»Meine Lieder brauchen mich nicht mehr«

Folksänger Hannes Wader im Interview über seine Zeit als Straßenmusiker, seinen größten Auftritt, seinen Abschied von der Bühne und eine Angewohnheit, die ihn fast das Leben gekostet hätte.

In Zukunft ein seltenes Bild: Hannes Wader auf der Bühne.

Foto: Karl Anton Koenigs

Im Jahr 2016 überraschte Hannes Wader seine Fans mit der Ankündigung, nach über 50 Jahren nun nicht mehr auf Tournee gehen wollen. Er schloss zwar nicht aus, auch in den kommenden Jahren noch mal in Ausnahmefällen auf der Bühne zu stehen, aber regelmäßige Konzertreisen wolle er nach Ende seiner Abschiedstour nicht mehr unternehmen. Am 30. November vergangenen Jahres gab er in Berlin sein vorerst letztes Konzert, unter dem Titel Mach's gut – Das Abschiedskonzert 2017 ist es nun auf CD erschienen. Von Altersschwäche ist beim 75-Jährigen allerdings nichts zu spüren, Waders Gesang und sein Gitarrenspiel sind gekonnte wie eh und je, und auch seine Songauswahl verdeutlicht in ihrer Breite, was an Wader so einzigartig ist. Oder welcher andere deutsche Sänger hätte Songs im Repertoire, die von einem Volkslied aus dem 15. Jahrhundert (»Ich fahr dahin«) bis zur Hymne der Friedensbewegung (»Es ist an der Zeit«) reichen, vom »Bürgerlied« aus der Frühphase der deutschen Demokratiebewegung bis zu »Ankes Bioladen«, einer witzigen Vignette über die deutsche Ökokultur, von einem selbstkomponierten Chanson aus den frühen Sechzigerjahren (»Begegnung«) bis zum Folkklassiker »Sag mir wo die Blumen sind«?

Im vergangenen Herbst haben Sie Ihr Tourneeleben beendet, Ihr Abschiedskonzert erscheint nun auf CD. Gleich im zweiten Lied erwähnen Sie Ihre frühen Jahre als Straßenmusiker in Berlin. Hat Ihre Bühnenkarriere also auf der Straße begonnen?
Ja, kann man so sagen. Weil es zu dieser Zeit noch keine andere Bühne für mich gab. Damals, Anfang der Sechziger, kam das überhaupt erst auf, dass Sänger mit Gitarre sich irgendwo hinstellten. Vorher hatte es auf der Straße allenfalls Drehorgelmänner gegeben, aber keine Folkmusik.

Wo konnte man Sie antreffen?
Auf dem Breitscheidplatz oder vorm Kranzler. Vielleicht auch noch den Kudamm ein Stück rauf Richtung Fasanenstraße.

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Wie haben die Passanten darauf reagiert, dass da einer stand und gesungen hat?
Das lief, das konnte man machen. In Berlin hat das niemanden gestört, auch die Behörden waren da viel toleranter als in anderen deutschen Städten. Und wenn doch mal ein Polizist kam und meinte, das müsse er auflösen, dann ist man eine Straßenecke weitergegagen.

Wie war der Verdienst?
Ich habe da ein paar Mal die Woche gespielt, das hat gereicht für den Lebensunterhalt. Viel habe ich aber auch nicht gebraucht. Gegessen habe ich oft bei Aschinger, das war ein Imbiss mit Stehtischen, wo die Erbsensuppe 50 Pfennig gekostet hat. Und manchmal konnte man noch Nachschlag bekommen. Da ging alles hin.

Was für Stücke hatten Sie damals im Repertoire?
Die ersten Folkstücke, die man damals so kannte, zum Beispiel »Blowin' in the wind« oder von Woody Guthrie »This land is your land«. Das kam als Welle über den Atlantik. Ich habe 1963 oder 1964 die ersten Dylan-Platten gehört, auch Joan Baez und Peter, Paul and Mary. Außerdem tauchten damals viele amerikanische Studenten in Berlin auf, die oft wahnsinnig gut Gitarre spielen konnten und viele Standards beherrschten, die wir hier noch nicht kannten. Von denen habe ich viele Lieder gelernt und auch das Fingerpicking im amerikanischen Stil. Daneben war lateinamerikanische Musik sehr populär, so was wie »Besame Mucho« oder »La Bamba«.

