeneß imitiert den vor Kurzem ins Amt zurückgekehrten Pérez mit sichtlichem Vergnügen: »Uli, we’re all back in business again«, ruft er durch den Raum, mit langgezogenem spanischem Akzent, und schiebt, jetzt wieder als er selbst, seine Antwort an den Assistenten hinterher: »Pedro, do you have a pen and a piece of paper? Okay, then write down a one and eight zeros!« Und er erzählt genüsslich von der Pause, die am Telefon eingetreten sei, als Pedro die festgelegte Transfersumme von hundert Millionen Euro vor sich gesehen habe. Im Lauf der nächsten Monate wird Hoeneß’ Parodierlust immer wieder aufblitzen.

Die Atmosphäre in der Bayern-Geschäftsstelle entspricht nicht unbedingt der kühlen, aufgeräumten Arbeitswelt, die man von einem Topmanager erwartet. Uli Hoeneß’ Büro wirkt eher wie ein im oberbayerischen Landhausstil gehaltenes Wohnzimmer, mit viel hellem Holz, Sisal-Teppichen, Korbmöbeln und einer rustikalen Schrankwand über die ganze Längsseite des Zimmers hinweg. Auf seinem großen Holzschreibtisch, das fällt sofort auf, fehlt der Computer, und auf dem Couchtisch liegt kein iPhone oder Blackberry, sondern nur ein graues Sony-Ericsson-Handy, das aussieht, als stamme es aus den Neunzigerjahren. SMS, sagt er, schreibe er damit aber nicht; er wisse gar nicht, wie das geht.

Wenn man bedenkt, wie angesehen Uli Hoeneß’ Arbeit in Wirtschafts- und Unternehmerkreisen ist – 1999 wurde er etwa zum »Manager des Jahres« gewählt –, dann hat diese Distanz gegenüber neuen Kommunikationstechnologien etwas Überraschendes. Denn sein Arbeitsstil bildet fast einen Gegenpol zu der ausgestellten Betriebsamkeit der meisten Manager-Existenzen. Abgesehen von der Freisprechanlage im Auto, die er, wenn er auf längeren Strecken selber fährt, massiv in Anspruch nimmt, fehlen im Arbeitsalltag von Uli Hoeneß praktisch alle professionellen Insignien des Berufsstandes.

Diesen Eindruck bestätigt auch seine für einen Topmanager so ungewöhnliche Sprache, die zwar nicht hemdsärmlig oder volkstümlich ist, aber jede Spur von Unternehmerjargon vermeidet. Wie sehr sich diese Redeweise von seiner Umgebung abhebt, wird immer dann klar, wenn man Hoeneß mit anderen Managern oder Wirtschaftsleuten erlebt, etwa an der Seite seines Vorstandskol-legen Karl-Heinz Rummenigge, dessen vor-
gestanzten Wendungen der Rhetorik-Coach immer noch so deutlich anzumerken ist.

Im März ist Uli Hoeneß innerhalb weniger Tage zu zwei Abendveranstaltungen als Redner eingeladen. Für seinen Heimatverein SSV Ulm stellt er sich als Köder zur Verfügung, um mit seiner Anwesenheit möglichst viele lokale Firmenchefs zu einem Sponsorenabend zu locken. Und in der Nähe von Rosenheim besucht er den »Kaminabend« der sogenannten Bayerischen Elite-Akademie, eine privatwirtschaftliche Initiative, die Seminare für ausgesuchte bayerische Studenten veranstaltet. Gerade in diesen Milieus, vor der ambitionierten Vorstandsriege eines Drittliga-Vereins oder der selbst ernannten Kaderschmiede für Führungskräfte, wird das besondere Auftreten von Uli Hoeneß anschaulich: Die Vorredner in Ulm haben zu viel Bierhoff und Klinsmann gehört, reihen Allgemeinplätze über Motivation und team building aneinander; die Elitestudenten wiederum, alle mit einer kleinen Anstecknadel mit dem Akademie-Emblem am Revers, übertreffen sich in einer notdürftig angelernten Beflissenheit des Ausdrucks.

Hoeneß’ Reden dagegen, die er stets ohne Manuskript hält, sind frei von jeder Floskel und bemühten Seriosität. In der Sprache zeigt sich bereits, was auch für sein Handeln gilt: Inmitten der Zaghaften und Angepassten, der Bürokraten und auf Sicherheit Bedachten verkörpert er eine seltene Unerschrockenheit und Souveränität, eine manchmal fast cowboyhafte Handlungskraft. Er weiß um diese Eigenschaft genau, nennt sie stolz »meine ganz große Stärke und den Grund für meine Popularität«. Deshalb empfindet er auch die Frage, ob er jemals einen Berater oder Assistenten gehabt habe, als persönliche Beleidigung: »Da erschieß ich mich lieber! Entweder ich mache etwas selbst oder gar nicht.« Ende Mai ist Hoeneß zu Gast bei Maybrit Illner und er erzählt von einem Telefonat, das der Redaktionsleiter kurz vor der Sendung mit ihm geführt habe: »Er fragte, ob wir uns im Vorfeld eine halbe Stunde zusammensetzen könnten, um den Verlauf abzusprechen. Da hab ich gesagt: ›Interessiert mich überhaupt nicht! Wenn’s los geht, geht’s los!‹ Da war er ganz verdattert, das sind die nicht gewöhnt.«

Es gehört zu den bemerkenswertesten Momenten in Gegenwart von Hoeneß, wenn er im Gespräch oder in einer Runde plötzlich das Heft in die Hand nimmt und auf der Stelle Tatsachen schaffen will. Nach der Veranstaltung in Kempten etwa, auf dem Weg von der Basilika ins Pfarrheim, wo die Haushälterin eine Brotzeit vorbereitet hat, werden Hoeneß und Waigel von einem Vertreter der Allgäuer Milchbauern angesprochen. Der Streit um den Milchpreis ist gerade in vollem Gange.
Da der FC Bayern in der Woche darauf ein Freundschaftsspiel in Kaufbeuren bestreiten wird, fragt der Lokalpolitiker etwas schüchtern an, ob die Bayern-Mannschaft in diesem Spiel nicht mit einem Solidaritäts-Trikot auflaufen könne. Hoeneß reagiert zuerst interessiert, aber schon nach wenigen Sekunden verschärft sich sein Ton: »Ach, wissen Sie, diese ganzen Symbole, Trikots, Solidarität, das ist doch alles Käse. Das hat jeder nach fünf Minuten wieder vergessen. Wir machen etwas anderes.« Er richtet sich an Theo Waigel: »Wir müssen eine vernünftige Runde zusammenstellen, aus Politikern und Geschäftsleuten, ich kenne die Geschäftsführer von Aldi und Lidl schon seit Langem, das sind ganz vernünftige Männer.« Und er lässt sich von Waigel eine kurze Einführung in die Milchpreis-Politik geben, bittet ihn, Seehofer und Merkel ein solches Treffen vorzuschlagen.

