Vorteil Graf

Vor dreißig Jahren hat Steffi Graf ihr erstes Profi-Turnier gewonnen. SZ-Autor Holger Gertz hat schon Ende der Neunziger über Graf berichtet und weiß, warum ihr Mythos heute größer denn je erscheint.

Aus meiner Vergangenheit als Sportreporter in der SZ sind mir zwei Ereignisse am intensivsten in Erinnerung, bei beiden ging es nicht einfach um einen Wettbewerb, es ging um etwas Größeres: Der Sportler bestand eine letzte große Prüfung, bevor er sich gelassen in das Leben danach verabschieden konnte. Der eine Moment war Cathy Freemans 400-Meter-Sieg bei den Olympischen Spielen in Sydney 2000. Als Aborigine sollte sie die Vergangenheit Australiens mit der Gegenwart versöhnen, sie lief sozusagen in höherem Auftrag, aber sie lief auch für sich. Und als sie gewonnen hatte, saß sie auf der Laufbahn, unfähig zu jubeln. Der Druck. Sie hatte ihm standgehalten. Aber er hatte sie auch plattgemacht.

Das zweite Ereignis: Steffi Grafs letzter Grand-Slam-Sieg in Paris 1999. Sie gewann gegen Martina Hingis in drei Sätzen, 4:6, 7:5, 6:2, aber das waren nur Zahlen. Tatsächlich hatte sie gewonnen gegen eine Gegnerin, die sich längst als ihre Nachfolgerin führte. Gegen eine Öffentlichkeit, die sie abgeschrieben hatte – sie war vorher lange verletzt gewesen. Gegen Teile der Medien, die darauf gewartet hatten, dass sie unter der Last der Eskapaden des Vaters endlich zusammenbrechen würde. Gegen Mediziner, die in Ferndiagnosen festgeschrieben hatten: das wird nichts mehr.

Mit diesem letzten großen Sieg ihrer Karriere hatte es Steffi Graf – um es griffig auszudrücken – allen gezeigt. Denn nach dem Sieg lebt man anders als nach der Niederlage. Verlieren bedeutet: gefangen sein. Gewinnen bedeutet: sich befreien. Das ist ja das Besondere am Leben von Steffi Graf. Wie sie sich die Freiheit genommen hat, nach der Karriere davonzufliegen nach Amerika, mit ihrem Mann Andre Agassi und ihren Kindern. Kaum Interviews, keine Biografien, keine Lebensbeichten, ein Leben ohne Bitterkeit und Twitterei. Wie die beste Tennisspielerin aller Zeiten sich in einen privaten Menschen zurückverwandelt hat, über den alle noch reden, etwa beim Sieg von Angelique Kerber kürzlich in Australien. Und der selbst zu all dem alarmistischen Lärm nichts beiträgt.

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Vor dreißig Jahren, im April 1986, hat Steffi Graf ihr allererstes Turnier gewonnen, in Hilton Head. Zum fast vergessenen Jubiläum eine Hommage.

Immer die eigene Linie entlang

Steffi Graf hat geschafft, was vielen Spitzensportlern misslingt: Sie ist weit über ihre Triumphe hinaus eine Legende geblieben. Dafür tut sie sehr wenig - das ist ja der Trick.

Foto: Getty Images / Chris Cole