Gibt es Lieder von damals, die Sie bis heute singen?
Wenige. Zum Beispiel »Begegnung«. Oder von Tom Paxton »Last thing on my mind«, das ich erst vor kurzem ins Deutsche übertragen habe.

Haben Sie auf der Straße auch eigene Kompositionen gespielt?
Nein, meine eigenen Lieder passten da nicht hin. Die waren zu filigran und zu textlastig.

Gab es Folkclubs, in denen Sänger wie Sie auftreten konnten?
Anfangs noch nicht, diese Szene musste erst entstehen. Vorläufer der Folkclubs war ein Club namens Ça Ira, benannt nach einem Kampflied aus der Zeit der Französischen Revolution. Kennen Sie das?

Ich fürchte nicht.
(Singt) »Ça ira, les aristocrates a la lanterne.« Es geht darum dass man die Aristokraten an den Laternen aufknüpft, und wenn sie alle hängen, haut man ihnen noch mit der Schippe vor den Arsch. Den Club haben Jungsozialisten gemacht, da traten Leute auf, die die alten Revolutionslieder sangen. Das »Bürgerlied«, das ich jetzt auch auf der Platte singe, habe ich zum ersten Mal im Ça Ira gehört. Ab Mitte der Sechziger haben dann Folkclubs wie Danny's Pan aufgemacht. Dort habe ich zum ersten Mal das Lied von den Moorsoldaten gehört, auf einer Platte von Pete Seeger.

War es ein natürlicher Übergang von der Straßenmusik zu Auftritten in Berliner Folkclubs?
Ja, das lief ganz selbstverständlich. Und bald schon war es so, dass ich jeden Abend in drei, vier verschiedenen Clubs sang. Die lagen alle in der Nähe voneinander, so dass man immer zu Fuß von einem zum anderen ging. Das Danny's Pan war in der Fasanenstraße, in der Bleibtreustraße gab es das Go In, ein bisschen weiter weg in der Krummen Straße lag der Steve Club. Und Freitagnacht gab es in der Ludwigkirchstraße noch das Reichskabarett, das hat Volker Ludwig gemacht, der später das Grips-Theater eröffnet hat. Den Ort hatte übrigens Ingo Insterburg für uns aufgerissen, der damals Gitarre für Klaus Kinski spielte.

Zusätzlich dazu sind Sie bestimmt noch oft auf Parties aufgetreten.
Selbstverständlich. Das kam ständig vor. Wenn irgendwo eine Fete stieg, gehörte es sich so, dass einer von uns mit dabei war. Ich war allerdings nicht so der Typ, der Stimmung machen konnte und wollte. Mir war es lieber, die Leute waren ruhig und hörten einfach zu.

»Ich war von Anfang an der Mann mit der akustischen Gitarre und wollte auch nie jemand anderes sein«

Wieviel haben Sie in den Folkclubs verdient?
Zuletzt bekamen Reinhard (Mey, Anmerkung der Redaktion) und ich die Spitzengage von 20 Mark für eine Viertelstunde Auftritt. Und das ein paar Mal am Abend, davon konnte man gut leben. Die Läden waren aber auch immer voll, weil sich so ein klandestines Pilgertum entwickelte. Der alternative Zeitgeist diktierte, dass die westdeutschen Jugendlichen, die zu Besuch nach Berlin kamen, unbedingt in diese Clubs gehen mussten.

1966 hatten Sie Ihren ersten großen Auftritt außerhalb Berlins: Beim Liedermacher-Festival auf der Burg Waldeck spielten Sie vor tausend Leuten. Hat Ihnen die Routine als Straßenmusiker dabei geholfen?
Nein, ganz und gar nicht. Ich habe das alles missverstanden. Im Nachhinein kann man sagen, dass mein erster Auftritt auf der Burg Waldeck schon eine Art Durchbruch war. Wobei, richtig durchgebrochen bin ich eigentlich nie. Mit Durchbruch würde ich Nummer eins in den Charts verbinden und wenn mir das wiederfahren wäre, hätte ich gedacht, was hast du jetzt bloß falsch gemacht. Beim Auftritt auf der Burg Waldeck haben die Leute gegrölt, gepfiffen, was weiß ich. Die fanden das gut, was ich gemacht habe. Aber ich konnte ihre Reaktion nicht deuten. Ich dachte, die verarschen mich.