Die ganze Szene dauert höchstens drei Minuten, doch am Ende steht der Beschluss, dass der Allgäuer Vertreter am nächsten Tag ein Fax mit einem kurzen Abriss der Lage an Hoeneß schicken und Waigel die Zusammenstellung der Runde in Angriff nehmen soll. Auch wenn dieses Fax dann niemals in der Bayern-Geschäftsstellle auftaucht und sich die Idee verläuft – die kurze Debatte vor dem Holzgatter zum Pfarrhaus zeigt Hoeneß’ Temperament sehr genau: Im Handumdrehen verwandelt er eine zögerliche Anfrage in ein konkretes politisches Vorhaben auf höchster Ebene.

Dreißig Jahre lang hat der FC Bayern von der Handlungs- und Überzeugungskraft seines Managers profitiert. Wenn Uli Hoeneß jetzt für den Posten des Präsidenten und Aufsichtsratsvorsitzenden kandidieren wird, ändert sich die Organisationsweise des Vereins auf fundamentale Weise. Die Frage nach seinen beiden Nachfolgern, der eine für die sportlichen, der andere für die wirtschaftlichen Aufgaben, ist in diesem Frühjahr ein beherrschendes Thema. Für Christian Nerlinger, der im Mai etwas überraschend als neuer Sportdirektor vorgestellt wird, hatte sich Hoeneß schon länger entschieden: »Es waren natürlich auch bekanntere Namen in der engeren Auswahl, Klaus Allofs zum Beispiel. Aber mir war klar, dass wir diesen Posten aus unseren eigenen Reihen besetzen müssen. Die Leute wollen in diesen Schlüsselpositionen ein Eigengewächs haben.« Über seinen 36-jährigen Nachfolger, der schließlich den Vorzug vor Kandidaten wie Mehmet Scholl, Jens Jeremies oder Oliver Kahn bekam, sagt Uli Hoeneß: »Er hat mir gefallen, er erinnert mich ein bisschen an mich in dem Alter.«

Christian Nerlinger wird, wie Hoeneß im Frühling erzählt, schon ab dem 1. Juli schrittweise eingearbeitet. Ab der kommenden Saison will Hoeneß auch, wie er es eigentlich schon im Sommer 2008 vorgehabt hatte, bevor Klinsmann ihn umstimmte, die Spiele von der Tribüne aus verfolgen. Für die Leitung des Marketings und die Zusammenarbeit mit den Sponsoren wird eine eigene Stelle geschaffen, die aber erst im Lauf des Jahres 2010 besetzt werden soll. Über seinen Rücktritt als Manager sagt Uli Hoeneß: »Ich habe viele Bekannte, die mittelständische Unternehmen leiten und es versäumt haben, rechtzeitig ihre Nachfolge zu regeln. Das hat oft im Chaos geendet, sogar im Niedergang des Betriebs. Ich habe mir immer geschworen, das in meinem Umfeld anders zu machen.«

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum an Hoeneß ein Vollblut-Gewerkschafter verloren gegangen ist, wie er seine heutige Frau kennenlernte, und wie ihn schwere Verletzungen in die Fußballer-Frührente zwangen.


"Ich war ein Tier damals": Vom Ziel, Fußballprofi zu werden
Uli Hoeneß wurde am 5. Januar 1952 in Ulm geboren, im Ortsteil Eselsberg, einem einfachen Viertel oberhalb der Stadt, in dem sich nach dem Krieg auch viele Flüchtlinge niederließen. Das schmucklose, zweistöckige Haus, in dem das Geschäft und die Wohnung der Familie untergebracht waren, sieht bis heute unverändert aus; aus der Metzgerei, die Hoeneß’ Eltern bis zur Demenz-Erkrankung seiner Mutter Paula Anfang der Achtzigerjahre betrieben, ist seit Langem ein Getränkehandel geworden. Keine Spur an dem frei stehenden Gebäude in der Mitte einer ruhigen Straßenkreuzung, mit einem kleinen Stück Rasen davor, auf dem die Brüder Uli und Dieter ihre ersten Fußballspiele austrugen, weist auf die prominenten Vorbesitzer hin. Nur in einem Fenster des Geschäfts hängen ein paar verblichene Seiten eines Fußballmagazins, mit Bildern und Statistiken von der Europameisterschaft 1972.

Das Leben von Uli Hoeneß hat sich sehr früh auf den Profifußball fokussiert. »Ich war kein herausragender Spieler in meiner Jugend«, sagt er, »auch von der Schnelligkeit her, später ja meine größte Stärke, war ich eher hintendran. Aber mit 13 habe ich dann meinem Vater gesagt, er soll mich jeden Tag um halb sechs aufwecken, und dann bin ich vor der Schule noch laufen gegangen.« Er schließt sich sogar einem Ulmer Leichtathletikverein an, um regelmäßiges Sprinttraining zu absolvieren: »Ich wollte unbedingt Profi werden«, sagt er, »ich war ein Tier damals.« Auch wenn man seine Weggefährten aus dieser Zeit fragt, welche Eigenschaften des jungen Uli Hoeneß ihnen am stärksten im Gedächtnis geblieben sind, fällt ihnen sofort seine immense Zielstrebigkeit ein. Gustav Malejko, sein engster Freund in der Jugendmannschaft des SSV Ulm und heute im Aufsichtsrat des Vereins, erinnert sich an die prophetische Bemerkung, als sich der 15-jährige Hoeneß nach einem wichtigen Sieg von den feiernden Mitspielern abwendete und zu Malejko sagte: »Schau, die gehen jetzt Bier trinken und wir spielen eines Tages bei Bayern München.« Und sein Bruder Dieter, ein Jahr jünger und als Jugendlicher eher mit Mädchen oder in der Basketballhalle unterwegs, sagt: »Für Uli war mit 14 klar, dass er Fußballer wird.«

Ebenso früh wie großer sportlicher Ehrgeiz entwickelt sich aber auch ein Sinn für wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge. Sein langjähriger Trainer Udo Lattek, zunächst bei der Jugendnationalmannschaft und ab Sommer 1970 beim FC Bayern, erzählt, wie die Mannschaft beim Aufbruch zu einem Juniorenländerspiel einmal eine Viertelstunde lang auf ihren Kapitän warten musste: »Der Junge war im ganzen Hotel nicht aufzutreiben. Irgendwann habe ich ihn dann in der Personalküche entdeckt: Der halbwüchsige Hoeneß war umringt von Angestellten und erklärte ihnen, dass sie unterbezahlt seien und ein höheres Gehalt aushandeln müssten.« Ökonomische Interessen sind auch der Anlass für die erste Begegnung mit seiner späteren Ehefrau. Susanne Martin, wie sie damals noch heißt, besucht eine Realschule ganz in der Nähe des Schubart-Gymnasiums, in dem Hoeneß Schulsprecher und Schatzmeister der Schülerzeitung ist. »Die Zeitung war immer in finanziellen Nöten«, sagt er. »Ich bin in Ulm von Firma zu Firma gegangen und habe die Anzeigen reingeholt.« Irgendwann kommt ihm eine Idee: Die Realschule nebenan hat keine eigene Schülerzeitung, und Hoeneß beschließt, einen Lokalteil für die Ereignisse an dieser Schule zu gründen, damit auch dort die Zeitung gekauft wird. Der Rektor, bei dem Hoeneß vorspricht, verweist ihn auf die Schülersprecherin – Susanne. »Wir haben uns das erste Mal getroffen am 27. Dezember 1967, im ›Café Ströbele‹ – und da hat es gleich ›zack‹ gemacht.«

Mit 18 geht Uli Hoeneß zum FC Bayern, gleichzeitig mit einer anderen Entdeckung Latteks, Paul Breitner aus Freilassing, der seit Mitte der Sechzigerjahre alle Schüler- und Jugendnationalmannschaften mit Hoeneß durchlaufen hat, beide stets als die mit Abstand Jüngsten. In München-Trudering leben die zwei dann von 1970 bis 1973 in einer Drei-Zimmer-WG, bis zur Hochzeit von Uli und Susi am Tegernsee.

