Es gibt nichts Wichtigeres als Fußball. Oder? Ludger Schulze, der Sportchef der Süddeutschen Zeitung, hat sich ein Leben lang damit beschäftigt.
Das erste Spiel war, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt, 1860 München gegen Röchling Völklingen. Zweite Liga, 1500 handverlesene Zuschauer in der riesigen Schüssel des Olympiastadions, gefühlte 20 Grad minus, so kurz vor Weihnachten 1975, meine Mutter hatte mir extra lilafarbene, fingerlose Wollhandschuhe gekauft. Damit ich die Tasten der Olympia-Reiseschreibmaschine auch treffen würde bei meinem Debüt als Fußballreporter der Süddeutschen Zeitung. Mit Schlusspfiff den Bericht telefonisch an die Aufnahme durchgeben, hatte mir mein Chef eingeschärft, spätestens mit Schlusspfiff, Eigennamen buchstabieren. Ich war ganz gut in der Zeit, 84. Minute, 2 : 0 für Völklingen. Dann der Albtraum: Tor für 1860, noch ein Tor für 1860, Endstand 3 : 2 für 1860. Alles umschreiben, wirklich alles, den Trend pro Röchling ins Gegenteil verkehren, statt souveräne Leistung von Völklingen nun: bravouröse Aufholjagd von Sechzig. Ohne die Hilfe des Kollegen in der Redaktion hätte ich den Andruck geschmissen, gleich beim ersten Mal.
Vielleicht doch besser Taxifahrer werden, dachte ich, als ich den Presseplatz zitternd vor Kälte und blankem Stress verließ. Es folgten Hunderte von Spielen, Tausende von Artikeln und 35 Jahre als Sport- und Fußballjournalist. Wie es war? Fantastisch, großartig, aufregend. Der Bratwurstgeruch im Ruhrstadion von Bochum, die vor Hitze sirrende Luft über dem Aztekenstadion von Mexiko City, die zu Tränen rührende Inbrunst des You never walk alone an der Anfield Road in Liverpool, die Kathedrale des alten Wembley. Und auf dem Rasen: Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Johan Cruyff, Diego Maradona, Marco van Basten, Ronaldo, Messi. Und jetzt: ATZ, Altersteilzeit.
Endlich, Gott sei Dank. Nie mehr die geballte Faust des Redaktionsschlusses im Nacken, noch vier Minuten, aber auch noch 28 Zeilen zu schreiben. Nie mehr Blutleere im Kopf, wo schlaue Gedanken und witzige Formulierungen sein sollten. Nie mehr das strikte Gebot journalistischer Objektivität und Neutralität, das dich auf dem Plastiksitz festnagelt, wenn du eigentlich aufspringen möchtest, weil die Mannschaft, an der du hängst, ein Tor schießt. Und nie, nie mehr diese ewige Schlepperei: erst besagte Olympia-Reiseschreibmaschine, die auf dem Weg die steilen Stufen hinauf unters Tribünendach schwer wurde wie ein Überseekoffer, später die nähmaschinengroßen Laptops, die wir zu Recht Schlepptops nannten, samt Akustikkoppler, der die Texte mittels akustischer Signale übermittelte, zuletzt die eleganteren Notebooks, deren Trageriemen trotzdem Furchen hinterließen in der Haut über dem Schlüsselbein. Und nie mehr die totale Ereignislosigkeit eines Nullzunull zu halbwegs spannenden 140 Zeilen aufblasen. Herrlich, so ein Leben ganz ohne Fußball. Es gibt so viele gute Bücher, die remasterte Gesamtausgabe der Beatles wartet im CD-Player darauf, endlich mal in Ruhe gehört zu werden, und, na gut, es gibt ja noch das Fernsehen – die zeigen fast jedes Spiel.
Neulich in dem kleinen Ort an der österreichischen Grenze, wo ich künftig ganz leben werde: Die erste Mannschaft des SV Laufen spielt beim TSV Berchtesgaden, Samstagnachmittag, 15 Uhr. Ein Sieg bei gleichzeitiger Niederlage des Tabellenzweiten, SV Kirchanschöring II, und der Aufstieg aus der Kreisklasse, Gruppe 4, in die Kreisliga wäre perfekt. Schon frühmorgens schüttet es wie aus Eimern, später wird der Regen heftiger. Mittags gegen 12 ruft ein Bekannter an, ob ich mitkäme nach
Berchtesgaden? Bist du verrückt? Bei dem Wetter, Kreisklasse? K-e-i-n-F-u-ß-b-a-l-l-m-e-h-r, verstanden? Um 15 Uhr stand ich mit 70 anderen Bekloppten an der Außenlinie unter einem Regenschirm, trotzdem waren die Socken in den Schuhen schon pitschnass, als das 1 : 0 fiel. Für uns. Wir spielten mit Viererkette, schnell, direkt, fabelhaft für eine so junge Mannschaft aus der Kreisklasse. Am Ende stand es 4 : 1, Aufstieg! Nächste Saison also Kreisliga, gegen Waging, Reischach und Altenmarkt. Ich bin dabei, Jungs, keine Frage. Aber ohne Laptop.