Wieso das?
Weil ich schon erlebt hatte, dass meiner Musik extreme Ablehnung entgegen schlug. In Kneipen, wo Live-Musik oder Folk nicht direkt angesagt war, haben irgendwelche Penner, während ich spielte, die Jukebox angeschmissen. Und der Typ an der Theke hat sie noch extra laut gedreht, um mir das Maul zu stopfen. Die haben »(I Can't Get No) Satisfaction« reingedrückt - und ich war weg. Das nehme ich Mick Jagger heute noch übel. Aber ich habe mich gegen diese feindliche Übernahme gewehrt und bin mein Lebtag der Folkie geblieben. Auch in der Berliner Bohème habe ich nie richtig Fuß gefasst. Ich war immer einer, der von draußen kam und nicht richtig dazugehörte.

Haben Sie bei diesen vielen Auftritten, Nacht für Nacht in mehreren Clubs, etwas gelernt, das Ihnen im späteren Verlauf Ihrer Karriere genützt hat?
Ich denke, ja. Das war nun mal meine Schule, eine andere hatte ich nicht. Ich habe ja nicht Musik studiert, oder Dichten. Ich habe es einfach gemacht und darauf geachtet, wie die Leute reagieren und was ich am besten als nächstes singe. Im Grunde hatte ich großes Glück, dass ich als eher altmodischer, quer zu allen Trends stehender Typ diese Situation erleben konnte, als die Folkmusik irgendwie auch Teil des Zeitgeistes war.

Neben den vielen Auftritten in Berlin sind Sie in den Sechzigern auch regelmäßig mit Ihrer Gitarre durchs Land getrampt.

Ich war viel auf diese Art und Weise unterwegs und hatte bald einen unglaublich breiten Freundes- und Bekanntenkreis. Das war ein wunderbares Leben.

Wie hat man sich das genau vorzustellen? Haben Sie sich, wenn Sie irgendwo hinkamen, einfach auf den Marktplatz gestellt und gesungen?

Ja, sicher. Erstmal singen und dann schauen, was passiert. Da gab es viele interessante Begegnungen. Ich schreibe gerade an meiner Biographie, da fiel mir wieder ein, wie ich im Zug einer solchen Reise nach Mannheim kam. Ich habe auf der Straße gesungen, als mich einer namens Hans angesprochen hat, er sei an der Mannheimer Uni im Asta und könne ein Konzert für mich organisieren – übermorgen. Das hat er dann gemacht und es kamen 300 Leute in die Aula oder Mensa der Mannheimer Uni, um mich zu hören. Solche Sachen gab es.

Wann sind Sie zum letzten Mal auf Tramp-Tour gegangen?
1971. Da kam meine dritte Platte raus, 7 Lieder. Als ich das Mastertape hörte, wusste ich, dass das nochmal eine Zäsur und mein altes Leben damit Vergangenheit ist. Ich bin nicht Dylan oder Michael Jackson, aber für einen Jungen vom Lande wie mich winkte schon ein gewisser Ruhm. Ich staunte selber darüber, dass ich plötzlich so bekannt war und wollte noch einmal auf Tramp-Tour gehen, bevor es nicht mehr ging.

Und dann standen Sie in Berlin am Grenzübergang Dreilinden...
...
Sack über der Schulter, Gitarre, Daumen raus. Aber da ich zu der Zeit längst nicht mehr arm war, bin ich mit dem Taxi zum Hitchhiken gefahren.

Nach dem Erfolg Ihres dritten Albums war es dann vermutlich auch mit Auftritten in kleinen Folkclubs vorbei.

Ja, und mit den größeren Hallen kam natürlich auch der Neid. Im Go In gab es unten zwischen Herren- und Damenklo einen Aufenthaltsraum für die Künstler. Ich weiß noch,  wie ich 1971 da runterkam und Franz de Byl und Joey Albrecht getroffen habe, zwei Berliner Musiker, die gerade einen Riesen-Joint rauchten. »Hannes, für mich bist du kein Musiker mehr«, hat Franz de Byl gesagt. Das hat mich nicht weiter getroffen, ich konnte das irgendwie sogar verstehen, denn eine Woche später bin ich in der Berliner Philharmonie aufgetreten, mit Werner Lämmerhirt. Das habe ich dreimal gemacht, 1971, 1972 und 1973. Auch eine Art Durchbruch.