Wenn man sich die Profi-Laufbahn von Uli Hoeneß heute noch einmal vergegenwärtigt, fällt sofort ins Auge, wie kurz die verletzungsfreie Phase seiner Karriere tatsächlich gewesen ist. Im Herbst 1970 debütiert er in der Bundesliga, Anfang 72 in der Nationalelf (der »Jahrhundertsieg« in Wembley ist sein zweites Länderspiel); in rascher Folge erlebt er die Höhepunkte seines Fußballerlebens, Europameister 72, Weltmeister 74, Europacup-Sieger mit dem FC Bayern, ebenfalls 74, im Wiederholungsspiel gegen Atletico Madrid – »mein glücklichster Augenblick als Sportler«, wie er sagt. Im Europacup-Finale 1975 dann, gegen Leeds United, verletzt sich Uli Hoeneß zum ersten Mal am rechten Knie. Die Ärzte stellen eine falsche Diagnose, er wird nicht operiert und soll sich über die Sommerpause auskurieren; im ersten Training der neuen Saison knickt er aber erneut um, der Außenmeniskus wird in einer damals noch aufwendigen Operation entnommen, wenig später beginnt der Innenmeniskus Beschwerden zu machen. In der Zeit vom Sommer 75 bis zu seinem Rücktritt als Spieler 1979 ist Hoeneß nie mehr richtig gesund und kann kaum trainieren; während der Saison wird sein Knie an jedem Donnerstag punktiert, damit er am Samstag ohne Schmerzen spielen kann.

Seine eigentliche Laufbahn dauert also kaum fünf Jahre – und diese Wunde, diese tiefe Enttäuschung muss man immer in Erinnerung behalten, wenn von der ungewöhnlichen Leidenschaft und Impulsivität des
Managers Uli Hoeneß die Rede ist. Denn die Quelle seiner Leidenschaft – der ständigen Nähe zur Mannschaft, der dreißig Jahre währenden Freudentänze und Depressionen auf der Trainerbank – ist vermutlich genau in dieser Verwundung zu suchen: dass sein Begehren als aktiver Fußballspieler nie gestillt wurde; dass das 13-jährige selbst ernannte »Tier«, das die ersten Schulstunden jahrelang im Halbschlaf verdämmerte, weil bereits zwei Stunden Waldlauf hinter ihm lagen, den ganzen Aufwand für nichts als fünf mickrige Jahre betrieben hat. »Wenn mir in der Anfangszeit als Manager ein Arzt bestätigt hätte: Dein Knie hält noch zwei, drei Jahre«, sagt Hoeneß einmal, am Bürofenster stehend, mit Blick auf die trainierenden Bayern-Spieler unter ihm, »fünf Minuten später wäre ich in Trikot und Schuhen wieder auf dem Platz gestanden.«

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie ihn Adi Dassler mit seiner Tochter verkuppeln wollte und Hoeneß den wirtschaftlich runtergewirtschafteten FC Bayern übernahm.


Anfänge als Manager: Wie Uli Hoeneß fast der Schwiegersohn von Adolf Dassler wurde
Weil er schon Mitte der Siebziger nicht mehr regelmäßig Fußball spielen kann, ergreift Uli Hoeneß früh die Gelegenheit, seine zweite Begabung auszubilden. Dass er es besser als die meisten Mitspieler versteht, aus seinem Beruf Kapital zu schlagen, stellt er spätestens nach der Weltmeisterschaft 1974 unter Beweis; ein für die Aldi-Kette konzipiertes WM-Buch von ihm und Paul Breitner, das nach seiner Idee mit jeweils einem Originalautogramm der beiden Herausgeber versehen ist, verkauft sich innerhalb weniger Monate 300 000 Mal. Mit 23 beginnt der dauerverletzte Stürmer, dem damaligen Manager des FC Bayern, Robert Schwan, zu assistieren. »Wenn wir in Südamerika zu Freundschaftsspielen unterwegs waren«, erzählt Hoeneß, »habe ich auf der Rückreise die Geldtasche mit dem Honorar durch den Zoll getragen, weil Schwan Vertrauen zu mir hatte.« Schon damals verfestigt sich in Hoeneß der Eindruck, dass sich der Verein zu sehr von den Zuschauereinnahmen bei Heimspielen abhängig macht und andere Einnahmequellen
außer Acht lässt. Noch als Spieler organisiert er daher den ersten Trikotsponsor für den FC Bayern, einen Baufahrzeug-Hersteller aus seiner Heimatstadt Ulm: »Den Vertrag mit Magirus habe ich im ›Franziskaner‹ an der Oper auf einem Bierdeckel abgeschlossen. Dafür hab ich vom Verein eine Provision gekriegt.«

In dieser Zeit, kurz vor seinem Zerwürfnis mit dem Bayern-Trainer Gyula Lorant und dem Wechsel zum 1. FC Nürnberg im Herbst 1978, wird eine andere Großinstitution des deutschen Fußballs auf Hoeneß aufmerksam. Adolf Dassler, der knapp 80-jährige Gründer von Adidas, sucht nach einem Nachfolger für den Sportartikel-Konzern in Herzogenaurach. Hoeneß war schon länger sein Ansprechpartner gewesen, wenn es um die Zusammenarbeit von Adidas und dem FC Bayern ging. »Ich habe dieselbe Schuhgröße wie Franz Beckenbauer«, sagt er, »und neue Testschuhe wurden regelmäßig an den Franz und mich geschickt.« Adolf Dassler will ihn enger an das Unternehmen binden – »und da der Alte natürlich in Dynastien dachte«, so Hoeneß, »versuchte er einzufädeln, dass ich auch sein Schwiegersohn werde. Ich lebte damals ein halbes Jahr lang von meiner Frau getrennt. Dassler hat mich regelmäßig nach Herzogenaurach eingeladen, um irgendetwas zu besprechen. Die einzige Person, die er auch zu den Konferenzen bestellte, war komischerweise seine Tochter … aber außer ein paar Küsschen hat’s nie was gegeben.«

Im Frühling 1979 ist der 1. FC Nürnberg so gut wie abgestiegen, und die Mannschaft des FC Bayern revoltiert gerade gegen die Verpflichtung von Max Merkel als Trainer. Uli Hoeneß bekommt einen Anruf von Präsident Wilhelm Neudecker. Nach der Entlassung Robert Schwans und einer Zwischenepisode mit Walter Fembeck sucht der verschuldete und seit dem letzten Europacup-Gewinn 1976 erfolglose FC Bayern einen neuen Manager. Hoeneß erklärt sich das Angebot heute damit, dass Neudecker »nur einen unerfahrenen Prellbock gesucht hat für die bevorstehende Steuerprüfung«. Drei Wochen nach dem ersten Arbeitstag des neuen Managers tritt der Präsident zurück und hinterlässt Hoeneß einen sportlich wie wirtschaftlich maroden Verein.

