Reifenprüfung

Schumi ist weg. Egal. Hier kommt Sebastian Vettel!

Sebastian Vettels erste Begegnung mit der Formel 1 war ein großer Reinfall. Anfang der Neunzigerjahre kaufte Vater Vettel Karten für das Rennen auf dem Hockenheimring: Stehplätze fürs freie Training, auf einem Wall, an einer unwichtigen Schikane. »Es hat geregnet«, sagt Sebastian Vettel, »wir standen die ganze Zeit im Matsch, und ab und zu kam ein Auto vorbei.« Er presst die Lippen aufeinander, ahmt einen Formel-1-Motor nach, lässt das kraftvolle Kreischen näher kommen und dann ganz schnell wieder verschwinden. Sebastian Vettel muss lachen, als er die Geschichte erzählt, ein breites Spitzbubenlachen, bei dem seine großen Zähne zu sehen sind. Er ist erst 19 Jahre alt, wahrscheinlich das größte deutsche Motorsport-Talent, und seine erste Erinnerung an die Formel 1 ist trostlose Langeweile. Seine Faszination für Autos hatte aber schon früher begonnen, im Urlaub, als die Familie so viel Spaß auf einer Kartbahn hatte, dass der Vater entschied: So einen Flitzer kaufe ich auch. Zwei PS, Einrad-Antrieb. Eigentlich stand das Spielzeug Sebastian Vettels beiden älteren Schwestern zu, aber der Dreijährige klammerte sich so fest ans Lenkrad, dass sie bald aufgaben. Mit dieser Hartnäckigkeit hat er es weit gebracht: Im August wurde Vettel, der zuvor in vielen Nachwuchsserien geglänzt hatte, von BMW als Freitagstestfahrer engagiert, was so viel heißt wie: In den Trainingsläufen darf er mitfahren, bei den Rennen am Sonntag, wenn es um WM- Punkte geht, noch nicht. Beim Training zum Großen Preis in Istanbul trat er dann zum ersten Mal an, er war exakt 19 Jahre und 53 Tage alt. Jünger war vorher kein Grand-Prix-Teilnehmer gewesen. Michael Schumacher hatte mit 22 Jahren sein Debüt gegeben, Bruder Ralf mit 21. Sebastian Vettel glückte prompt die Bestzeit, und wer das für einen Glückstreffer hielt, musste zwei Wochen später in Monza zugeben, sich getäuscht zu haben. Vettel stürmte erneut an die Spitze der Ergebnislisten. »Man muss sich das vorstellen, als würde beim Tennis ein A-Jugendlicher gegen Roger Federer spielen dürfen«, sagt er. »Plötzlich steht da im Fernseher mein Name vor den ganz Großen.« Michael Schumacher, der in seinem Ferrari einige Runden in Vettels Windschatten gedreht hatte, lobte: »Er hat einen super Job gemacht. Von ihm wird noch einiges kommen.« Und der ehemalige Rennstall-Chef Peter Sauber staunte: »Bei ihm wirkt alles so spielerisch, als würde er tanzen.« Bis zum Ende der Saison darf Vettel den Testfahrer geben. Ein Job, der auch im kommenden Jahr noch reizvoll wäre. Danach aber will er Rennen fahren. Richtige Rennen. Und gewinnen. Seine Chancen stehen nicht schlecht. Gleich zwei Teams buhlen um ihn: BMW und Red Bull. Jetzt, da Michael Schumacher seinen Rücktritt angekündigt hat, sucht Deutschland den nächsten Rennfahrer-Superstar. Die großen Teams, die wichtigen Sponsoren, die Manager – sie alle veranstalten Castings, um das größte Talent zu finden. Dann werden einige Kanten abgeschliffen, es gibt Benimmunterricht, ein wenig Gel ins Haar – und fertig ist der perfekte Rennfahrer. Was herauskommt, wenn sich einer 15 Jahre lang in diesem Metier bewegt, ist an Michael Schumacher zu sehen: Seine Antworten, sein Auftreten – an ihm wirkt alles stromlinienförmig. Sebastian Vettel aus Heppenheim ist noch nicht so weit. Noch ist sein Gesicht kindlich rund, die Zahnspange noch nicht lange aus dem Mund. Ein leichtes Hessisch ist zu hören, selbst wenn er Englisch spricht. Noch gibt er Interviews, ohne dabei eine Sonnenbrille zu tragen. Als er seine Freundin zum ersten Mal mit ins Fahrerlager brachte, wunderte er sich, als am nächsten Morgen Bilder von ihr in den Zeitungen zu sehen waren. »Baby-Schumi« hat ihn die italienische Zeitung Gazzetta dello Sport getauft. Trotzdem muss er noch einiges lernen, wenn er es ganz nach oben schaffen will. Dass die Formel 1 erbarmungslos ist, zum Beispiel. Dass man Schwächen am besten verschweigt. Im Sommer hat Sebastian Vettel das Abitur bestanden. Schnitt 2,8. »Kein Monster-Abi«, nennt er das, »aber ich bin zufrieden. Für meine vielen Fehlstunden und dafür, dass ich faul bin.« Jede Wette, bald wird er so etwas nicht mehr sagen. Die Formel 1 trägt eine Hochglanzfassade. Nach außen ist alles perfekt, selbst bei denen, die weit hinterherfahren. Schweiß, Tränen, Angst – gibt es nicht. Nur Neueinsteiger gewähren manchmal einen Einblick, wie es wirklich zugeht, welchen Reiz das Spektakel entfaltet und welcher Irrsinn nach wie vor mitfährt. Noch sprudelt es aus Sebastian Vettel heraus, wenn er gefragt wird, was ihn an der Formel 1 so fasziniert. »Die Geschwindigkeit«, sagt er dann. »Man muss sich langsam herantasten. Man muss lernen, den Kopf zu überwinden. Wenn ich mit mehr als 300 Stundenkilometern ankomme und da steht ein Schild ›Noch hundert Meter bis zur Kurve‹, dann schreit der Kopf: Stopp, stopp, stopp! Dabei kann man hundert Meter vor der Kurve noch voll Gas geben. Das ist schon verrückt und genauso fühlt es sich auch an.«