SZ-Magazin: Frau Navratilova, niemand sonst im Sport, außer im Golf, hat mit 50 noch in der Spitzenklasse mitgehalten.
Martina Navratilova: Ja, das hat noch keiner gemacht – nicht in einem so dynamischen Einzelsport wie Tennis. In diesem Alter fällt mir nur der Eishockeyspieler Gordie Howe ein, und der hatte immer noch ein Team von fünf anderen mit auf dem Eis dabei.
Sie hätten die Mutter Ihrer Gegnerinnen sein können. Ich bin sogar älter als die Mütter der meisten anderen Spielerinnen. Und so etwas wird wohl auch nicht so bald wieder passieren. Außer wir werden alle mal 150 und jeder ist dann mit 50 viel jünger als wir heute.
Viele Leute trainieren und ernähren sich richtig und trotzdem schaffen die nicht, was Sie geschafft haben. Ich weiß auch nicht, warum ich immer noch so gut spiele. Ich lege noch heute Aufschläge mit 171 km/h hin, keine Ahnung, woher das kommt. Aber ich glaube, es ist eine Kombination von guten Genen und dass ich seit 25 Jahren gesund lebe.
Trotzdem haben Sie jetzt mit den US Open Ihre Karriere beendet? Sie könnten doch problemlos bis 55 oder 60 weiterspielen. Sicher, aber das will ich nicht. Ich möchte zur Ruhe kommen, mehr Zeit mit meiner Freundin verbringen, mit meinen Hunden und Katzen, der Familie und den Freunden und mal auf anderen Gebieten ein Zeichen setzen.
Sie erwähnten Ihre guten Gene. Wann wurde Ihnen eigentlich klar: »Donnerwetter, ich bin ja eine echt gute Sportlerin!« So in der dritten oder vierten Klasse hab ich gemerkt, wie leicht mir alles fiel: Bälle fangen, Bälle werfen, sprinten. Ich konnte das alles und besser als die Jungs. Na schön, das war in meiner Schule. Aber als ich bei diesen landesweiten Jugendsporttreffen auch noch vorn mitmischte, dachte ich irgendwann: Aha, vielleicht bist du doch was Besonderes.
Sie sagten einmal, Ihre Reflexe seien eher die eines Mannes als die einer Frau. Gibt es denn da wirklich Unterschiede? Ich glaube, ich sehe den Ball besser als die meisten Männer. Aber Männer haben kräftigere Arme, um den Schläger in Position zu bringen. Die Frauen sehen den Ball, aber sie bringen den Schläger nicht schnell genug hin. Man braucht einen echt kräftigen Unterarm. Deshalb verliere ich jetzt langsam an Tempo. Ich glaube nicht, dass es die Augen sind. Ich kriege den Schläger nicht mehr rasch genug zum Ball, weil ich weniger Kraft als früher habe. Deshalb war das vielleicht falsch formuliert: Frauen haben ebenso gute Reflexe wie Männer, aber der Mann ist trotzdem schneller da, weil er stärker ist.
Weshalb waren Sie so selten verletzt? Ich hab immer gut für meinen Körper gesorgt. Aber es hat wohl auch mit den Genen zu tun. Ich habe einfach einen echt guten Body fürs Tennis – oder jeden anderen schnellen, körperbetonten Sport.
Wie kommt es, dass sich heute junge Spielerinnen mit 23 verletzt vom Sport verabschieden? Sie spielen ja nichts als Tennis. In meiner Jugend habe ich Fußball gespielt, war Eis laufen, auf der Aschenbahn, bin im Fluss geschwommen, auf Bäume geklettert, lauter verrückte Sachen eben. So lernte ich, meinen gesamten Körper zu beherrschen. Bleib ich mal irgendwo hängen und falle hin, macht mir das nichts. Wenn diese jungen Spielerinnen stürzen, sind sie oft gleich verletzt. Und weil sie auf Hartplätzen spielen und alle viel fester draufhauen, spielen sie trotz Schmerzen weiter, und dann passieren alle möglichen schrecklichen Sachen.
Sie schaden sich dafür manchmal eher mit Ihren kritischen Ansichten. Die USA sind mein Land, also sag ich meine Meinung. Vielleicht verkaufe ich weniger Bücher deswegen, aber da kann ich nichts tun. Wenn ich Unrecht sehe, muss ich darauf hinweisen. Um das zu können, habe ich ja die Tschechoslowakei verlassen. Es ist irgendwie seltsam: Heute kann ich eher in der Tschechischen Republik meine Meinung sagen als in den Vereinigten Staaten.