Die Gesundung und Expansion des FC Bayern unter seiner Führung dann, die Steigerung des Umsatzes um das Fünfzigfache, von zwölf Millionen Mark im Jahr 1979, bei 85 Prozent Zuschauereinnahmen, auf 300 Millionen Euro 2008, bei nur noch 18 Prozent Zuschauereinnahmen – diese Zahlen und Daten fügen sich zu Uli Hoeneß’ liebster und meisterzählter Geschichte. Bei den Vorträgen und Ehrungen, die er in diesem Jahr absolviert, referiert er seine Erfolgsbilanz jedes Mal auf fast unveränderte Weise, streut die gleichen Anekdoten ein, die bewährten Pointen: dass der Trikotsponsor Iveco im Jahr 1979 750 000 Mark pro Jahr gezahlt hat, die Telekom heute etwa 25 Millionen Euro; dass das ganze Vereinswohl früher »vom Wetter abhängig war«, weil das zugige Olympiastadion bei Regen und Kälte leer blieb; dass er im Sommer 1979, kurz nach Amtsantritt, nach Kalifornien flog und im Flagstore der »49ers«, des berühmten Football-Clubs von San Francisco, sein persönliches Erweckungserlebnis in Sachen Merchandising hatte: »Bei uns gab es damals nur Wimpel, Schals und Aufnäher im Stadion, für die hartgesottenen Fans in der Südkurve. In dem Laden in San Francisco aber, mitten in der Stadt, sah ich an einem gewöhnlichen Montagmorgen Dutzende von Geschäftsmännern und ganz normale Familien, die alles Mögliche dort einkauften, Trikots, Mützen, Bettwäsche, Kaffeetassen. Da wusste ich: Hier liegt auch die Zukunft des FC Bayern!« Schließlich gibt er den Ulmer Nachwuchs-Funktionären oder den Kadetten der Elite-Akademie noch eine Einführung in die »vier Säulen« seines Unternehmens – Zuschauereinnahmen, Sponsoring, Merchandising und Fernsehgelder – und macht sie mit seinem System vertraut, »immer Exklusivität zu geben« und in jeder Branche nur mit einem einzigen Partner zusammenzuarbeiten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Hoeneß' erster Eindruck von Louis van Gaal, Sprechchöre zu seinen Ehren in Köln, und Christian Nerlinger, sein Nachfolger.


"Er muss das Herz der Menschen gewinnen": Christian Nerlingers erste Arbeitstage
Donaueschingen im Schwarzwald, Mitte Juli: Der FC Bayern hat in einem Golfhotel mit weitläufigen Rasenflächen und Parkanlagen sein Trainingslager bezogen. Im Kennzeichen der Dienst-Audis vor dem Hotel stehen inzwischen die Buchstaben »RM« für »Rekordmeister«, die Verlegenheitslösung in meisterlosen Jahren; Anfang Juni sind die Wagen der Spieler wie jedes Jahr ausgetauscht und von Audi versteigert worden. Seit drei Wochen heißt der Trainer der Bayern Louis van Gaal. Der ganze Verein atmet spürbar durch, dass wieder ein erfahrener »Fußballlehrer«, wie ein häufig fallendes Wort in diesen Tagen lautet, die Mannschaft übernommen hat. Wie fundamental die Probleme zwischen Klinsmann und dem FC Bayern gewesen sein müssen, lässt sich den öffentlichen Kommentaren ohne Weiteres entnehmen. Hoeneß selbst hat etwa in der Basilika in Kempten seine »monatelange Schlaflosigkeit« wegen Klinsmann erwähnt und ansonsten nur den Satz gesagt: »Er war ein hervorragender Fußballspieler – der es dann nicht geschafft hat.«

Van Gaal ist über Pfingsten schon einmal kurz in München gewesen; einen Tag lang war er auch bei Hoeneß zu Hause am Tegernsee, und abends im »Käfer« gab es einen kleinen Willkommensempfang, dessen »Wärme«, wie Hoeneß mit niederländischem Akzent sagt, den neuen Trainer sehr beeindruckt habe. In Donaueschingen sind die Richtlinien des neuen Trainers sofort erkennbar. Es herrscht eine strikte Kleiderordnung;
die Spieler tragen kurzärmlige blaue, der Betreuerstab, von Christian Nerlinger bis zum Pressesprecher, weiße Trikots. Nur Uli Hoeneß ist von dieser Kleiderordnung ausgenommen. In Zivil sitzt er am Rande des Trainingsplatzes im Schatten, auf einer Bank unter einem Baldachin, und beobachtet das Geschehen vor ihm: ein Patron, der über seine Familie wacht.

Nachmittags dann, vor der Abreise zum Podolski-Ablösespiel in Köln, erzählt Hoeneß von seinen ersten Eindrücken: »Wenn ich mir die Trainingsspiele anschaue, dann sehe ich, dass ein Stratege auf dem Platz steht.« Er ist aufgeräumt und guter Laune, was auch damit zusammenhängt, dass ihm auf seinem Tribünenplatz während der ersten Vorbereitungsspiele ungewohntes Wohlwollen entgegengebracht wird. »Das habe ich noch nie erlebt bisher. Es gab sogar Sprechchöre der gegnerischen Fans für mich – unglaublich!«

Auf der Tribüne, sagt er, nutze er nun immer die Möglichkeit, mit den Verantwortlichen der gegnerischen Vereine ins Gespräch zu kommen. Nur an die Perspektive könne er sich nach dreißig Jahren auf der Trainerbank schwer gewöhnen; er wolle den Spielern unten immer zurufen, endlich einen bestimmten Pass in die Tiefe zu spielen, doch gleichzeitig wisse er, dass sein Blick von oben verzerrt sei und der Ball gar nicht ankommen könne. Vor dem Fernseher wird es zu Beginn der Saison lange dauern, bis man sich an den neuen Anblick gewöhnt. Wenn Hoeneß während des Spiels eingeblendet wird, glaubt man die ersten Wochen immer noch, er sei vom Schiedsrichter auf die Tribüne verbannt worden.

Die unzähligen Details, die die Arbeit eines Fußballmanagers ausmachen, hat er in Donaueschingen schon an Christian Nerlinger übertragen. Und Hoeneß erzählt, dass er sich in den letzten dreißig Jahren wirklich für alles verantwortlich gefühlt hat, von der Marke des Mineralwassers im Trainingslager bis zum Luftdruck der Bälle, die er vor Anpfiff eines Bundesligaspiels immer selbst überprüfte. »Ich hab mich um jeden Scheiß gekümmert, Abfahrtszeiten, Busunternehmen, Trikots, zur Not hab ich den Spielern die Stollen reingeschraubt. Jetzt sitz ich hier und weiß nicht mal, ob wir morgen in Weiß oder Rot spielen.«

Nerlinger ist seit knapp drei Wochen im Amt, und Uli Hoeneß muss die Reibungslosigkeit des Übergangs, die er im Frühling prophezeit hat, relativieren. »Ich merke schon jetzt«, sagt er, »dass es für den Christian nicht leicht wird. Was ich mir erarbeitet habe, in dieser ganzen Tiefe, das hat Zeit gebraucht. Und ich habe das auch ein bisschen unterschätzt: Er muss das Herz der Menschen gewinnen, und das geht nicht einfach durch seine Position – das kommt oder es kommt nicht!« Am Samstag darauf ist Christian Nerlinger im Aktuellen Sportstudio zu Gast, und die Nervosität, die er ausstrahlt, seine hölzerne Sprache – fast in jedem Satz der Einschub »sehr, sehr« – verstärken diesen Eindruck. Man spürt im Trainingslager zum ersten Mal, dass dieses Jahr des Übergangs für Hoeneß keineswegs so unbeschwert verläuft, wie er manchmal vorgibt.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie Hoeneß auf der Massagebank seine Management-Philosophie fand, und wie er noch heute als fürsorglicher Patriarch der Bayern-Familie wirkt.