Es gibt Wichtigeres als Fußball: Peter Praschl wird sich kein einziges Spiel der WM ansehen. Er genießt es, der Einzige zu sein, der nicht einmal beim Fernsehen mitmachen will.
Am Abend des 23. Juni spielt in Johannesburg Deutschland gegen Ghana, Boateng gegen Boateng. Aller Voraussicht nach wird es eine entscheidende Partie sein. Falls man es für entscheidend hält, was Fußballspieler machen. Falls nicht, umso besser. Abseits der Public- Viewing-Zonen werden die Städte leer sein. Keine Autos, keine Menschen, nirgends. Großartig.
Also hinaus auf die Straßen, die so verwaist sein werden wie sonst nur an einem Sonntagmorgen, ehe die Bäckereien aufmachen. Nicht auf die Reiseführer-Plätze, wo immer noch zu viele Touristen herumtapsen, nicht in die Szeneviertel, wo die Nonkonformisten leben, und nicht in die Immigrantenquartiere, deren Bewohnern Deutschlandspiele sonstwo vorbeigehen. Sondern dorthin, wo die Mitte der Gesellschaft wohnt. Familien, die nicht zum Public Viewing können, weil dort zu viele besoffene Schwachmaten unterwegs sind, Freundeskreise, die sich zum Match auf dem Balkon etwas grillen wollen, Angestellte, die am nächsten Morgen wieder früh raus- und deswegen gleich nach dem Schlusspfiff ins Bett müssen. Wenn wir Glück haben, wird es ein warmer Frühsommerabend sein. Die Fenster und Balkontüren werden offen stehen, und so wird man zwei Halbzeiten lang all die Menschen hören, zu denen man selbst nicht gehört: wie sie alle paar Minuten fluchen; und stöhnen; und seufzen; und vielleicht auch einmal jubeln.
Das ist hart. Denn man wird dabei ganz allein sein. Und wahrscheinlich wird es während dieser zwei Halbzeiten auch Augenblicke geben, in denen man sein Leben infrage stellt: Wie kommt es, dass man zu einem Menschen geworden ist, der weder Familie noch Freunde noch Grillrunden hat? Warum bloß hat man sich dieses alberne Distinktionsgewinnbedürfnis angeschafft, das einen immer wieder dazu treibt, bockig genau das Gegenteil dessen zu machen, was normale Menschen so tun? Wäre man nicht viel glücklicher, zu ihnen zu gehören, statt immerzu nur jemand zu bleiben, der sich selbst etwas beweisen muss – und anderen nichts beweisen kann, weil die sich gar nicht dafür interessieren?
Früher wurde man fürs Nichtmitmachen wenigstens noch wahrgenommen. Heute wird man nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen. Kränkend irgendwie. Andererseits wird die eigene mentale Dissidenz sofort viel tapferer, wenn man sie im Verborgenen durchzieht. Man tut nur so, als wäre man jemand, der spazieren geht, während alle anderen vor dem Fernseher sitzen. Was sie alle nicht wissen, ist, dass man in Wahrheit jemand ist, der beim Fernsehen nicht mitmachen will! Muss man denn alles mitmachen? Na eben.
Die da drinnen an den Fernsehgeräten stellen sich jedenfalls nie existenzielle Fragen. Die wollen nur wissen, warum der Schiri so blind ist und Jogi so verbohrt war, Kurányi nicht mitzunehmen. Auch nichts, wovon man glücklich wird. Da hat man es mit seiner Entscheidung fürs Flanieren durch die menschenleere Stadt wahrscheinlich besser getroffen. Denn während man die Reaktionen auf das Spiel hört, das man selbst aus freien Stücken nicht sieht, stellt sich manchmal sogar ein unerwartetes Gefühl der Liebe zu den Menschen ein. Ist es nicht toll, wie idyllisch die Welt noch sein kann? Dass es noch echte Gemeinschaftserlebnisse gibt? Dass die Rasensprinkler noch zischen, die Bienen noch summen und in der Luft der Geruch von Bratwürsten steht?
Nach 120 Minuten (Spielzeit, Pausenlänge, die ersten Interviews vom Spielfeldrand) ist das alles wieder vorbei. Dann sind die Menschen wieder auf den Straßen, und alles ist wie immer. Deutschland ist nach zähem Kampf noch einmal davongekommen, das nächste Spiel wartet schon, ohne deutliche Leistungssteigerung wird das nichts, und so weiter und so weiter. Immerhin hat man sich zwei Stunden lang wie jemand gefühlt, der trotz seiner kritischen Vorbehalte die Menschheit ganz toll lieb haben kann. Aus der Entfernung geht das ja gut.