Mit 19 sind Sie aus dem Sozialismus desertiert, haben sich für die USA entschieden, und jetzt bewegen sich Europa und Amerika weit auseinander, was den Liberalismus der Gesellschaft angeht. Amerika geht eindeutig rückwärts. Präsident Bush versucht gerade, ein Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe durchzubringen, was ihm zwar nicht gelingen wird, aber ich finde das absolut erstaunlich. Dass er sich wegen so was Sorgen macht, bei alldem, was in unserem Land derzeit schiefläuft. Aber darüber will ich gar nicht reden, da werde ich nur wütend. Ich lese gerade ein Buch, das im Florenz des 15. und 16. Jahrhunderts spielt, wo die »religiöse Rechte« die Macht an sich riss und gleich große Kunst auf den Scheiterhaufen warf, weil sie für ihren Geschmack zu viel Nacktheit oder Blasphemie enthielt. Die standen ungefähr dort, wo die Muslim-Extremisten heute sind.
Sie haben schon häufiger die Möglichkeit erwogen, in die amerikanische Politik zu gehen. Ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür gekommen? Ich könnte jetzt sagen: Nein, das tue ich nicht. Doch dann fange ich zu reden und zu schimpfen an – aber ich habe auch Ideen, gute Lösungen – und schon sagen alle: »Du solltest echt in die Politik gehen.« Momentan bin ich politisch aktiv. Es ist leichter, seine Meinung zu sagen, wenn man politisch aktiv, aber keine Politikerin ist. Aber wer weiß? Wenn ich etwas bewirken kann, würde ich es tun. Im Grunde habe ich ja auch nur deshalb noch Tennis gespielt. Ich möchte im Leben von Menschen etwas erreichen. Und indem ich in meinem Alter noch Turniere gewann, habe ich sie inspiriert, ebenfalls mehr zu tun.
Haben Sie mit 25 erwartet, dass Sie mit 49 immer noch spielen? Sicher nicht! Soll das ein Witz sein? 1994 fand ich, ich hätte genug – nein, ich hatte genug –, und dachte, wenn ich nie wieder einen Tennisball schlagen muss, ist das ein Segen! Es waren auch herrliche fünf Jahre, die ich damals nicht gespielt habe. Ich habe den Pilotenschein geschafft, das Schreinern erlernt und Tische gebaut, mir Kisuaheli beigebracht, weil ich fünf Monate in Kenia war – und dann die Fotos ausgestellt, die ich dort gemacht habe. Alles und jedes hab ich damals probiert. Zum Beispiel Eishockey, das spiele ich heute noch.
Und dann überkam Sie jenes Gefühl, das so viele Profisportler nach dem Karriereende ereilt: Leere, die Sehnsucht nach dem Leben im Rampenlicht? Nein, aber irgendwann fand ich: »Hey, ich bin dermaßen in Form, da könnte ich ruhig mal wieder spielen.« Und damit hatte es mich von Neuem erwischt. Ich fragte mich: »Wie viel besser kann ich werden? Wie gut kann ich in meinem Alter noch spielen?« Und bald ging’s los: »Eigentlich könnte ich noch besser werden. Also spiel ich noch ein Jahr weiter.« Es hat eine Weile gedauert, bis ich mein jetziges Niveau erreicht habe. Aber jetzt glaube ich, dass ich nicht noch besser spielen kann. Ich weiß also: Es kann nur schlechter werden. Das war die Herausforderung. Ich will immer an die Grenzen kommen. Wenn du nicht bis an den Punkt gelangst, wo du scheiterst, weißt du ja nie, wie weit du gehen kannst.
Wie hat sich das Tennis verändert seit Ihrer großen Zeit in den 1980ern? Die Technik hat sich enorm verändert. Die Beinarbeit, die offene Schlagstellung, und dass überhaupt die Hand viel mehr eingesetzt wird. Jetzt geht es ständig Vorhand–Rückhand: die reinsten Scheibenwischerschläge.
Also haben Sie Ihre Technik umstellen müssen, als Sie mit Mitte 40 ins Tennis zurückkehrten? Und wie. Meine Technik ist heute ganz anders. Ich haue zwar nicht so drauf wie Rafael Nadal, dieser begnadete Scheibenwischer, aber ich verwende meine Hand viel stärker als früher, lege mehr Topspin in die Bälle. Mit den neuen Bespannungen kann man den Ball anders spielen, besser als mit dem alten Material und den alten Schlägern.