"Wir haben eine Sorgfaltspflicht für unsere Angestellten." Der Unternehmer Uli Hoeneß
Als er einmal über sein letztes Profijahr bei den Bayern redet, erinnert sich Hoeneß an einen Dialog mit dem damaligen Masseur Josip Saric. Eines Morgens begrüßte ihn der Jugoslawe Saric bei der Behandlung mit
den Worten: »Uli, musst du aufpassen, wollen sie dich verkaufen!« Robert Schwan, der vor Hoeneß massiert worden war, hatte von der Liege aus mit Präsident Neudecker telefoniert und den Transfer des verletzten Spielers angeregt. Auf diesen Vorfall gehen, wie Hoeneß heute sagt, seine moralischen Grundsätze als Manager zurück: »Damals habe ich mir geschworen: Sollte ich je in einer solchen Position arbeiten, wird nie ein Spieler über mich sagen können, dass ich ihn über seinen Kopf hinweg loswerden wollte.«

Über seine ethischen Prinzipien, sein Engagement für frühere Bayern-Spieler etwa, ist schon häufig berichtet worden: Wie er Gerd Müller in den Achtzigerjahren überredete, eine Entzugsklinik aufzusuchen, und dann in der kritischen Phase während der Entgiftung jeden Nachmittag von München nach Murnau fuhr, um am Krankenbett des Bewusstlosen zu wachen. Oder die Anstrengungen, die er unternommen hat, um Sebastian Deisler zu helfen, die vielen nächtlichen Gespräche im Trainingslager in Dubai 2007, kurz vor dessen Rücktritt, von denen bei Erscheinen von Deislers Autobiografie wieder die Rede war.

In den Akten der Bayern-Geschäftsstelle befindet sich eine Liste mit einem Dutzend ehemaliger Spieler, darunter Namen von Stars aus den Siebziger- und Achtzigerjahren, die in Schulden geraten sind und von ihrem ehemaligen Verein finanziell unterstützt werden. Hoeneß sagt: »Wir haben eine Sorgfaltspflicht für die Leute, die für uns arbeiten oder gearbeitet haben.« Und es gibt in diesem Jahr genügend Beispiele, die zeigen, wie er den Satz versteht. Im Auto von Ulm zurück nach München etwa, gegen zehn Uhr abends, wählt er die Nummer von Hermann Gerland, zu diesem Zeitpunkt noch Trainer eines Nachwuchsspielers namens Holger Badstuber in der dritten Liga. Der Vater Badstubers, lange Zeit Jugendtrainer beim FC Bayern, ist an Krebs erkrankt, und Hoeneß gibt Gerland ein paar Namen von Spezialisten durch, die man noch einschalten könnte; »Hermann«, sagt er zum Abschied, »bring mir doch morgen die Nummer des Mannes ins Büro, ich ruf ihn an«. Leider können diese Bemühungen nichts mehr ausrichten. Hermann Badstuber stirbt schon wenige Tage später.

Auch auf der Autofahrt zu Hoeneß’ Nürnberger Wurstfabrik im September kommt die Rede auf eine solche Geschichte. Sie handelt von einem der über 200 Angestellten, dessen junge Frau Ende der Neunzigerjahre gestorben ist. Der Mann kam mit der Situation nicht zurecht, mit den zwei kleinen Kindern, um die er sich kümmern musste, und wurde alkoholkrank. Er nahm Kredite auf, kam nicht mehr regelmäßig zur Arbeit, und nach einigen Jahren hatte er zwar seine Sucht überwunden, doch Schulden von knapp 30 000 Mark angehäuft. Uli Hoeneß hörte damals von der Verzweiflung des Mannes, lange Jahre ein verlässlicher Mitarbeiter der Firma, von den immer deutlicheren Selbstmordabsichten, und reagierte: »Ich habe also bei der Bank angerufen und die Filialleiterin gefragt, was denn geschehen würde, wenn man diese 28 000 Mark jetzt sofort abbezahlen würde. Geht nicht, sagte die Frau – klar, sie wollte noch ein paar Jahre schön ihre Zinsen bekommen. Da habe ich zu ihr gesagt: Ich gebe Ihnen jetzt zwei Stunden Zeit, und wenn ich nichts von Ihnen höre, stehen Sie morgen auf der Seite eins der Nürnberger Abendzeitung, als größte Abzocker der Stadt.« Schon nach einer Stunde habe die Frau zurückgerufen, und die Schulden seien bezahlt worden. In dieser Geschichte vereinen sich zwei bemerkenswerte Charaktereigenschaften von Uli Hoeneß: Zum einen natürlich zeigt sie sein großes Herz, zum anderen sein Vergnügen, eine solche Hilfsaktion richtig in Szene zu setzen. Der noble Einsatz verbindet sich mit einer Machtgeste gegenüber einer dritten Person; dem einen Menschen hilft er aus existenziellen Nöten, den anderen – sollte er sich dieser Hilfe in den Weg stellen – setzt er gleichzeitig unter Druck.

In seiner Wurstfabrik in Nürnberg hat Uli Hoeneß versucht, seine geschäftlichen und ethischen Grundsätze an seinen Sohn weiterzugeben, den heute 30-jährigen Florian, der den Betrieb schon seit acht Jahren leitet. Das Unternehmen mit dem Namen HoWe, ein Akronym aus den Namen der Gründer – Uli Hoeneß und sein verstorbener Partner
Werner Weiß –, wirkt beim Betreten der Geschäftsräume fast wie eine Säbener Straße der Wurstherstellung: Auch Florian Hoeneß hat sein Büro im Landhausstil eingerichtet; auch in diesem Großbetrieb, mit einer Produktion von bis zu drei Millionen Rostbratwürsten täglich, ist die Verwaltung überschaubar und familiär gehalten – nur drei Schreibtische im Eingangsbereich.

