»Wir haben Songs wie am Fließband produziert«

Als Teil des Songwriting-Teams Holland-Dozier-Holland hat Lamont Dozier zwölf US-Nummer-eins-Hits geschrieben – nur die Beatles und Bee Gees schafften mehr. Im Interview spricht er über seine Zeit beim legendären Motown-Label, das Geld, das ihm damals entgangen ist, und den Song, den er gerade zu Donald Trump komponiert.

Auch mit 76 und nach einer außerordentlich erfolgreichen Karriere sitzt Lamont Dozier immer noch jeden Tag am Klavier. Kürzlich erschien sein Album Reimagination (V2 Benelux/H’art), auf dem er einst für Motown komponierte Klassiker neu interpretiert.

Sie sind in den Fünfzigern in Detroit aufgewachsen, einer Stadt mit einer sehr lebendigen Musikszene. Welcher Künstler hat sie damals am meisten beeindruckt?
Es gab einige Doo-Wop-Gruppen, die ich gut fand, aber am wichtigsten für mich war Little Willie John. Zusammen mit seiner Schwester wohnte er in der Gegend, in der auch wir lebten. Er war ein großartiger Sänger und Entertainer und hat in mir den Wunsch geweckt, ins Musikgeschäft zu gehen.

Dank Hits wie »Fever« war Little Willie John bereits ein R&B-Star. Hatten Sie als Teenager aus der Nachbarschaft überhaupt Kontakt zu ihm?
Ja, es gab bei uns einen Park, wo sich viele der jungen, hoffnungsvollen Sänger trafen – übrigens auch etliche spätere Motown-Stars. Dort haben wir zusammen gesungen und unsere Tricks ausgetauscht. Little Willie John kam da auch gelegentlich hin. Er war ein fantastischer Sänger mit einem einzigartigen Stil und hat mir viel übers Singen beigebracht und darüber wie man einen Song am besten rüberbringt. Unter seinem Einfluss habe ich damals mit ein paar Freunden eine Gruppe namens The Romeos gegründet. 1957 haben wir für ein lokales Label unsere ersten Aufnahmen gemacht, da war ich 15. So ging's los.

Zu dieser Zeit hat Aretha Franklin bereits regelmäßig in der Kirche ihres Vaters gesungen, der New Bethel Baptist Church. Wussten Sie davon?
Aretha und ich waren gute Freude. Wir sind ungefähr gleich alt, gingen auf dieselbe Schule und haben uns oft gesehen. Ich war auch oft in Pastor Franklins Kirche, um sie singen zu hören. Später, in den Siebzigern, habe ich ihr Album Sweet Passions produziert und einige Songs dafür geschrieben.

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Als Aretha 14 war, hat jemand in der Kirche eine Live-Aufnahme von ihr gemacht. Wenn ich diese Platte höre, bekomme ich heute noch eine Gänsehaut. Wie war es für Sie, Aretha damals singen zu hören?
Aretha war ziemlich schüchtern und ich wusste nicht, dass sie so gut singen kann, bis ich zum ersten Mal in die Kirche ihres Vaters kam. Daran kann ich mich gut erinnern. Es gab einen Chor, aber Aretha war die Solistin, und Klavier spielte sie auch noch. Als sie den Mund aufmachte, sprang die ganze Gemeinde auf, alle haben geklatscht und sich von ihrem Gesang mitreißen lassen. Auch ich war total überwältigt. Ich bin danach zu ihr gegangen und habe begeistert gesagt, Aretha, ich wusste gar nicht, dass du singen kannst! Aber sie ist darauf gar nicht eingegangen und hat nur mit den Schultern gezuckt, so schüchtern war sie. Sie war damals 13 oder 14 und es war außergewöhnlich zu erleben, dass jemand in diesem Alter bereits so fantastisch singen kann. Genau wie Little Willie John hat sie mich sehr inspiriert.

Wie kamen Sie mit Berry Gordy in Kontakt, dem Gründer der Plattenfirma Tamla-Motown?
Ich war zuerst bei einem Label namens Anna Records unter Vertrag, das seiner Schwester Gwen Gordy gehörte. Ich sang dort mit einer Gruppe namens The Voicemasters und nahm auch einige Sachen als Solist auf. Aber die Firma geriet bald in Schwierigkeiten und zuletzt habe ich dort eher als Hausmeister gearbeitet – Böden wischen, Platten in Kartons packen, sowas. Berry kam gelegentlich vorbei, einmal hat er mir den Song »Money« von Barrett Strong vorgespielt, den er rausbringen wollte. Er hatte große Pläne und sagte, dass er Sänger, Komponisten und Produzenten für seine neue Firma brauche - ob ich nicht bei ihm anfangen wolle? Als nach »Money« dann auch »Shop Around« von den Miracles und »Please Mr Postman« von den Marvelettes große Hits wurden, war ich überzeugt.