Wie hat sich Ihr Eintritt in die DKP ab 1977 auf Ihre Konzerte ausgewirkt?
Ich zeigte mich engagiert und stand schon um sieben Uhr morgens vor dem Werkstor, um für die Streikenden zu singen. Das forderte ich mir damals ab. Dann kam die Friedensbewegung und alles verbreiterte sich enorm. 1982 gab es die große Friedensdemo im Bonner Hofgarten, da habe ich vor einer halben Million Leute gesungen. Das war eine sehr ereignisreiche Zeit. Ich weiß noch, dass in Bonn Harry Belafonte im Wohnwagen neben mir auf seinen Auftritt wartete. Der sagte dann auf einmal, komm Hannes, ich stell Dir Coretta vor - Coretta King, die Witwe von Martin Luther King. Dann sang ich »Es ist an der Zeit« und es kam zu einer unglaublichen Reaktion des Publikums. Danach kamen Petra Kelly und Gert Bastian ganz gerührt auf mich zu, um zu gratulieren. Ich war von dem Echo, das ich offensichtlich zum Teil ausgelöst habe, überrascht und auch ein bisschen überfordert.

Hinzu kam doch, dass die Angst vor dem Atomkrieg damals unheimlich real war.
Ich kann mich nicht mal daran erinnern, Angst gehabt zu haben. Ich habe die Lieder eher aus dem Gefühl einer unbedingten Notwendigkeit heraus geschrieben. Heute habe ich viel mehr Schiss als damals. Aber vielleicht habe ich heute einfach mehr Zeit zu reflektieren. Damals hatte ich die gar nicht – ich habe nur gesoffen, gesungen und geraucht. Das war mein Leben.

Waren Sie im Lauf Ihrer Karriere mal richtig weg vom Fenster?
Um die Wendezeit herum. Da habe ich mich sehr weit unten gefühlt. Ich flog aus allem raus, verlor meine Weltanschauung, ich war ja Kommunist, und meine Plattenfirma. In den Wendeturbulenzen wollte mich keiner hören, ich hatte auch gar keine Lust aufzutreten, war in einer tiefen Krise. Langsam habe ich mich wieder berappelt.

Dass Ihre Karriere dann aber doch sehr langlebig war, hängt für mein Empfinden auch mit Ihrem Instrument zusammen, der akustischen Gitarre. Deren Klang hat etwas total Zeitloses.

So sehe ich das auch. Ich musste nie irgendwelchen Versuchungen widerstehen, das anders zu machen und mir etwas anzueignen, das gerade angesagt war. Ich war von Anfang an der Mann mit der akustischen Gitarre und wollte auch nie jemand anderes sein.

Wie hat sich Ihre Stimme im Lauf der Jahre verändert?
Sie ist nicht mehr so labil. Sie hat sich gekräftigt. Entscheidend dafür war, dass ich vor zwanzig Jahren aufgehört habe zu rauchen. Ich habe vorher immer 80 Gitanes ohne Filter am Tag geraucht. Das geht natürlich nicht, wenn Sie eine nach der anderen rauchen, das müssen Sie simultan machen, also immer drei oder vier Zigaretten gleichzeitig. Sonst schaffen Sie das Pensum nicht. Wenn ich damit nicht aufgehört hätte, würde ich nicht mehr singen können und vielleicht auch nicht mehr leben.

Am 30. November vergangenen Jahres haben Sie Ihre Tourneelaufbahn beendet und werden Ihre Lieder nun nicht mehr selbst auf der Bühne singen. Meine Vermutung ist aber, dass man diese Lieder trotzdem weiterhin hören wird, da einige inzwischen zu Volksliedern geworden sind.
Ja, das ist wahr. Ich bin ein Volkslieddichter. Ich saß vor ein paar Jahren am Fernseher und habe einen Bericht über Quedlinburg geschaut. Da sang dann auch der örtliche Männerchor – und zwar »Heute hier, morgen dort«. Unten wurde als Erklärung eingeblendet »Altes deutsches Handwerkerlied«. Meine Lieder sind inzwischen allein in der Welt und brauchen mich nicht mehr.