Die Idee, eine Wurstfabrik zu gründen, geht auf die WM-Bücher zurück, die Hoeneß 1974 und 1978 für Aldi herausgab. Einem befreundeten Starnberger Fleischfabrikanten, dem damaligen Bayern-Funktionär Rudolf Houdek, ermöglichte es Hoeneß Anfang der Achtzigerjahre, seine Wurstwaren bei dem Discounter unterzubringen. Aldi wollte sich von Houdek bald auch Nürnberger Rostbratwürste liefern lassen, aber da die Wurst nur in dieser Stadt produziert werden darf, war das unmöglich, und Hoeneß überzeugte einen Bekannten aus seiner Nürnberger Zeit, den Gastronomen Weiß, mit ihm eine Fabrik zu kaufen. Der Metzgerssohn Uli Hoeneß begriff diesen Schritt auch als nachträgliche Realisierung eines Vorhabens, das er sich eigentlich für seine Eltern gewünscht hätte: »Ich habe meinem Vater immer vorgeworfen, dass er kein richtiges Geschäft macht. Er wollte sich nicht vergrößern, was ich nie verstanden habe.«

Hoeneß, den in Nürnberg alle nur »den Senior« nennen, ist, wie er sagt, kaum noch persönlich präsent in der Fabrik, höchstens drei- oder viermal im Jahr. Beim Mittagessen, vor einem Berg von Rostbratwürsten, als er gerade nach draußen zum Telefonieren gegangen ist, erzählt sein Sohn allerdings eine andere Geschichte. »Mein Vater zeichnet weiterhin jede Rechnung selbst ab. Außerdem ruft er ständig hier an und lässt sich die Bestellungen durchgeben, in der Hochphase im Sommer bestimmt zwanzig Mal am Tag.« Als Uli Hoeneß wieder zurückkommt und mit dieser Zahl konfrontiert wird, wiegelt er ab – nein, vielleicht fünf, sechs Mal, nicht mehr. Aber Florian Hoeneß nimmt sofort sein Handy aus der Jacketttasche und ruft die Sekretärin im Raum daneben an: »Frau Landkammer, wie oft meldet sich mein Vater bei Ihnen am Tag wegen der Bestellungen? – Schon, gell? Mindestens.« Lächelnd steckt er das Handy wieder ein.

So wie Uli Hoeneß im Gespräch über systematisches Doping im Fußball oder die gängige Praxis von privaten Vermittlungsprovisionen bei Spielertransfers stets mit aller Leidenschaft betont, dass »der FC Bayern sauber« sei, spricht er beim Gang durch die Fabrik, im weißen Schutzanzug, auch über die Zusammensetzung seiner Würste. »Hier könnte jeder Journalist ohne Anmeldung reinspazieren, wir hätten nichts zu verbergen. Wir verwenden nur die frischesten Produkte. Es gibt nicht einmal ein Tiefkühlhaus; alles, was am Morgen geliefert wird, ist am Nachmittag verarbeitet.« Für seine Fabrik soll dasselbe wie für seinen Fußballverein gelten; der Kampf gegen Doping ist hier der Kampf gegen Konservierungsstoffe. Später, auf der Rückfahrt nach München, wertet er die erfolgreiche Arbeit seines Sohnes im Betrieb auch als gutes Omen für die aktuellen Sorgen beim FC Bayern, für die Aussicht, dass es mit dem jungen Christian Nerlinger als Nachfolger ebenso funktionieren wird.

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Krisen: Ein Zwischenfall im Flugzeug und die Schamhaare Christoph Daums
Wenn Uli Hoeneß über sich selbst spricht, ist er meistens in einer Weise mit sich im Reinen, die zu Widerspruch reizt. Seine Unerschrockenheit, das »Klartext-Reden«, wie er es selbst nennt, begründet er einmal damit, dass sein privates Leben vollkommen intakt sei: »Ich habe meine beiden Kinder gut ausgebildet, ich habe keine Kredite abzubezahlen, wir haben das schöne Haus am Tegernsee gebaut, das ist alles wunderbar. Die persönliche Situation ist bei mir gelöst, ich kann meine ganze Kraft in den Beruf stecken.« Man ist angesichts solcher Glücksbeschwörungen fast in Versuchung, nach dunkleren Bezirken in seiner Biografie zu fahnden. Gibt es im Leben von Uli Hoeneß tatsächlich keine Zweifel? Ist wirklich alles so harmonisch und erfüllt? Eine große Krise zumindest ist öffentlich geworden; die monatelange Trennung von seiner Frau im Jahr 1996, die Beziehung mit einer um 15 Jahre Jüngeren, die Flucht nach New York einen Sommer lang. »In der Zeit wollte der Uli alles anders machen«, erinnert sich sein Bruder Dieter, »er hat ja kurzzeitig sogar Klavierunterricht genommen.« Im Jahr 2009 wirkt die Selbstzufriedenheit und Ausgeglichenheit aber nicht gespielt.

Immerhin ist er ein Mensch, der mehrmals in der Vergangenheit an der Schwelle des Todes stand, 1975 bei einem schweren Autounfall mit Sepp Maier, 1982 bei jenem Flugzeugabsturz in Hannover, den er als Einziger der vier Personen am Bord überlebte, 1992 bei einer Notoperation am Darm und im November 1981 bei einem weiteren Zwischenfall im Flugzeug, der in der Öffentlichkeit bislang unbekannt geblieben ist. Zusammen mit seinem langjährigen Freund Werner Gegenbauer, dem heutigen Präsidenten von Hertha BSC und Gegenspieler seines Bruders Dieter, saß er in einem kleinen Privatflugzeug von Bologna nach München, als die Maschine in einem Hagelsturm zwanzig Minuten außer Kontrolle geriet. »Gegenbauer und ich haben uns an der Hand gehalten und wussten: Das war’s! Am Ende ist das sogar ein positives Gefühl: Wenn du merkst, du hast keine Chance mehr, dann geht’s dir plötzlich gut. An Bord war übrigens auch dieser Bluesbarde Willi Michl, ein Bekannter des Piloten. Der hat dann während der Turbulenzen angefangen zu singen. Der hat Arien geschmettert! Und ich hab mich nach hinten gedreht und gesagt: Wenn du jetzt nicht sofort aufhörst, bring ich dich um!«

Uli Hoeneß konnte nach dem Absturz von 1982 sofort wieder in ein Flugzeug steigen, weil er zum Zeitpunkt des Unglücks geschlafen hatte und sich an nichts erinnerte. Er achtet seitdem aber sehr genau auf die Wahl der Maschine: »Ich fliege nur noch mit Profis, egal wie teuer es ist. Meine Kinder haben die Anweisung, keine Billigflieger zu benutzen. Die Differenz zahle ich. Und beim FC Bayern lasse ich es nicht zu, dass unsere Scouts innerhalb Afrikas fliegen. Der beste Fußballer der Welt ist es nicht wert, dass einer unserer Angestellten stirbt.«

Die schwierigste Phase in Uli Hoeneß’ Managerleben ist zweifellos die Kokain-Affäre um Christoph Daum gewesen, die Wochen bis zu dem unerwarteten Ergebnis der freiwilligen Haarprobe. »Ich hatte Hunderte von Hassbriefen auf meinem Schreibtisch liegen. Das war zum ersten Mal eine Situation, in der ich dachte, ich schaffe das nicht. Wenn der nicht die Probe macht, bin ich kaputt.« Die Rede kommt auf die bis heute rätselhafte Frage, warum Christoph Daum damals überhaupt einen Test durchführen ließ, wo er doch wusste, dass er vermutlich positiv sein würde. Hoeneß sagt dazu: »Ich habe irgendwann gehört, dass es zuvor eine Untersuchung von befreundeten Ärzten gegeben hat – negativ. Als dann in Deutschland die offizielle Probe gemacht wurde, haben die Ärzte am Ende aber noch ein paar Schamhaare entnommen, die ja wesentlich langsamer wachsen. Und darauf war der Herr Daum nicht vorbereitet.«

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Warum sich neue Trainer vor allem bei einem oder zwei Glas Wein beweisen müssen,  und warum der oft unnahbar wirkende Hoeneß eigentlich ein Romantiker ist.