Was allerdings bedeutete, dass Sie sich vom Gedanken verabschieden mussten, selbst ein Star zu werden.
Auf deine Karriere als Sänger kommen wir später zurück, sagte Berry, im Moment brauche ich dich als Songschreiber und Produzenten für andere Künstler.

Mit Brian und Eddie Holland taten Sie sich bald darauf zu Holland-Dozier-Holland zusammen – mit zwölf US-Nummer-eins-Hits immer noch eines der erfolgreichsten Songwriting-Teams aller Zeiten. Gibt's ein Erfolgsrezept, das Sie benennen können?
Ein Faktor war sicherlich, dass wir von niemandem abhängig waren, sondern alles selbst machen konnten. Brian und ich waren beide Songschreiber und Produzenten, Brian hat außerdem als Toningenieur gearbeitet – er hat zum Beispiel »Please Mr Postman« aufgenommen. Später stieß sein Bruder Eddie dazu, der sich auf Songtexte und Gesangsarrangements spezialisiert hat. So konnten Brian und ich Tracks produzieren, während Eddie parallel dazu unsere Songideen ausgearbeitet hat. Man sagt ja, Motown sei eine Hit-Fabrik gewesen – wir waren eine Fabrik in der Fabrik und haben Songs wie am Fließband produziert.

Warum haben Sie sich musikalisch so gut verstanden?
Sicher auch weil wir einen ähnlichen Hintergrund hatten. Als sie klein waren, mussten die Holland-Brüder regelmäßig in die Kirche gehen, ihre Eltern haben das verlangt. Genauso war das bei mir und meiner Großmutter. Außerdem hat uns eine Liebe zur klassischen Musik verbunden, zu ihren Klangwelten und Harmonien. Wir haben klassische Elemente mit einem Gospel-Feeling kombiniert, das hört man in Hits wie »Reach Out I'll Be There« oder »I Hear A Symphony«. Sicher ein Grund, warum sich unsere Songs vom gängigen R&B-Sound dieser Zeit abgehoben haben.

Wie wichtig waren die Funk Brothers, Motowns legendäre Studioband?
Mit James Jamerson, dem Bassisten, war ich schon zusammen in einer Band, bevor wir beide bei Motown landeten. Damals hat er noch Kontrabass gespielt, nicht E-Bass.

Wie hat sich das angehört?
Er hat immer fantastisch geklungen! Und seine Bassläufe waren immer innovativ! Wenn andere Bassisten das spielten, was ich ihnen gegeben habe, klang es manchmal steif. James hat die Bassläufe auf so rhythmische Weise mit Verzierungen versehen, dass sie zu swingen begannen. In vielen Fällen haben uns die Funk Brothers sehr dabei geholfen, den richtigen Ansatz und das passend Gefühle für die jeweiligen Songs zu entwickeln. Wenn Leute wie James Jamerson oder der Drummer Benny Benjamin keine Zeit hatten, sind wir gar nicht erst ins Studio gegangen.

Die Hits, die Sie damals geschrieben haben, kennt heute noch jeder, aber gibt es auch Songs aus dieser Zeit, bei denen Sie das Gefühl haben, sie seien zu Unrecht in Vergessenheit geraten?
Ja, zum Beispiel »In My Lonely Room«, ursprünglich eine okaye Tanznummer für Martha & The Vandellas. Die Melodie, die ich damals geschrieben habe, habe ich immer sehr gemocht, deshalb habe ich den Song jetzt für mein neues Album Reimagination deutlich verlangsamt und so in eine Ballade verwandelt.

Haben Sie damals geahnt, dass die Leute sich 50 Jahre später immer noch die alten Motown-Lieder anhören?
Nein, so ein Gedanke wäre uns nie gekommen. Aber die Lieder sind noch da und ich höre sie überall, wo ich hinfahre, von London bis Japan.