Wie hat sich die Taktik geändert? Heutzutage bleiben viele Frauen und auch einige Männer grundsätzlich hinten. Man lässt sich auf Grundlinienduelle ein, immer quer über den Platz. Es ist eine ganz andere Art, Doppel zu spielen. Wenn früher die anderen beide auf der Grundlinie blieben, hieß das für uns: »Okay, wir haben gewonnen.« Aber heute, mit den neuen Schlägern, kann man viel bessere Grundschläge anbringen, da kann man auch von hinten aus gewinnen. Inzwischen muss man schon ziemlich gut Volley spielen können, um am Netz zu punkten, sogar im Doppel.
Venus Williams meint, trotz Ihrer unzweifelhaften Größe sei es zu Ihrer Zeit leichter gewesen, den Sport so zu beherrschen. Weil es in der WTA-Tour einfach weniger Konkurrenz gab. Stimmen Sie zu? Das ist wahr. Es gibt heute mehr Spieler, die es draufhaben, einen Grand Slam zu holen.
Denken Sie oft an Ihre glorreiche Vergangenheit zurück? Etwa an den Tag, als Sie in Wimbledon Chris Evert geschlagen haben? Nur wenn man mich danach fragt oder wenn ich es mal in Aufzeichnungen sehe. Vor ein paar Wochen habe ich eine Rede gehalten, da zeigten sie vorher so ein Highlights-Video, alles aus Wimbledon. Neun Glanzpunkte, neun Matchpoints. Das war für mich wie: »Teufel auch, echt Wahnsinn!« Aber es war auch wie das Leben von jemand anderem. Ich fühle mich weit weg davon, weil es auch schon so lange her ist. Ich lebe ja nicht in der Vergangenheit. Das hätte wenig Sinn.
Aber Sie haben doch sicher Ihre Pokale zu Hause? Ein paar habe ich schon, aber die Wimbledon-Teller und die Trophäen für die Grand-Slam-Einzelsiege stehen alle in der Tennis Hall of Fame in Newport. Mir war das nie wichtig, die Dinger auszustellen. Außerdem hat man bei vielen Turnieren damals gar keine Pokale gekriegt. Vergangene Woche bekam ich in Straßburg ein wunderschönes Stück aus Kristall, und da dachte ich mir: »So was hätte ich früher auch gern mitgenommen.« Damals gab’s einen Scheck und einen Blumenstrauß, das war’s.
Also sind das gar nicht mehr Sie – diese Frau auf den alten Videos? Schon, aber es ist merkwürdig. Wenn ich mir klarmache, dass ich das bin, denke ich: »Irre!«, und könnte ständig stolzgeschwellt herumlaufen. Ich wollte die Größte aller Zeiten sein, aber das war, nachdem ich ein paarmal in Wimbledon gewonnen hatte und einfach gut spielen wollte, und das hab ich geschafft, darauf kann ich stolz sein. Ich habe dem Tennisspiel etwas gegeben, diesem tollen Sport. Ein Jammer, dass nicht mehr Leute Tennis spielen. Jedes Mal, wenn ich auf dem Platz stand, war es ein Genuss – das ist noch heute so. Letztens sagte mein guter Freund, der Autor Joel Drucker, zu mir: »Tennis ist so schwer, weil wir uns schon so anstrengen müssen, um auch nur keinen Mist zu bauen.« Tennis ist ein höllisch schweres Spiel, wenn man gut sein will. Ich hab’s nicht wirklich gemeistert, aber ich war nahe dran.
Waren Sie die Größte aller Zeiten? (Sie macht eine – ungewohnte – Pause.) Ach, als Spielerin insgesamt denke ich schon, weil ich alles geschafft habe: Einzel und Doppel und Mixed. Ich habe alles gewonnen. Beim Einzel allein ist es schwer zu sagen, weil man da noch mehr verschiedene Epochen vergleicht. Wenn Suzanne Lenglen 1960 geboren wäre, hätte sie es mit mir aufgenommen? Vermutlich. Vielleicht war ich die Größte. Nicht an mir, das zu sagen. Aber ich weiß, dass ich verdammt gut war.
Martina Navratilova, 49, hat mehr Titel im Tennis gewonnen als jeder andere, allein 167 im Einzel. 1994 beendete sie erstmals ihre Karriere, kehrte jedoch knapp sechs Jahre später auf den Platz zurück und gewann mit weit über 40 noch zwei weitere Grand-Slam-Turniere im Doppel. Foto: dpa