Die DNS des FC Bayern: Uli Hoeneß’ Rückzug und die Zukunft seines Vereins
Wenn sich in diesem Jahr ein Eindruck vom FC Bayern immer wieder bestätigt hat, dann die erstaunliche Bedeutung der Geselligkeit für die Funktionsweise des Vereins. Allein das »Weintrinken« der Verantwortlichen im Mannschaftshotel, am Vorabend eines Spiels: Im Jahr 2009 hat der FC Bayern bisher drei Trainer beschäftigt, und jedes Mal, wenn Uli Hoeneß über einen von ihnen spricht, ist die Frage, wie der Trainer zu diesem Abendritual steht, eigentlich ein Charaktertest, ob er zum FC Bayern passt. »Der Jürgen hat da meistens Wasser getrunken«, sagt Hoeneß über Klinsmann, und sein verständnisloser, leicht spöttischer Gesichtsausdruck sagt alles darüber aus, warum die Zusammenarbeit so schnell endete. Umgekehrt scheint in seinen Reden jederzeit durch, dass der Ruck, der am Ende der Saison mit Jupp Heynckes durch die Mannschaft ging, nicht allein mit der Sachkenntnis und Erfahrung des Trainers zu tun hatte, sondern mit einer wiedererwachten Lebenskultur: »Der Knackpunkt war für mich sein zweites Spiel, das 3:1 in Cottbus«, erinnert sich Hoeneß später. »Jupp hatte Geburtstag an dem Tag, und ich habe heimlich beim ›Käfer‹ einen Tisch bestellt, natürlich nur für den Fall eines Sieges. Nach der Rückkehr ist die ganze Mannschaft mit Frauen bis um drei in der Früh zusammengesessen. Ich hab Christian Nerlinger irgendwann das Du angeboten; Hermann Gerland stand auf dem Tisch und hat gesungen. Da wusste ich: Jetzt geht’s aufwärts!«

Auch die Hoffnung, in Louis van Gaal endlich den Richtigen gefunden zu haben, einen würdigen Nachfolger Ottmar Hitzfelds, nährt sich zu Beginn der Saison gerade an solchen Fragen. »Er ist nach der Arbeit kein Asket«, sagt Hoeneß in Donaueschingen, »trinkt wie der Ottmar gern ein oder auch zwei Glas Rotwein und mag gutes Essen, was mir natürlich sehr viel Spaß macht.« Und Hoeneß’ Bekenntnis, im Trainingslager noch nie so wenig geschlafen zu haben wie in diesem Jahr, ist als Auszeichnung für den neuen Trainer zu verstehen. Dass er das soziale Gefüge des Clubs so ernst nimmt, hat natürlich nicht einfach mit seiner lebensbejahenden Art zu tun. Er begreift die Geselligkeit beim FC Bayern vielmehr als entscheidenden Vorteil seines Clubs gegenüber zahlungskräftigeren, aber atmosphärisch sterilen Vereinen in Spanien und England. »Klar, das ist doch unsere einzige Chance, wenn wir die besten Spieler oder Trainer bekommen wollen. Schauen Sie sich jetzt den Herrn Pérez von Real Madrid an, wie der mit der Sense durch den Verein geht: Da wird keiner warm empfangen.«

Uli Hoeneß’ Arbeitsweise wird in Medienberichten häufig mit Attributen wie »Härte« oder »Kompromisslosigkeit« belegt. Nach außen, in Verhandlungen mit Spielerberatern oder Fernsehanstalten, mag dieser Eindruck zutreffen; wie für alle machtorientierten Menschen gilt auch für ihn, dass die ganze Herzlichkeit und Fürsorge, die er ausstrahlt, rasch erkalten und ins Gegenteil kippen kann, wenn sich jemand seinen Zielen entgegenstellt. Was aber das Innenleben des Clubs angeht, ist die Behauptung nicht übertrieben, dass die Vereinigung von Freundschaft und Geschäft den fast romantischen Grundsatz seiner Arbeit ausmacht. »Nur so geht es – das glaube ich zumindest«, sagt Hoeneß, mit einem für seine Verhältnisse ungewohnten Beiklang von Zweifel. Mit den erfolgreichen Trainern des FC Bayern war er immer auch eng befreundet; die sportlichen Probleme mit den erfolgloseren ließen sich nicht von persönlichen Problemen trennen. Deshalb ist auch die große Krise, in die der FC Bayern im Herbst mit Louis van Gaal gerät, zuallererst ein Mentalitätskonflikt. Die Arbeitsweise eines Trainers steht zur Debatte, der seinen Spielern vor dem Mittagessen im Hotel per Handzeichen die Erlaubnis erteilt, tischweise zum Buffet zu gehen, und drei Stunden später von ihnen erwartet, selbstbestimmt und dominant Fußball zu spielen.

Spätestens nach den beiden Niederlagen gegen Bordeaux in der Champions League wird Uli Hoeneß mit ungewöhnlich harter Kritik an der Vereinsführung in den letzten Jahren konfrontiert. Philipp Lahm greift die Einkaufspolitik des Vorstands am Tag des Bundesligaspiels gegen Schalke in seinem Interview mit der Süddeutschen Zeitung in einer Direktheit an, wie es kein Spieler in der Amtszeit von Uli Hoeneß je getan hat. Die ersten Reaktionen von Rummenigge und Hoeneß klingen verständnislos und herrisch; das Gespräch mit Lahm zwei Tage später endet aber nach anfänglichen Ruppigkeiten in einer konstruktiven Diskussion. Uli Hoeneß sitzt an diesem Montagabend im November ein wenig abgekämpft in den Geschäftsräumen des Vorstands. Er ist mit dem Inhalt des Interviews weiterhin nicht einverstanden und sagt: »Ich glaube nicht, dass wir falsche Transfers getätigt haben. Ein Verein kann auch nicht über den Kopf eines neuen Trainers hinweg ein dauerhaft gültiges Spielsystem festlegen, wie Philipp Lahm meint. In der jetzigen Situation würde es uns vielmehr helfen, wenn alle Spieler endlich einmal an ihrer Leistungsgrenze Fußball spielen würden.«

Hoeneß weiß, dass die Verschärfung der Krise genau zur falschen Zeit kommt. Er hätte am 27. November gern ein wirtschaftlich wie sportlich bestens bestelltes Feld übergeben. Der eine Bereich ist, wie gerade die Nachricht über die Beteiligung von Audi an der FC Bayern AG bestätigte, auf jeden Fall gewährleistet. Doch der andere macht ihm Sorgen wie seit dem Missverständnis mit Otto Rehhagel vor knapp 15 Jahren nicht mehr. Sollte sich der FC Bayern in zwei aufeinanderfolgenden Spielzeiten massiv mit einer Trainerverpflichtung geirrt haben? Kann Uli Hoeneß seinen feinen Instinkten, was Vereinsentscheidungen von großer Tragweite betrifft, nicht mehr trauen? »Ich weiß«, sagt er, »es sieht so aus, als würde meine Aura gerade ein wenig bröckeln. Aber das macht mir nichts aus. Wir werden den FC Bayern gemeinsam aus dieser Krise bringen.«

Wie immer sich allerdings die jetzige Lage entwickelt, ob das Spiel gegen Leverkusen am Sonntag eine weitere Dramatisierung auslöst oder vielleicht die lang erhoffte Wende zum Guten – eines steht auf jedem Fall fest: Der Rückzug des Managers, sein Wechsel ins Präsidentenamt ist die größte Bewährungsprobe für den FC Bayern seit Jahrzehnten. Denn ab Januar fehlt nicht nur ein erfahrener Verhandlungspartner oder ein findiger Akquisiteur von Sponsoren, sondern zuallererst ein Mensch, der Tag für Tag die Kultur des FC Bayern bestimmt hat. Der Verdacht ist sogar begründet, dass die jüngsten Vorkommnisse, das Interview von Lahm und die öffentliche Kritik an der Vereinspolitik, kaum auf diese Weise geäußert worden wären, wenn der Rückzug der zentralen Figur des Clubs nicht unmittelbar bevorstehen würde.