Vor einigen Jahren habe ich mit Mickey Stevenson gesprochen, ebenso wie Sie ein wichtiger Produzent bei Motown. Für ihn lag ein Grund für den Erfolg der Firma darin, dass neben aller Konkurrenz auch ein kollaborativer Geist geherrscht hat.
Das stimmt nur bedingt. Als Holland-Dozier-Holland größeren Erfolg hatten als andere, hat das schon auch für Missgunst gesorgt.

1967 haben Sie und die Holland-Brüder sich von Motown getrennt.
Wir haben hunderte Millionen Platten für die Firma verkauft und fanden, dass uns dafür ein etwas größeres Stück vom Kuchen zustünde. Eine Weile haben wir versucht, bei Motown ein eigenes Unterlabel zu bekommen, aber daraus ist nichts geworden. Also mussten wir Konsequenzen ziehen. Als bekannt wurde, dass wir Motown verlassen wollen, hatten wir Angebote von allen namhaften Labels auf dem Tisch.

Schon damals war viel Geld im Spiel. Inzwischen sind die Summen ins Unermessliche gewachsen. Für seinen Musikverlag Jobete, der die Rechte an den meisten Motown-Klassikern hält, hat Berry Gordy über 300 Millionen Dollar bekommen.
Ja, auch das Label wurde für viele hundert Millionen Dollar verkauft.

Wieviel Einkommen erzielen Sie denn noch mit Ihren alten Liedern?
Nicht so viel wie früher. Aber die alten Songs werden bis heute von jungen Künstlern neu aufgenommen. Und viele meiner Lieder aus den Siebzigern werden regelmäßig von Rappern gesampelt. Da geht es ebenfalls um viel Geld, wenn es auch oft schwierig ist, da ranzukommen. Ich habe Anwälte, die sich darum kümmern.

In den Siebzigern haben Sie Ihre Rolle als Mann hinter den Kulissen aufgegeben und einige LPs als Solo-Künstler veröffentlicht. War dieser Schritt leicht für Sie?
Ja, denn das war ja das, was ich ganz zu Anfang gewollt hatte. Mein erstes Solo-Album erschien 1973 bei ABC Dunhill trug den Titel Out Here On My Own, es verkaufte sich über eine Million Mal. Ich bekam darauf einen Billboard-Award als »Best New Pop Singer of the Year«. Danach hatte jeder verstanden, dass ich jetzt nicht mehr nur Produzent war, sondern auch Sänger.

Auf diesem Album findet sich auch der Song »Fish Ain't Bitin«, mit dem Sie die Watergate-Affäre kommentieren und schließlich von Präsident Nixon fordern: »Tricky Dick, please quit«. Wäre es nicht Zeit für einen ähnlichen Song über Donald Trump?
(Lacht.) Witzig, dass Sie das ansprechen. Ich arbeite nämlich tatsächlich an einem Song über Donald Trump – vieles an der Situation heute erinnert mich an das, was wir in den Siebzigern mit Nixon durchgemacht haben. Über Trump und seine Führungsqualitäten habe ich einiges zu sagen! Der Song ist aber noch nicht fertig.

Ihr neues Album Reimagination enthält nun etliche Ihrer alten Motown-Songs, allerdings oft radikal entschleunigt, wodurch die Stücke ein ganz neues Flair bekommen.
Das war die Idee des Produzenten Fred Mollin. Fünfzehn Jahre lang hat er versucht, mich dazu zu bringen, so eine Platte zu machen. Wir haben sie in Nashville aufgenommen, es waren schöne Sessions und für mein Empfinden hat die Platte einen angenehmen Klang, der Bestand haben wird.

Mit Künstlern wie Cliff Richard, Graham Nash und Gregory Porter sind namhafte Duett-Partner dabei, aber die schönsten Gesangsparts kommen von Ihnen selbst. Erstaunlich, wie jung Sie  klingen!
Gottseidank habe ich meine Stimme noch! Aber ich singe auch immer noch viel. Ich sitze jeden Tag am Klavier und schreie herum. So bleibe ich in Form. If you don't use it, you'll lose it.

Treffen Sie eigentlich manchmal noch Motown-Veteranen aus den Sechzigern?
Die meisten sind ja leider schon verstorben. Smokey Robinson sehe ich von Zeit zu Zeit. Genauso Eddie Willis, den Gitarristen der Funk Brothers. Und als die Holland-Brüder und ich vor zwei oder drei Jahren unseren Stern auf dem Hollywood-Boulevard erhielten, kam Stevie Wonder und spielte unsere alten Songs. Das war sehr nett von ihm. Ich habe allerdings auch sein ersten Hit geschrieben. Da war er elf.