Denn Uli Hoeneß ist der FC Bayern. Dreißig Jahre lang hat er diesen Verein im wörtlichen Sinne verkörpert. Das ist nicht zuletzt daran erkennbar, dass die Persönlichkeit des Managers und die typische Spielweise der Bayern-Teams in den letzten Jahrzehnten erstaunliche Übereinstimmungen aufweisen. Mythen wie das »Sieger-Gen« oder das »Mia san Mia«-Gefühl, die sich um jede Bayern-Mannschaft gebildet haben, entsprechen genau dem stolzen, von sich selbst überzeugten Auftreten ihres Managers, seiner Gabe, die Dinge mit solcher Überzeugungskraft zu vertreten und, wenn nötig, schönzureden, bis sie sich tatsächlich in seinem Sinne fügen. Das vielbeschworene »Bayern-Gen« stammt von Uli Hoeneß, und die DNS des Clubs wird sich, wie man jetzt erahnen kann, nach seinem Rücktritt grundlegend verändern.

An einem Abend im Oktober, der überraschende Wintereinbruch hat eine dichte Schneedecke auf die Wiesen rund um den Tegernsee gelegt, wollen Uli und Susi Hoeneß – die ihn meistens »Ulrich« nennt – im Souterrain ihres Hauses einige Fotoalben durchschauen, für die Bebilderung dieser Geschichte. Nach dem Essen führt Hoeneß durch das großzügige, ebenfalls von hellen Holztönen dominierte Haus, auf einem Grundstück, das er vor einigen Jahren Gunter Sachs abgekauft hat. Nichts erinnert in den Wohnräumen an die Biografie eines berühmten Fußballers – keine Pokale, keine Fotografien, keine Vitrinen mit Erinnerungsstücken. Auf dem Boden des Swimmingpools hat Hoeneß, viele Jahre erfolgsverwöhnter Börsenspekulant, großflächig die beiden Symbole des Aktienhandels eingravieren lassen, den Stier und den Bären.

Er kommt noch einmal auf Jupp Heynckes zu sprechen, der in den Wochen als Trainer oft hier im Haus übernachtet hat. Noch jetzt, ein halbes Jahr später, freut er sich darüber, dass an dem Sonntagnachmittag im Mai kein Journalist ermitteln konnte, wo das Treffen der Bayern-Verantwortlichen stattfand, bei dem Klinsmanns Entlassung und Heynckes’ Verpflichtung beschlossen wurde. »Die einen schrieben, in meinem alten Haus in Ottobrunn, die anderen im ›Bogenhauser Hof‹, obwohl der doch, wie jeder herausfinden kann, am Sonntag Ruhetag hat.« Der Bayern-Vorstand kam aber in Hoeneß’ Münchner Stadtwohnung zusammen und entschied dort, wie die Pressemeldung später lautete, bei laufendem Videotext nach der Niederlage der Wolfsburger im Sonntagsspiel, handeln zu müssen. »Der Videotext, mein Gott«, sagt Hoeneß, »eine Stunde lang saßen Rummenigge, Nerlinger, Hopfner und ich abwechselnd vor meinem Premiere-Decoder, um das Ding anzukriegen, aber wir haben es nicht geschafft. Also mussten wir dauernd auf den blöden Videotext schauen.«

Bei der Nachspeise im Haus am Tegernsee kommt das Gespräch auf das Auswärtsspiel in Freiburg. Auf die Frage, ob das Spiel am Samstag um halb vier oder um halb sieben beginne, stutzt Hoeneß und sagt: »Oh, das weiß ich noch gar nicht.« Seine Frau lacht; Hoeneß verteidigt sich damit, dass es die neue Anstoßzeit am Samstagabend erst seit dieser Saison gebe – doch die Botschaft hinter der Aussage ist eindeutig. In den vergangenen Jahrzehnten wäre es nicht vorgekommen, dass der Manager des FC Bayern zwei Tage zuvor nicht weiß, wann genau ein richtungsweisendes Bundesligaspiel seiner Mannschaft angepfiffen wird. Uli Hoeneß schaut etwas verlegen zu seiner Frau hinüber, dann redet er weiter. Er hat sich mit seinem Rückzug schon arrangiert.

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Uli Hoeness
Geboren am 5. Januar 1952 in Ulm
Ab 1970 Profi beim FC Bayern München,
ab 1972 Nationalspieler

Größte Erfolge als Spieler:
1972 Europameister,
1974 Weltmeister,
1974–76 Europapokalsieger der Landesmeister mit dem FC Bayern
Ab 1975 chronische Kniebeschwerden
Rücktritt als Nationalspieler 1976
Wechsel zum 1. FC Nürnberg 1978
Rücktritt als Fußballer 1979
Ab Mai 1979 Manager beim FC Bayern
(Jahresumsatz des Vereins 1979: 12 Mio. Mark;
Jahresumsatz 2008: 300 Mio. Euro)

Größte sportliche Erfolge in der Zeit als Manager:
Champions-League-Sieg 2001, Uefa-Cup-Sieg 1996, 16 Mal deutscher Meister

Größte Niederlagen:
verschossener Elfmeter im EM-Endspiel 1976 gegen die CSSR; Finale im Europacup der Landesmeister 1982 gegen Aston Villa und 1987 gegen FC Porto; Finale der Champions League 1999 gegen Manchester United

Auszeichnungen u. a.:
Unternehmer des Jahres 1999, Bayerischer Verdienstorden 2002, Bayerischer Sportpreis 2006, Goldene Pyramide der Stiftung Deutsche Sporthilfe 2009, Bambi 2009

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Andreas Bernard traf Uli Hoeneß für dieses Porträt zum ersten Mal im März 2009. Dreißig Jahre zuvor, in Hoeneß’ erstem Amtsjahr, begegnete er dem Bayern-Manager schon einmal: 1979 absolvierte er ein Probetraining in einer Schülermannschaft des FC Bayern. Nach dem Training spendierte ihm Uli Hoeneß im Vereins-lokal einen großen Eisbecher. Das Eis war eine wohltuende Aufmunterung, weil sich auf dem Platz schnell herausgestellt hatte, dass es für einen Wechsel zum FC Bayern nicht reichen würde.

Fotos: Fred Joch 3, Robert Brembeck 1, Getty 6, dpa 4, privat: 3